Hartmut Cellbrot (Opava)
Die Ansprüche, die die "universale Physiognomik"(1) Rudolf Kassners erhebt, sind weitreichend. Ihre Gegenstände erstrecken sich von der griechisch-römischen Antike bis hinüber nach Asien. In den Deutungshorizont geraten fernöstliche Legenden, frühe Mythen und die Epochen der Neuzeit. Die Wirksamkeit der physiognomischen Deutung für das 20. Jahrhundert erhält sich Kassner zufolge dadurch, daß es selbst physiognomisch geworden ist.
Physiognomik stellt so das ausgezeichnete Verfahren dar, der Signatur der Epoche zur Selbstdurchsichtigkeit zu verhelfen, da sie im Zusammenhang mit Gesellschaftslehre sowie moderner Natur- und Geschichtswissenschaft steht. Denn es kann "keinesfalls Zufall sein", wie Kassner unterstreicht, "daß [die Physiognomik] in einer Epoche den Menschengeist [...] beschäftigen mußte, da sich alle gesellschaftlichen Bindungen zu lösen und neue zu entstehen beginnen, denn es handelt sich ja nicht nur um Physiognomik in engerem Sinne, sondern auch darum, daß die Wissenschaft (Relativitätstheorie), die Geschichtsauffassung und Naturlehre (Fallenlassen des Begriffs von Fortschritt, Evolution) und die Dichtung physiognomisch geworden sind." (IV 435.)
Der Repräsentant des 20. Jahrhunderts und "Objekt des physiognomischen Sehens" (IV 435) ist der Einzelne in seinem Bezogensein auf das Kollektiv.(2) Den Begriff des Einzelnen übernimmt Kassner von Kierkegaard, aber die Bedeutung, die Kassner ihm verleiht, ist eine andere. Kierkegaards Einzelner ist die letzte Form des Christen, er bleibt auf Gott ausgerichtet, Kassners die letzte des Menschen.(3) Mit der Einführung des Einzelnen als einer endzeitlichen Gestalt verbindet sich eine fundamentale Subjektkritik. Vergegenwärtigt man sich den Hauptwesenszug, den Kassner dem Einzelnen zumißt, daß er und seine Welt nur sind, indem er sie dank der "existenziellen Einbildungskraft" (X 373) schafft, ohne daß sie in bloß subjektiven Intentionen aufginge, so bietet sich vom Einzelnen aus der Brückenschlag zu Heideggers Existenzbegriff von Sein und Zeit und zum späteren Seinsdenken an wie zu der Existenzphilosopie Sartres.
Kassner hat in den fünfziger Jahren auf beide Philosophen in seinen Schriften und Briefen Bezug genommen - allerdings zumeist kritisch oder gar polemisch. Ausdrücklich nennt er die 1950 erschienene Aufsatzsammlung Holzwege, die sechs, zwischen 1935 und 1946 entstandene, Abhandlungen vereinigt.
Im Werk fällt der Name Heidegger nur einmal und zwar im Zusammenhang von Benns Doppelleben hinsichtlich dessen Nähe zu Nietzsche. Dort geht Kassner noch vergleichsweise zurückhaltend auf Heidegger ein, wenn er schreibt: "Nietzsches Nihilismus, wie das von Martin Heidegger genannt wird, auf etwas also, das zugleich Idee und Ideenlosigkeit bedeutet, auf ein Nichts von Etwas." (IX 505.)(4) Kassner beruft sich hier auf den Aufsatz "Nietzsches Wort `Gott ist tot´" aus den Holzwegen, zu dem Heidegger in einem Zusatz notiert: "Nietzsches Denken [ist] als die Vollendung der abendländischen Metaphysik aus der Geschichte des Seins zu begreifen."(5) Heidegger zufolge hat Nietzsche indes das Wesen des Nihilismus, insofern er das Sein der Metaphysik als nichtig denkt, nicht durchschaut.(6)
Innerhalb des Heideggerschen Denkweges gehören die Holzwege in die mittlere Phase, in die Zeit nach der "Kehre"(7). "Kehre" will besagen, daß nach dem anfänglichen Ansatz in Sein und Zeit, wo die Frage nach dem Sinn von Sein an den "Entwurf" bzw. an das "Seinsverständnis" des Daseins geknüpft ist, sich nun die Frage nach dem Sein von der Daseinsperspektive abkehrt und sich hinwendet zu der nach der "Wahrheit des Seyns", womit die Offenheit des "Seyns selbst" in den Vordergrund rückt. Hervorzuheben ist, daß Heidegger diese Wandlungen der Seinsfrage, wozu noch die der Spätphilosophie zu zählen ist, in der das "Ereignis" bedacht wird, das Grundanliegen von Sein und Zeit nicht aufgibt.(8) Dementsprechend heißt es auch in dem Nietzsche-Aufsatz: "Die folgende Erläuterung hält sich mit ihrer Absicht und nach ihrer Tragweite im Bezirk der einen Erfahrung, aus der Sein und Zeit gedacht ist."(9)
Kassners Kritik an Heidegger richtet sich nach zwei Seiten: zum einen gegen den Existenzbegriff und zum anderen gegen das Seinsdenken, wie Kassner es aufnimmt. Was den Existenzbegriff anbelangt, so blendet er den von Heidegger und Sartre übereinander und unterscheidet nicht weiter zwischen ihnen, wohingegen Heidegger seinerseits bekanntlich Sartres berühmte Formel, die Existenz gehe der Essenz voran, vehement abgewehrt hat mit dem Hauptargument, die Umkehrung eines metaphsysischen Satzes bleibe immer noch der Metaphysik verhaftet.(10)
