Gerd K. Schneider (New
York)
[BIO]
Ingeborg Bachmann erwähnt in ihrem Buch Malina, daß nach dem zweiten Weltkrieg in Wien eine "universelle Prostitution" geherrscht habe, die unter veränderter Form bis heute fortdauere:
es muß jede einmal mit jedem auf dem niedergetretenen Rasen gelegen sein oder, gegen die Mauern gelehnt, gestöhnt, gekeucht haben, manchmal einige gleichzeitig, abwechselnd, durcheinander. Miteinander haben alle geschlafen, alle haben einen Gebrauch von einander gemacht, und so sollte es heute niemand mehr wundern, daß kaum noch Gerüchte zirkulieren, denn dieselben Frauen und Männer begegnen einander höflich, als wäre nichts geschehen, die Männer ziehen den Hut, küssen die Hände, die Frauen gehen mit leichten Schritten und gehauchten Grüßen am Stadtpark vorbei, tragen elegante Taschen und Regenschirme, sehen geschmeichelt aus. Es rührt aber aus dieser Zeit, daß der Reigen begonnen hat, der heute nicht mehr anonym ist.(1)
Nicht anonym dagegen erschien damals der Schnitzlersche Reigen, eine Tatsache, die das Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1900 so angibt: "Reigen. Zehn Dialoge. [Wien]. 1896-1897 als Ms. gedruckt; nicht anonym (!!)." Der Eindruck entsteht hier, daß es besser gewesen wäre, Schnitzler hätte dieses Werk nicht unter seinem Namen herausgegeben. Gründe dafür gab es genug: die Regierung schritt gegen die Verbreitung erotischer und pornographischer Literatur ein, und die lex Heinze in Deutschland zog Schriften ein, die das "Schamgefühl des Normalmenschen" verletzten. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß die ersten Reigen-Parodien anonym verfaßt wurden.
Die erste gedruckte Parodie zum Reigen, betitelt Duo-Szenen im Dampfbad. Ringel-Reigen-Rosenkranz nach berühmtem Muster von einer Wienerin, (2) erschien 1903 im Magazin-Verlag Jacques Hegner in Leipzig, also im selben Jahr, in dem auch das Original gedruckt wurde. Das Interessante ist, daß diese Parodie nur zwischen Frauen spielt, daß also hier gewagt wurde, auch den Frauen erotische Phantasie zuzuschreiben. In dieser vorzüglich geschriebenen Parodie, die das Original sprachlich zwischen den sozialen Schichten unterscheidet, haben wir ebenfalls zehn Szenen und den Doppelauftritt der handelnden Personen, die entweder ohne Kleidung sind oder sich der Kleidung entledigen. Ort der Handlung ist ein Badehaus, mit Szenen im Kabinenraum, im Ruhesaal, im warmen Bassin, in der Dampfkammer, hinter dem Vorhang beim Massieren, im Abwaschraum, im kalten Bassin, bei den Duschen, die neunte Szene wieder im Ruhesaal, und die zehnte Szene in der Trockenkammer. Szene eins zeigt die Friseurin und die Frau Rittmeister, und die letzte die Pedicure Frau Graf und die Friseurin, wobei die Frau Graf an den Grafen bei Schnitzler erinnert. Der Kreis hat sich nun geschlossen, genau wie in der Originalvorlage. Alle auftretenden Frauen sind auf Liebe eingestellt, und wenn man die Friseuse und die Pediküre als Symbolfiguren betrachtet, dann sogar von Kopf bis Fuß.
Da das Grundthema dieser Parodie Sex ist, finden wir hier ebenfalls die Gedankenstriche wie im Original. Allerdings wird hier der Sexakt nicht physisch vollzogen, sondern spielt sich nur in der erotischen Phantasie der Beteiligten ab. Der Bezug zum Original wird auch noch durch die direkte Namensnennung des Dichters unterstrichen. Dies in der dritten Szene, in das gefällige Fräulein die junge Frau um Lektürevorschläge bittet. Sie erhält als Antwort:
Nun, Storm und Heine, hie und da etwas Nietzsche - aber auch Schnitzler und Gyp und was sonst erscheint. -
Das gefälllige Fräulein: Haben gnädige Frau den Reigen schon gelesen, das ist das letzte Buch von Schnitzler.