Sartre bringt in seiner programmatischen Schrift Der Existentialismus ist ein Humanismus(11), um kurz deren Hauptgedanken zu vergegenwärtigen, den "ersten Grundsatz des Existentialismus" auf die Formel, daß die "Existenz der Essenz vorausgeht".(12) Die bisherige philosophische Tradition bis hin zu Nietzsche vertrat gerade die gegenteilige Ansicht, daß die Essenz der Existenz vorausgehe. Sie besaß einen allgemeinen Begriff des Menschen und der menschlichen Natur, die jedem individuellen Menschen eigen ist. Dies bedeutet, daß jeder Mensch ein besonderes Beispiel eines allgemeinen Begriffes Mensch ist. Für Sartre hingegen gibt es keine ein für allemal feststehende menschliche Natur, auf die sich eine Definition des Menschen stützen könnte. In Umkehrung der Tradition geht Sartre von der einzelnen Existenz aus, die er als "Ichheit" faßt und die "nichts anderes ist, als das, wozu sie sich macht."(13) Gerade als ein in die Welt ohne vorgegebene Werte und Ziele Geworfener ist der Mensch verantwortlich für sein Tun. Dies drückt Sartre auch so aus: "Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein."(14) Indem die einzelne Existenz sich stets neu entwirft, schafft sie ein Bild des Menschen als solchen, bringt sie ihre Essenz hervor. "In diesem Sinne können wir sagen, daß es eine Allgemeinheit des Menschen gibt; aber sie ist nicht gegeben, sie wird fortwährend aufgebaut. Ich erbaue das Allgemeine, indem ich mich wähle".(15)
Man möchte meinen, Sartres Begriff der Existenz müßte Kassner entgegenkommen, wo doch der Einzelne ebenfalls ohne eine vorausgehende Essenz gedacht wird. Indes verurteilt Kassner einen solchen Existenzbegriff. Es "ist falsch zu sagen, Existenz gehe vor Essenz, es ist nicht nur falsch, sondern auch verlogen, weist hin auf einen Zustand von Ressentiment in Permanenz, um dieses Wort der Amts- und Militärsprache des alten Österreichs zu entlehnen, ist Geist aus Geistlosigkeit, was in meiner Sprache so viel heißen muß wie Phantasielosigkeit, das Ausfließen eines lecken Gefäßes." (X 202.)
Der Mensch als Selbstentwurf muß für Kassner wie ein leckes Gefäß ausfließen, wenn nicht gleichsam als Gegenlager die Idee hinzukommt: "Es verrät einen gewöhnlichen Kopf'", heißt es an anderer Stelle, "wenn behauptet wird, Existenz ginge vor Idee [...] wo doch alles auf Spannung ankommt", auf die Spannung zwischen Idee und Existenz, infolgedessen sich die Idee von jedem Platonismus abtrennt (IX 485).
Wie Kassner den Primat der Existenz vor der Idee verwirft, so wendet er sich dagegen, Sein ohne Idee - nicht im platonischen Sinne - zu denken. Im Blick auf Heidegger vermerkt er: Es sei "unsinnig, Sein auch nur zu denken ohne Idee." (IX 642.) In einem Gespräch mit Kensik fügt er ergänzend hinzu: "mir wäre es auch nicht in den Sinn gekommen, das Sein ohne Idee (im Sinne Heideggers) als das Absolute anzusprechen".(16) Das Sein als ein Absolutes zu nehmen, liegt dem Heideggerschen Denken fern. Kassner mag sich hier auf die Erörterung von Hegels Begriff der Erfahrung aus den Holzwegen beziehen. Dort indes entstammt der Begriff des Absoluten der Terminologie Hegels. Wenn Heidegger schreibt: "Die Phänomenologie des Geistes ist die Parusie des Absoluten" und die "Parusie ist das Sein des Seienden"(17), dann interpretiert er zwar das Absolute bei Hegel aus dem Horizont seines Seinsdenkens, ohne jedoch das Sein, wie er es versteht, so zu nennen.
Gleichwohl zielt Kassners Kritik des Seinsdenkens auf etwas, das sich unter der Optik des physiognomischen Sehens in der Tat als ein Absolutes darstellt, dem zugleich eine Bodenlosigkeit innewohnt, die er abzuwehren trachtet, da sie die innersten Voraussetzungen seiner Subjektkritik trifft. Der Zusammenhang zwischen Subjektkritik und Kritik des Seinsdenkens zeigt sich darin, daß Kassners Kritik aus einer Doppelperspektive erfolgt. Insofern das Sein wie die Existenz nicht ohne Idee zu denken sind, umfaßt die Seinskritik in gleichem Maße den Existenzbegriff. Oder anders gesagt: Die Idee ist dasjenige, wodurch der Mensch und das Sein vorgängig aufeinander bezogen sind. Die Frage nach der Idee impliziert die nach dem Menschen wie umgekehrt die Frage nach dem Menschen unlösbar verknüpft ist mit der nach der Idee.
Das Sein des Menschen ist genausowenig ohne Idee zu denken wie das Sein selbst. In der Verklammerung von Mensch und Idee - oder der "Spannung zwischen Existenz und Idee" (IX 485) - bekundet sich eine Struktur, die sich in wesentlichen Aspekten mit derjenigen der Exposition der Seinsfrage in Sein und Zeit deckt. Sie besetzt denselben Ort, an dem die Seinsfrage anhebt. Die Ausarbeitung der Seinsfrage geschieht dort über die Analytik des Daseins. Diesen Weg vermag Heidegger deshalb einzuschlagen, weil die Seinsfrage mit der Frage nach dem Sein des Menschen untrennbar verknüpft ist. Der richtungsweisende Satz, mit dem Heidegger beginnt, lautet: "Das Dasein ist ein Seiendes", dem es "in seinem Sein um dieses Sein selbst geht." Zu dessen Seinsverfassung gehört es, daß es "in seinem Sein ein Seinsverhältnis hat."(18) Daß das Dasein sich zu seinem eigenen Sein verhält, bestimmt sein Sein als Existenz. Existierend hält es sich immer schon in einem Seinsverständnis: Sein aber `ist´ nur im Verstehen des Seienden, zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis gehört. (SZ 212) "Existenz" nennt Heidegger das "Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält" (SZ 12).
Wenn Heidegger angesichts der Zusammengehörigkeit von Sein und Existenz sagt: "Das Sein des Seienden `ist´ nicht selbst ein Seiendes" (SZ 6), so konzentriert sich die Seinsfrage in der Folge darauf, dem "`ist´ nicht" des Seins eigens nachzudenken. Aufgrund des unzerreißbaren menschlichen Seinsbezugs betreffen die Aussagen über das Sein ebenso die Seinsweise des Menschen.
In den Holzwegen steht die Seinsfrage noch im Horizont von Sein und Zeit, wie der bereits angeführte Hinweis im Nietzsche-Aufsatz auf diese Schrift belegt. Zugleich wird er aber auch schon überschritten, indem sich die Frage nach dem "Sinn von Sein" (SZ 2)(19) wandelt zu der nach der "Wahrheit des Seins". Der Unterschied liegt Heidegger zufolge darin, daß sich die Frage nach dem Sinn von Sein aus dem Entwurfscharakter des Daseins her bestimmt, während die nach der Wahrheit des Seins mehr die "Offenheit des Daseins angesichts der Offenheit des Seins" betont. Diese Blickänderung "bedeutet `die Kehre´, in der das Denken sich immer entschiedener dem Sein als Sein zuwendet."(20) Festzuhalten ist aber nochmals, daß mit der `Kehre´ die in Sein und Zeit gestellte Seinsfrage nicht aufgegeben wird, sondern es tritt eine Änderung der Perspektive ein.
Was es mit der "Offenheit des Seins" angesichts des "`ist´nicht", das die des Menschen erst ermöglicht, auf sich hat, das spricht der späte Heidegger mit ausdrücklichem Bezug auf Sein und Zeit unter dem Terminus der "ontologischen Differenz" an: "alle unsere Erwägungen gehen von einer Grundunterscheidung aus, die sich so ausdrücken läßt: das Sein ist nicht seiend./ Dies ist die ontologische Differenz." Ihre Vergessenheit ist bezeugt durch die ganze Geschichte der abendländischen Metaphysik, denn "alle Philosophie durchwaltet, verborgen zugrundeliegend und nie thematisch, die Differenz von Sein und Seiendem. Aber seit das Denken mit Sein und Zeit in das Hören auf das Sein als Sein zu gelangen suchte, seit demgemäß die ontologische Differenz ausdrücklich zum Thema wird, findet es sich nicht genötigt", so fragt Heidegger, "den befremdlichen Satz auszusagen: `das Sein ist nicht seiend´, das heißt: `das Sein ist Nichts´?" Heidegger schlägt daher hinsichtlich der Differenz vor, das "`ist´ aufzugeben - und einfach zu schreiben: Sein : Nichts".(21)
Indem Heidegger das Sein mit dem Nichts zusammendenkt, wird auch der seinsverstehende Mensch dem Nichts überantwortet. Ein solches Unterfangen verwirft Kassner. Seine Seinskritik richtet sich im Kern gegen dieses Einbrechen des Menschen ins Nichts, was in der brieflichen Äußerung vom 28. 2. 1951 gegenüber Theophil Spoerri offen zutage tritt. Das Urteil über die Lektüre der Holzwege fällt polemisch aus: "Ich kaufe auch nicht viel Bücher, unlängst die Holzwege. Kam allerdings auf ihnen gar nicht weiter. Ich glaube, was Heidegger vor Gott rettet, ist: dass irgendwo in der Tiefe [...] Heidegger wahnsinnig ist, eigen- und wahnsinnig, wodurch er einen Reiz bekommt wie eine Vulkanlandschaft." Einige Tage später schreibt er an Spoerri: "Ich gebe Ihnen Heidegger betreffend gerne nach und setze verrückt (ver-rückt) an Stelle von wahnsinnig." (IX 989.)