Die junge Frau: Nein, mein Mann wollt es mir nicht geben, obzwar er sonst nicht prüde ist. -
Das gefällige Fräulein: Gott, es ist gar nicht so arg.
Die junge Frau: Ja, haben Sie es denn gelesen? Erlaubt denn das der Papa?
Das gefällige Fräulein: Ja, davon reden wir nicht, und dann, das ist doch nicht wie im Theater, wo jeder einen dabei sieht.
Die junge Frau: Das ist freilich ein Standpunkt.
Das gefällige Fräulein: Ja, aber den Reigen sollten gnädige Frau doch lesen, nur eines ist dumm dabei, es sind so oft Gedankenstriche und immer bei den interessantesten Stellen, und ich weiss dann nie genau, was er meint.
Die junge Frau: (Für sich: Oh du ahnungsvoller Engel du!
--------------------------------------------------------------- (24 ff)
Zu den zeitgemäßen Betrachtungen, die die Parodie liefert, gehören u.a. folgende: Der Reigen wird hier als letztes Werk von Schnitzler dargestellt; da dieses Werk 1903 erschien, wird die Parodie, deren Erscheinungsjahr bekannt ist, auch im Text datiert. Interessant ist ebenfalls, daß Nietzsche hier erwähnt wird, den Schnitzler und Hofmannsthal gerade zu dieser Zeit gelesen hatten. Und daß der Reigen gelesen und nicht aufgeführt werden sollte, wurde nicht nur damals vermerkt, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch die Rezensionen bis in unsere heutige Zeit.
Die Wirkung der Parodie läßt sich z.T. aus der Assoziationstechnik der Psychoanalyse erklären, denn nicht nur hatte Freud sein Traumbuch um 1900 veröffentlicht, sondern Schnitzler war ebenfalls praktizierender Arzt, der sich für Psychologie interessierte. Worte können demnach Auslöser für unterdrückte oder nicht gesellschaftsfähige Tabu-Informationen oder Erlebnisse sein. Dies finden wir z.B. schon in der ersten Szene, die zwischen der Frau Rittmeister und der Friseurin stattfindet. Dort wird über die Kundschaft gesprochen, und die Friseurin fragt die Frau Rittmeister: "Gnä Frau, Se kennen do die klane, schwarze Dicke, die allerweil kummt?"(8). Die gleich darauf erscheinenden Gedankenstriche bei der Frau Rittmeister werden wahrscheinlich durch das Wort kommen ausgelöst, bei Hermann Paul definiert als "das Resultat einer Bewegung, welcher Art dieselbe auch sein mag." (3)
Wenn wir jetzt ein halbes Jahrhundert überspringen und uns den Vereinigten Staaten zuwenden, so ist eine Aufführung des Reigen oder von Hands around oder La Ronde problematisch, und dies aus drei Hauptgründen: erstens lieben es die Amerikaner nicht, ihr Sexualleben öffentlich zu diskutieren, wobei der puritanische background eine große Rolle spielt. Diese Bemerkung war gültiger in den 20er Jahren als jetzt, hat sich aber bis heute noch in geschwächter Form gehalten. Der zweite Grund ist, daß das Stück in englischer Übersetzung dargeboten werden muß, wodurch die vielen sprachlichen Nuancen verloren gehen - man denke nur an die Wiedergabe des Sie und du durch das englische you. Und drittens ist die Wiener Atmosphäre um 1900 den Amerikanern ein 'Verfremdungseffekt,' denn wie ein Kritiker es einmal in der New York City Tribune vom 15. November 1982 ausdrückte:
Im Text ist von Chambres séparées die Rede, von Dichtern, die fürs Theater schreiben, ein Graf tritt auf, der einer gefeierten Schau-spielerin einen Besuch abstattet etc. All das ist äußerst europäisch. Hierzulande bezeichnen wir Dramatiker nicht als Dichter, und das Chambre séparée eines Restaurants, das man benutzt, um jemanden zu verführen, ist ein Phänomen, das einer anderen Zeit und anderen Schauplätzen angehört.(4)(B:5)
Hinzufügen könnte man hier noch die Gestalt des süßen Mädels, die den Amerikanern vollkommen unbegreiflich ist. Dazu kommt jetzt noch die Angst, sich in einem ungezügelten Sexualverkehr mit Aids zu infizieren.