Die mit einem Bindestrich versehene Schreibweise von `ver-rückt´ lehnt sich offensichtlich an die aus der Holzwege-Abhandlung über Nietzsche an. Dort deutet Heidegger im Zuge der Erörterung des Stückes 125 "Der tolle Mensch" aus der Schrift Die fröhliche Wissenschaft das Sagen des tollen Menschen über den Tod Gottes als "ver-rückt", da er aus der "Ebene der bisherigen Menschen ausgerückt" sei, insofern diese noch die "unwirklich gewordenen Ideale der übersinnlichen Welt für das Wirkliche" ausgeben.(22)
Kassner mutet das Denken Heideggers nicht aus dem Grunde ver-rückt an, weil er der Metaphysik wieder zu ihrem Recht verhelfen möchte, sondern weil er durch Heideggers Interpretation von Nietzsches Nihilismus den Menschen an einen Abgrund gerückt sieht.
Der Nihilismus treibt die Seinsvergessenheit auf die Spitze, sofern er das Sein der "übersinnlichen Welt" zum bloßen Schein erklärt und somit als nichtig, mithin als das Nichts setzt. Heidegger kommt es nun gerade darauf an, dieses Nichts, in dem sich die ontologische Differenz bekundet, eigens zum Thema zu erheben und als die Wahrheit des Seins zu denken: "Das Nichts [...] ist das Sein selbst, dessen Wahrheit der Mensch dann übereignet wird, wenn er sich als Subjekt überwunden hat und d. h., wenn er das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt."(23) Wie Heidegger erkennt Kassner, daß mit der Verabsolutierung des Seienden, die sich mit dem Tod Gottes als dem Bereich der Ideen und Ideale einstellt, eine Verfestigung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes einhergeht, wodurch alles, was ist, zum Gegenstand der Berechenbarkeit wird, was eine Verabsolutierung des Subjekts zur Folge hat.
Ebenfalls ist es Kassners Anliegen, diesen Gegensatz zu überbrücken. Sein Entwurf der Physiognomik steht allerdings der Heideggerschen Wendung zum Sein als Nichts diametral entgegen. Hierin erblickt Kassner den Abgrund, vor den Heidegger den Menschen stellt. Kassner ist es nicht darum zu tun, einen eigenständigen Bereich der Ideen zu rekonstituieren, vielmehr geht es ihm um eine Visualisierung oder Rückbindung der Ideenwelt an die Welt der Erscheinungen. Dieser Vorgang kommt in dem, was er die Spannung zwischen Existenz und Idee nennt, zum Ausdruck. Dadurch wandelt sich das Verhältnis von Wirklichem und Imaginärem wie das von Schein und Wesen. Während Heidegger das von Nietzsches Nihilismus zum puren Schein degradierte Reich der überzeitlichen Wesenheiten als Beleg für die Aufgipfelung der Seinsvergessenheit deutet, der nachzudenken den Menschen zu sich selbst bringt, indem er sich dem vergessenen Sein als dem Nichts übereignet, sucht Kassner die Abspaltung des Seins - als Seinsvergessenheit - vom Seienden auf dem Wege einer Ausbalancierung der beiden Bereiche zu unterlaufen. Es ist die Idee, die das bewirkt. Kassner siedelt sie mitten im Bereich des Sichtbaren an, ohne daß sie darin aufginge. Es kommt zu einer Verflechtung von Wesen und Schein. Die "Idee", wie er in einem Gespräch mit Kensik bemerkt, "ist Bindung und Trennung, beides zugleich, von dem, was wir Wesen, und dem, was wir Schein nennen."(24)
Das Zugleich von Bindung und Trennung eröffnet eine Dimension, innnerhalb derer das Subjekt - jetzt das "Zulängliche des Subjektiven" (IX 447) - und das Seiende, die Dinge eingelassen sind. Das Subjekt steht diesem wechselseitigen Durchdringen wie Differenzieren nicht gegenüber, vielmehr findet es sich mitten in dem Bereich, in dem dieses fortwährende Verflechten geschieht. Von der Seite des Subjekts aus gesehen, stellt sich das Zugleich als eine dynamische Bewegung von Sinnbildungsprozessen als Deutungsvorgänge vor. Weil sich die Bewegung der deutenden Sinnbildung in der vorgängigen Verflechtung von Schein und Wesen vollzieht, ist sie für Kassner immer schon gestalthaft und d. h. in einem zumal gestaltbildend. Entscheidend ist, daß Kassner die Gestaltbildung hier nicht im bloß phänomenalen Sinne versteht, die "sich dann zwangsläufig um eine reale Unterlage verdoppelt", sondern daß er sie vielmehr begreift als Herausbildung eines "ontologischen Reliefs"(25), dem nichts anderes zugrundeliegt und das diesseits von Wesen und Tatsache, von Allgemeinem und Besonderem vonstatten geht. Sinnbildungsprozesse als Vorgänge der Gestaltbildung zu begreifen, in der Weise wie Kassner es tut, impliziert sowohl eine Kritik am Seinsdenken als auch Subjektkritik. Letztere richtet sich nach zwei Seiten: gegen eine Universalisierung der Ansprüche des Subjekts wie gegen dessen Funktionalisierung, wodurch es entweder zum bloßen Funktionär von Strukturen wird oder sich zu Empfindungen verflüchtigt. Das gestalthafte Sinnbilden ist nicht das Ergebnis subjektiver Leistungen, vielmehr erfolgt es in einem Zwischenbereich, der gleichsam transversal zu dem von der ontologischen Differenz eröffneten anzusiedeln ist, und in dem es die Form einer Ontogenese annimmt. Damit geht einher ein Zurücktreten hinter den Gegensatz von Subjekt und Objekt, wodurch sich Ort und Art des Geschehens der Sinnbildung ändert. Der Ort ist nicht ein wie immer geartetes Bewußtsein, dem etwas erscheint, gegeben wird oder das sich etwas vorstellt, sondern eben jener Zwischenbereich, wo sich das Sein der Gestalt und das gestaltende Sinnbilden (als Deuten) begegnen und überkreuzen. Mit dem Begriff der Gestalt wendet sich Kassner gegen eine Verabsolutierung des Seienden einerseits und gegen das Denken der ontologischen Differenz andererseits. In gewisser Weise vermittelt der Begriff der Gestalt beide Positionen, indem Kassner ihn mit dem Sein verknüpft und die Idee visualisiert. Sinnbilden und Sein sind nicht in der Weise einer "Koinzidenz" (VI 460) aufeinander bezogen, sondern sie bilden ein Differenzgeschehen, das in dem genannten Zwischenbereich durch die Einbildungskraft in Gang gehalten wird. Sie macht nun jenes Dazwischen aus, wo Sein und Sinn aufeinandertreffen und sich in einer dynamischen Bewegung zur Gestalt verdichten. Die "Grenze, die Brücke und Passage vom Sein zum Gestalten oder zwischen Bildner und Bild oder Schöpfer und Geschöpf ist [...] die Einbildungskraft", woraus sich die "Sinn- und Inhaltslosigkeit des antiken oder bloßen Seinsbegriffes" ergibt (V 334). Daß die Einbildungskraft sowohl als Grenze als auch als Brücke zwischen Sein und Gestalten wirkt, bedeutet, daß sie weder dem einen oder anderen Bereich zugeschlagen werden kann, noch vermag sie als unabhängig von diesen gedacht zu werden. Als Passage stellt sie die Dimension dar, innerhalb derer die trennend-verbindende Verflechtung statthat. Hinsichtlich der Seinsweise des Menschen besagt das weiterhin: Infolge der Einbildungskraft ist er nur, indem er sich schafft, das sich Bilden zugleich ein solches, das Welt entwirft. Gemeint ist aber weder ein Herstellen, keine idealistische Kreation noch ein bloßes Vorstellen, sondern ein Ordnungsgeschehen, das sich diesseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt abspielt.
Weil das Ordnungsgeschehen der Einbildungskraft sich weder subjektiven Leistungen verdankt, noch objektive Strukturen abbildet, sondern als Grenzbewegung erst Inneres und Äußeres als Selbst- und Weltverständnis differenziert, existiert der Mensch selbst als Grenze. Als solch einen "Menschen der Grenzen" (IV 426) bezeichnet Kassner den Einzelnen.(26)
Damit wird der Ort der Sinnbildung aus einer subjektiven Innensphäre herausgenommen und inmitten des Sichtbaren, in die Welt hinein verlegt. In Rücksicht hierauf bezeichnet Kassner die Sinnbildungsprozesse als ein Deuten. Dem Sachverhalt, daß die gestaltbildenden Prozesse inmitten des Sichtbaren verlaufen, trägt der Ausdruck des `physiognomischen Sehens´ Rechnung, das seinerseits nicht als unabhängig von der Körperlichkeit des Menschen gedacht werden kann. Der Einzelne ist ein Sehender, weil er aufgrund seiner Körperlichkeit sich immer schon mitten im Seienden vorfindet und selbst sichtbar ist. Nur das allgemeine, von seinem Körper isolierte Ich kann das Sein oder das Wesen vom Seienden, von den Erscheinungen trennen. Desgleichen vermag nur ein allgemein gedachtes Subjekt sich zum Herrn und Besitzer der zum Objekt verkürzten Natur erheben.