Man versucht, die sprachlichen Schwierigkeiten dadurch zu umgehen, daß man aus diesem Stück ein Musical macht. Eines der ersten Musicals war Rondelay, angekündigt als: "A new musical suggested by Schnitzler's La Ronde. Libretto by Jerry Douglas and Music by Hal Jordan." Die Premiere fand am 5. November 1969 im Off-Broadway Theater Hudson West statt, und die vierunddreißig musikalischen Nummern des zweiaktigen Musicals betonen die kreisförmige Struktur des Stückes, indem sie auf die Jahreszeiten hinweisen: "Eine Straße in Wien - Frühjahr 1905; Der Wurstelprater - Sommer; Das Haus des Studenten in der Porzellangasse - Herbst; Ein gemietetes Zimmer in der Schwindgasse - Herbst; Das Schlafzimmer des Professors - Winter, und Riedhofs Restaurant - Winter." Dieses Musical war ein Reinfall, und es erlebte nur elf Vorstellungen. George Oppenheimer schrieb in Newsweek vom 6. Oktober 1969:
Als Schnitzler das Stück im Jahre 1900 schrieb, hielt man es für unglaublich gewagt. Heute ist es völlig harmlos und - so, wie es hier nach den Eingangsszenen dargeboten wird - hoffnungslos almodisch [...] Da Rondelay sich aus einem Musical, das einen gewissen Charme und Witz hat, in eine Burleske verwandelt, der beides fehlt, dann zu einer Parodie einer Operette wird, um schließlich ins absolut Süßlich-Sentimentale abzurutschen, vermögen weder die Musik noch die Liedtexte noch sonst etwas das Stück zu retten.(5) (A:44)
Noch kürzer und bündiger wurde das Stück von Clive Barnes in der New York Times vom 6. November 1969 folgendermaßen abgekanzelt: "Der Vorhang ging mit fünfunddreißig Minuten Verspätung hoch, und sobald das geschah, war der beste Teil des Abends vorbei" (L+:55).(6) Auch die 1972er Wiederaufnahme des Musicals in den Spielplan mußte schnell wieder abgesetzt werden, denn, wie Martin Oltarsh am 30. November 1972 in der Zeitschrift Show Business verkündete, "hatte man aus dem Stück eine recht hausbackene Angelegenheit gemacht; statt einer Wiener Sachertorte der Jahrhundertwende wird uns hier amerikanischer Apfelkuchen des Jahres 1972 vorgesetzt. Da die Darsteller die Sitten jener Zeit nicht genügend zum Ausdruck bringen können, fehlen dem Stück die wesentlichen Elemente" (13).(7)
Ich habe das Libretto in der New York Public Library im Lincoln Center gelesen (es befindet sich ebenfalls im Deutschen Literaturarchiv in Marbach), und ich glaube, daß man sich zu eng an das Schnitzlersche Stück gehalten hatte. Viele Passagen waren fast wörtlich aus dem Deutschen ins Englische übersetzt, besonders die zwischen dem Studenten und der jungen Frau. In Rondelay wie in Reigen ist der junge Mann zuerst impotent und flüchtet sich mit seinen Erklärungen in Stendhal. In Rondelay hört sich das so an:
Oh, my God...What's wrong with me? I can't seem to...
I
Must be out of my senses.
I'm
Flashing hot and cold.
Why this inability?
Suddenly senility!
Where is my virility?
Am
I growing old?
Oh, I
Know I've been a sinner.
I
Know I should repent.
Lord, I beg on bended knees,
Tell me quickly, if you please,
Have I caught a rare disease?
Am
I impotent?
Diese Sprache trägt nicht dazu bei, dieses Stück als ein sprachliches Meisterwerk zu betrachten.
Eine anderes in New York aufgeführtes Musical war Hello again im Mitzi F. Newhouse im Linclon Center. Diese Neubearbeitung des Schnitzlerschen Stückes wurde von Michael John LaChiusa verfaßt und hatte im Januar 1994 Premiere. Diese Variante ist anachronistisch auf die amerikanische Situation zugeschnitten: Die erste Episode findet um 1900 an der Donau statt, zwischen der Prostituierten und dem Soldaten. Dieser vergnügt sich vor seinem Fronteinsatz 1940 mit einer Krankenschwester, die zwanzig Jahre später den rekonvaleszierenden Stendhallesenden Studenten verführt. Sein zweites Auftreten findet 1930 im Kino statt, wo er sich mit der jungen verheirateten Frau trifft. Ins Homosexuelle überwechselnd ist die Liebesepisode des Ehemanns mit dem süßen Ding, das jetzt nicht mehr das süße Mädel ist, sondern der süße Junge, der wiederum mit der amerikanischen Version des Schnitzlerschen Dichters, hier nur writer genannt, auftritt. Die Kritiken waren fast alle positiv; nur Vincent Canby bemerkte in der New York Times (1994): "Obwohl das Stück in den 80er Jahren endet, könnte man sich hier vorstellen, daß die AIDS-Plage, die zu dieser Zeit zum ersten Mal offiziell anerkannt wurde, irgendwie in dieser Schnitzler-Variation zur Kenntnis genommen wird. Dies geschieht nicht."(8)
Dies geschah auch nicht in Eric Bentleys Round 2 or New York in the 70s,(9) veröffentlicht 1990 und aufgeführt in New York, San Francisco und Los Angeles. Mit diesem Stück, von Bentley selbst als Schnitzler-Variation bezeichnet, haben wir eine interessante Variante zu dem Reigen-Thema: In den zu Anfang erwähnten Duo-Szenen im Dampfbad traten nur Frauen auf, bei Bentley dagegen nur Männer. Sein Stück besteht wie bei Schnitzler aus zehn Szenen oder Dialogen, in denen zwei Männer sich vor und nach dem Sexakt unterhalten: Der Prostituierte und der Soldat; der Soldat und der Kunststudent und dann in der letzten Szene der VIP, also ein hohes Tier, und der Prostituierte. Bentley ist sich sehr wohl der AIDS-Gefahr bewußt, der besonders die Homosexuellen ausgesetzt sind, und gibt deshalb im Vorwort folgende Erklärung ab:
Es gibt Leute, die mich für herzlos halten, daß ich dieses Stück in den 80er Jahren geschrieben habe, ein Stück, das zwischen Homosexuellen spielt, jedoch nie AIDS erwähnt. In der Tat, die Handlungsgeschichte hätte nicht vor den 70er Jahren passieren können, und auch nicht viel nach 1980. Na, und? Wird AIDS ewig sein? Das kann ich nicht glauben. Haben wir keine Erinnerung mehr, sind denn die 70er Jahre schon vergessen? Das kann ich ebenfalls nicht glauben.(10)
Bentleys Text folgt dem Schnitzlerschen Original in vielen Einzelheiten, und genau wie bei Schnitzler folgt auf das romantische dévant das ernüchterte aprés. Bentleys Gestalten versuchen durch sexuelles Vereinigen ihre Einsamkeit zu überwinden, aber sie bleiben danach als Fremde zurück, genau so weit von einander entfernt wie zu Anfang. Das Stück war kein großer Erfolg; Victor Gluck, der seine Besprechung am 6. November 1991 im New York Native veröffentlichte, schrieb u.a. folgendes: "Der Dialog war Klischee, der Humor 08-15, der Plot banal, die Charakterisierung oberflächlich, die Situationen vorhersagbar, die Themen datiert. In Anbetracht dessen, daß das Original die erste vom Theater ausgehende Warnung von Geschlechtskrankheiten verkündete, versäumt Round 2 diese Gelegenheit im Zeitalter von AIDS" (22).(11)
Von Interesse in diesem Zusammenhang ist eine Stelle aus einem Brief Bentleys an mich:
I had a long history with the Schnitzler play before I wrote the gay variant. [...] Schnitzler's son Heinrich did not want me to publish or produce [my version] but the German original was not protected by U.S. copyright and I went ahead without his consent. There is a plan now [...] to publish in 1997 a pre-sentation entitled Round 1/Round2 - a stream-lined version of both plays for one evening's entertainment.