Wenn Kassner immer wieder unterstreicht, daß der Einzelne "das Sein nur als Bauender oder Sehender [...] gewinnt oder hat" (IV 452), so überkreuzen sich in dieser Verschränkung zwei Bezugsstrukturen: die von Sein und Deutendem und die von Sein und Seiendem, Wesen und Erscheinung. Wie die Deutungsvorgänge nicht mehr als subjektive Intentionen zu begreifen sind, sondern von der Widerständigkeit der Dinge selbst geleitet werden, so liegt auch das Sein den Dingen nicht voraus, sondern umgibt und durchdringt in gewissem Sinn den Deutenden und zwar deshalb, weil seine "Sicht auf das Sein", um mit Merleau-Ponty zu sprechen, "nicht anderswoher entsteht, sondern aus der Mitte des Seins selbst".(27)
Der Umstand nun, daß der Deutende oder der "Anschauende", womit Kassner das Eingelassensein des Menschen ins Sichtbare akzeptiert, das Sein einerseits nur gewinnt und hat über den produktiven Vorgang des Deutens, des physiognomischen Sehens, wodurch die Wirklichkeit erst entsteht, andererseits der Anschauende aber ebenso gleichursprünglich aufgrund seiner Körperlichkeit Teil der Welt ist, führt zu einer Paradoxie, die den Dreh- und Angelpunkt der Kassnerschen Physiognomik darstellt. Gestaltbildend sehend und sichtbar zugleich steht der Mensch den Dingen oder dem Sein nicht gegenüber, so daß er es gleichsam frontal nehmen könnte. Er vermag keinen Beobachterstandpunkt außerhalb zu beziehen, weil er als gestaltbildend "Anschauende[r] teil hat am Ganzen der Welt, indem er im selben Augenblick inner- und außerhalb dieses Ganzen existiert" (III 363).(28)
Mit der Fassung des Menschen als Grenze, da er im selben Augenblick als Konstituierender und Konstituierter existiert, berührt Kassner aber auch jene Paradoxie der menschlichen Subjektivität, von der der späte Husserl handelt und die darin besteht, zugleich "Subjekt für die Welt" und "Objekt in der Welt" zu sein. (29)
Die Gefahr, die in der Paradoxie liegt, daß es zu einer Verdoppelung des Subjekts in ein empirisches und ein transzendentales kommt, wie sie jeder Subjektphilosophie droht, sucht Kassner dadurch zu bannen, daß er die Zweiheit in die Welt hinein verlegt, indem er die Beziehung zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt zu einem "Knoten" schürzt, wo sie in einer Bewegung der wechselseitigen Durchdringung in einen "Wirbel" übergeführt werden (IV 434). Mit den Ausdrücken "Knoten", "Wirbel" will Kassner deutlich machen, daß die Beziehung zwischen dem "weltenschaffende[n], weltenerhaltende[n]" (VI 495) physiognomischen Sehen und dem Gesehehenen, als welches sich der Anschauende als körperlich Sichtbarer genauso wie das Gesehene selbst inmitten des Seienden vorfindet, nicht von anderswoher als innerhalb der paradoxen Struktur zugänglich ist. Im Unterschied zum Beobachter, der sich gleichsam zum Kosmotheoros aufschwingt und das Sein zu überblicken meint, ist der Mensch der Grenze gewissermaßen ein "zweiblättriges Wesen"(30), das sich für Kassner in der "Zwiefältigkeit des `Gesichtes´, als Schauendes und Geschautes" (III 346) manifestiert. Auf der einen Seite ist er Sichtbarer unter Sichtbarem, und auf der anderen Seite läßt er das Sichtbare erst gestaltbildend entstehen.
Dieses ganze Gefüge verdichtet sich nun in dem, was Kassner unter Ideen versteht. Wie dem Menschen der Grenze eignet ihnen ebenfalls so etwas wie eine Zweiblättrigkeit oder Zwiefältigkeit. Zum einen sind sie in das Sichtbare eingewoben und lassen sich nicht isolieren, zum anderen sind sie nicht unabhängig vom Menschen zu denken, insofern dieser sie in seinen Deutungsprozessen erst wahrnehmbar macht. Die Möglichkeit des gestaltbildenden Deutens als ein Ordnungsgeschehen setzt Freiheit voraus, einen Spielraum, in dem etwas als etwas und in seinen Beziehungen zu andrem gesetzt werden kann. Für Kassner ist die menschliche Freiheit nicht mehr hintergehbar oder aus anderem ableitbar. Daher nennt er die Freiheit auch in der ihm eigenen Sprache "die Mutter aller Ideen" (IX 430), weil sie den Spielraum des Deutens erst ermöglicht.
Für den Einzelnen heißt, auf der Grenze zu leben, Sein gibt es nur als Gestalt, und die gestalthaften Sinnbildungsprozesse sind Deutungsvorgänge, die sich vom Sein nicht ablösen lassen. `Grenze´ bezeichnet den Ort des Übergangs, wo sich die Linien kreuzen. Auf sie sind auch die Begriffe Einbildungskraft, Idee und Gestalt bezogen. Aus unterschiedlichen Perspektiven umkreist Kassner mit ihnen das Übergangsgeschehen, in dem sich Sein und Sinn (als Gestalt) begegnen und durchdringen. Der Begriff der Einbildungskraft betont die Seite des Deutens, der der Gestalt die des Gedeuteten, die Idee die Möglichkeit der Gestaltbildung (als menschliche Freiheit). In Rücksicht auf alle drei Aspekte ist die Grenze als Bestimmung des Einzelnen, den "Menschen ohne Eigenschaften" (IV 221), der Ort, an dem das physiognomische Sehen statthat. Als dieses Grenzgeschehen, das der Mensch ohne Eigenschaften selbst ist, wird das Sein der Wirklichkeit als gedeutetes und nur als solches zugänglich. Mit der Fassung des Einzelnen als Grenze unterläuft Kassner sowohl die Position des Idealismus wie die des Realismus als auch und vor allem das Denken der ontologischen Differenz, insofern es das Sein als Nichts faßt. Die Einbildungskraft im Kassnerschen Sinne ist nun das Hauptmerkmal, wodurch sich der Einzelne vom Kollektiv unterscheidet, diese beiden, sich wechselseitig bedingenden Erscheinungsformen des modernen Menschen (X 372).
Damit aber die Einbildungskratt wirksam zu werden vermag und den Menschen in sein Einzelsein bringt, in dem das rechte physiognomische Sehen statthat, muß er einen "Schnitt" (X 713) vollziehen, den Schnitt zwischen sich und dem Kollektiv. Der Einzelne rückt erst in das spannungsvolle Gleichgewicht zwischen Sein und gestalthaftem Bilden infolge des Schnittes. Wesentlich für das Vollführen ist die Möglichkeit der Freiheit. Der Schnitt, der die Trennung des Einzelnen, des Menschen der Grenze und ohne Eigenschaften, vom Kollektiv bewirkt, ist zugleich die Idee, die den Einzelnen hervorbringt. das heißt: die Idee des Einzelnen - in der Spannung zum Kollektiv - gebiert der Schnitt(31):
"Die Idee zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv, das ist gewissermaßen ein Schnitt. Kann dieser anderswo mit Sicherheit geführt werden als in der Freiheit, Welt jener Freiheit, die zugleich Wesen ist und mit dem Sein selbst zusammenfällt? [...] Es ist bloße Spielerei, vom Sein, Sein des Seins zu reden, ohne im Geiste Freiheit dazuzusetzen." (X 713.)
Der hier erneut vorgebrachte Vorbehalt gegenüber dem Heideggerschen Seinsdenken im Zusammenhang mit dem Einzelnen und der Idee der Freiheit, jener "Mutter aller Ideen" (IX 430), läßt das, wovon Kassner sich abzusetzen trachtet, genauer sehen, wenn man sich der im Zuge der Daseinsanalyse in Sein und Zeit von Heidegger vorgenommenen Unterscheidung zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins zuwendet.
Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit bezeichnen zwei Grundmöglichkeiten, wie sich das Dasein zu sich und zur Welt verhalten kann. Heidegger fragt zunächst: "wer ist es, der in der Alltäglichkeit des Daseins ist?" "Das Wer beantwortet sich aus dem ich selbst, dem `Subjekt´, dem `Selbst´."( SZ 114.) Trotzdem ist das Wer des alltäglichen Daseins zunächst und zumeist nicht ich selbst und zwar, weil es mit den unbestimmten Anderen zusammenlebt und wohnt. Hierin gründet der Modus des alltäglichen Selbstseins. Das Subjekt der Alltäglichkeit heißt das Man. Das Wer des alltäglichen Daseins ist das, das gerade nicht als ich selbst, sondern nur als das Man denkt, spricht und handelt. Heidegger charakterisiert es folgendermaßen: "Zunächst ,bin' nicht ,ich' im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir `selbst´ zunächst `gegeben´. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so." (SZ 129.) Das Dasein ist also zunächst und zumeist aufgegangen in der besorgten Welt und verloren in das Man als seine alltägliche und verborgene Seinsart. Sie ist aber nichts anderes als "eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können." (SZ 184.) Deshalb ist das Selbst des alltäglichen Daseins "das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden." (SZ 129.) Das alltägliche Dasein als Miteinandersein in der Welt versteht sich zuvorderst über die Lebens- und Weltanschauung wie Wertvorstellung der Anderen bzw. des Man.
Die Analogie zu Kassners Kollektiv, in dem "jeder das Gesicht des andern trägt" (V 346), ist offenkundig. Heidegger wiederum definiert die Synonymie von Man und Anderen wie folgt: "Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat." (SZ 128.)
Wie ist demgegenüber das modifizierte Ergreifen der Alltäglichkeit möglich? Heidegger führt dazu aus: "Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen, aus dem eigenen Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen." (SZ 268.) Die Wahl des eigentlichen Selbstseins geschieht in der "vorlaufende[n] Entschlossenheit" (SZ 302). In dem "Entschluß" hierzu, wie Heidegger vermerkt, bleibt die "Unentschlossenheit des Man [...] gleichwohl in Herrschaft, nur vermag sie die entschlossene Existenz nicht anzufechten." (SZ 299.)
Der Entschluß zur Eigentlichkeit gleicht jenem Schnitt, den Kassners Einzelner zwischen sich und dem Kollektiv tätigt. Der Entschlossene bleibt auf das Man wie der Einzelne auf das Kollektiv bezogen. (X 372.)
Der entscheidende Unterschied zwischen Heidegger und Kassner liegt aber nun darin, daß der Freiheitsspielraum von Möglichkeiten, in dem das Dasein sein eigenstes Seinkönnen ergreift, vom "Sein zum Tode" (SZ 305) aus gedacht wird. Denn mit dem Tod steht sich das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen bevor. (SZ 263.) Der Tod enthüllt sich so als die "eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit." (SZ 250.) "Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht erst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei." Das Dasein existert in der Freiheit, weil es als wesenhaft endliches Sein zum Tode ist. Das Sein zum Tode wiederum gründet in der Zeitlichkeit des Daseins, die dessen endliches Sein ausmacht.