Bentleys Bemerkung, daß die Barriere des in Deutschland und Österreich herrschenden Urheberschutzgesetzes nicht auf die Staaten zutrifft, ist wichtig, denn in den USA kann man ungestraft mit dem Reigen experimentieren. Eine Parodie ist auch nach der Entscheidung des Obersten Amerikanischen Gerichtshofes vom Urheberschutzgesetz befreit, da sie Licht und besseres Verständnis auf ein früheres Werk werfe und dadurch ein neues Werk schaffe. Schwabs Neuschaffung Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler ist solch ein Beispiel, und es hat lange gedauert, bis sein Stück auf die Bühne gebracht werden konnte. Die Aufführung von Eugen Ruges Reigen-Bearbeitung Mir nichts - Dir nichts wurde in Deutschland und Österreich durch den Justitiar Reimer Ochs vom S. Fischer-Verlag blockiert, aber da die englische Übersetzung jetzt vorliegt, wird dieses Stück wahrscheinlich die nächste amerikanische Aufführung sein, wahrscheinlich an einem Off-Broadway-Theater in New York City. Auch Ruges Stück basiert auf einem kreisförmigen Verlauf der Handlung, aber zum eigentlichen Akte kommt es bei ihm nie, denn seine Charaktere reden sich immer am Sex vorbei. Eine Parodie kann man Ruges Werk nicht nennen, viel eher eine Neubearbeitung, die mit dem Orginal den dramatischen Grundeinfall gemein hat. Und der, wie es in Theater Heute heißt, "stellt keine Bearbeitung im Sinne des § 23 Urheberrechtsgesetz dar, es ist höchstens ein Fall der rechtsfreien Nutzung ( 24)" (Heft 3/1994: 63). Was Ruge beabsichtigte, hat er selbst in einem Interview in derselben Zeitschrift gesagt:
Bei Schnitzler reden die Leute von Moral, aber unter der Oberfläche, da kracht es und bumst es. Bei mir reden die Leute von Sex, nur mit dem Krachen und Bumsen, da haperts. Daß der Herr Graf seinen Schwanz genau da reinsteckt, wo der Soldat seinen rausholt, war zu Schnitzlers Zeiten ein Skandel. Schnitzler schrieb über die bürgerliche Scheinmoral. Ich schreibe über die Vereinsamung meiner äußerlich immer reibungsloser kommunizierenden Zeitgenossen. (63)
In seiner (unveröffentlichten) Stellungnahme zur Berufungsbegründung vom 21.09.94 wiederholt Ruge den Sinn und wesentlichen Inhalt seines Stückes noch einmal: "Es ist mein Versuch, meine Zeit und meine Mitbürger zu beschreiben. Und das ist immer noch das Wesentlichste, was zu diesem Thema vorzubringen ist." Es ist nicht nur sein Versuch, sondern auch der aller anderen, die sich in ihrer Gestaltung vom Schnitzlerschen Original zu Neuschaffungen haben anregen lassen. Dazu gehört ebenfalls die 1994 geschaffene Version von Werner Schwab, betitelt Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler. In diesem Werk läßt Schwab den Dichter zu der Sekretärin sagen, die bei ihm das süße Mädel abgelöst hat: "Die Poesie verseelt die Dinge mit einer Würde und macht sie ewiglich, selbst wenn sie anheimverschwinden mit der Müllabfuhr. Das Ding geht ab, die Seele phantasiert es weiter in einer unsichtbaren Form."(12) Sie wird es auch noch weiter phantasieren, so lange die Diskrepanz zwischen Erwartung und Vollzug im Menschen diese Traurigkeit hervorruft, die im Original-Reigen in jeder Episode enthalten ist: Die völlige Verbindung mit dem anderen ist Illusion. Dies kommt ebenfalls in Ingeborg Bachmanns Gedicht "Reigen" zum Ausdruck, in dessen letzte Strophe sie sagt:
Wir haben die toten Augen
gesehn und vergessen nie.
Die Liebe währt am längsten
und sie erkennt uns nie.(13)
© Gerd K. Schneider (New York)
Anmerkungen:
(1) Ingeborg Bachmann: Malina (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981) S.289-290.
(2) Duo-Szenen im Dampfbad. Ringel-Reigen-Rosenkranz nach berühmtem Muster von einer Wienerin. 2. Auflage (Leipzig-Reudnitz, Magazin-Verlag Jacques Hegner, 1904). Alle Zitate sind dieser Ausgabe entnommen.
(3) Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. 5., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage von Werner Betz (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1966) S.360.
(4) Im Original: "But the text is filled with references to private dining rooms, poets writing for the theater, a count who pays a visit to a leading lady, etc. All of that is highly continental. Here we do not refer to dramatists as 'poets,' and a restaurant's private dining room used for a seduction is a phenomenon of other times and other places." Diese Übersetzung, wie auch die folgenden, sind von mir.
(5) Im Original: "When Schnitzler wrote this play in 1900, it was considered incredibly daring. Now it is altogether tame and, as treated here after its initial scenes, hopelessly old-fashioned [...] As Rondelay goes from a musical with some charm and comedy into a burlesque with neither, into a parody of an operetta, into mawkishness and straight to hell, not music nor lyrics nor anything can help it."
(6) Im Original: "The curtain went up 35 minutes late - and I notice wryly that when I'm even 20 minutes late someone has to write a book about it. I must admit that once the curtain did rise, the best part of the evening was over."
(7) Die erweiterte Originalstelle lautet: "So they have brought the play down to a rather pedestrian level of 1972-American-apple-pie, not Viennese sacher torte, circa 1900. The mores of that time not being sufficiently recreated in the characterization, the essential elements in the play are missing [...] the play becomes tired formula, not Schnitzler's cynical depiction of the sexual mores and hypocrisy of his time."
(8) Im Original: "You might imagine that, though Hello Again ends in the 1980's when the AIDS plague was officially acknowledged for the first time, the awareness of AIDS would somehow be pertinent in this variation on Schnitzler. It isn't."
(9) Eric Bentley: "Round 2," in Gay Plays, Band 4 (London:Reed Consumer Books Ltd, 1990; ausgeliefert in den Staaten durch Heinemann Teil der Reed Elsevier Inc.).
(10) Im Original: "There were people who considered me heartless because I wrote Round 2 in the 80s, a play about gay sex that never mentions AIDS. Indeed, what takes place in the play could not have taken place before 1970 or much after 1980. What of it? Is AIDS forever? I cannot believe it. Have we no memory, are the 70s already forgotten? I cannot believe it." Aus dem Vorwort, S.1.
(11)) Im Original: "The dialogue is clichéd, the humor old hat, the plotting trite, the characterizations superficial, the theme dat-ed. Whereas the original was the first theatrical warning about venereal disease, Round 2 seems to have missed its opportunity in the age of AIDS."
(12) Werner Schwab: Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler (München: Thomas Sessler, o.J.), S.27-28.
(13) Ingeborg Bachmann: "Reigen." In I.B. Werke. Band 1. Hs. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster (München-Zürich: R. Piper & Co., 1978), S.35.
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last change 18.11.1999