Indem Heidegger das Sein als Zeit von der Endlichkeit des Daseins her denkt, das sich in der Eigentlichkeit im Vorlaufen in den Tod vor die Möglichkeit seines eigenen Nichtseins bringt, entsteht eine unüberwindliche Differenz zur jeglichen Gestaltbildung, eben jene ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem. An die Stelle einer solchen Differenz, die dem "Menschen bei all seiner Freiheit die Nichtigkeit seines Daseins"(32) offenbart, tritt bei Kassner die "Naht", in der sich das Welt entwerfende Deuten des Einzelnen als ein Schauen, das das Nichts des Todes nicht akzeptiert, bewegt. Dergestalt läuft es "überall in der Spur der Verwandlung. So sind das Schauen [...] und die Verwandlung oder das Schauen und das Sein eines." (IV 239)
Die Zurückweisung des Todes und eines jeglichen Kompromisses mit dem Tod, auch eines der großen Themen Elias Canettis, ist Voraussetzung für die Möglichkeit der Verwandlung. Nur der dem Leben Zugewandte vermag "Hüter der Verwandlung" zu sein. Denn alle "die vom Tode so viel zu wissen vorgeben, blinzeln oder starren von hier nach drüben, voll Angst; aber da ist eben Nichts, nichts zu sehen. Der Schauende schaut immer nur das Leben."(33) Um sich in der Spur der Verwandlung zu halten, bedarf es der Bereitschaft zur Unterbrechung vorgegebener Seinssetzungen, von Habitualitäten, die die Figur einer beständigen Umkehr erzeugt. "Umkehr heißt zuletzt und zutiefst, daß wir die Welt auf keiner Identität aufbauen, ob wir die Identität nun Wille, Gott, Ding an sich, Dauer, Urzelle oder sonstwie nennen. Umkehr ist somit der Mittelpunkt einer unendlichen Welt, einer bewegten Welt." (III 351.) Als Umkehrender ist der Mensch der Mittelpunkt der Welt, "aber", um mit Canettis Wort aus der Provinz des Menschen fortzufahren, "eben jeder."
© Hartmut Cellbrot (Opava)
Anmerkungen
(1) Bereits die Überschrift des Einleitungskapitels zu Zahl und Gesicht macht diesen Anspruch deutlich; sie lautet: "Der Umriß einer universalen Physiognomik". Rudolf Kassner: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Rudolf Kassner Gesellschaft hrsg. von Ernst Zinn und Klaus E. Bohnenkamp. Bd. III. Pfullingen 1976, S. 187. Zitatbelege nach dieser Ausgabe mit Band- und Seitenangabe künftig im Text.
(2) Kassner hebt den Einzelnen vom Individualisten ab, indem er ihn zusammen mit dem Kollektiv denkt. Er notiert: "Es ist festzustellen, daß der Mensch im 20. Jahrhundert nicht mehr Individualist, das heißt im besonderen Fall: nicht mehr auf Fülle der Erlebnisse aus ist, daß aus dem Individualisten das geworden ist, was ich [...] den Einzelnen nenne, und zwar den Einzelnen mit dessen Beziehung zum Kollektiv" (VIII 51). Mit dem Individualismus im 19. Jahrhundert ist für Kassner die "Geschichtsidee Hegels" und die daraus folgende "Idee der Entwicklung" verknüpft, welche dem Einzelnen ganz abgeht (X 369).
(3) Vgl. X 216 und 373.
(4) Es ist bezeichnend, wie Kassner den Begriff des Nihilismus aufnimmt und zugleich umkehrt, indem für ihn im Prinzip der Negation noch eine Ideation durchscheint.
(5) Martin Heidegger: Holzwege. Frankfurt a. M. 1972, S. 344f.
(6) Vgl. Martin Heidegger: Nietzsches Wort "Gott ist tot". In. Ders.: Holzwege. Frankfurt a. M. 1972, S. 200.
(7) Einen Selbstkommentar zur "Kehre" gibt Heidegger im 1949 verfaßten Brief "Über den Humanismus". Frankfurt a. M. 1975, S. 17.
(8) Das "Ereignis" des Seins schreibt Heidegger später häufiger als "Seyn", um es vom "Sein" der traditionellen Ontologie abzugrenzen, aber auch, um auf den Blickwechsel gegenüber der fundamentalontologischen Sichtweise von "Sein und Zeit" aufmerksam zu machen. Vgl. hierzu den Abschnitt "Da-sein und Seinsentwurf" in: Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Hrsg. von Friedrich Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1989 (= Gesamtausgabe Bd. 65).
(9) Heidegger: Nietzsche (Anm. 6), S. 193.
(10) Vgl. Heidegger: Über den Humanismus (Anm. 7), S. 17.
(11) "L´existentialisme est un humanisme". Erschien 1946 in Paris, die deutsche Übersetzung mit dem zur Frage veränderten Titel "Ist der Existentialismus ein Humanismus?" 1947 in Zürich.
(12) Jean Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: Ders.: Drei Essays. Frankfurt a. M. 1981, S.11. Sartre erläutert diese Leitformel in dem folgenden Satz: "Es bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert."
(13) Ebenda, S. 25.
(14) Ebenda, S.16.
(15) Ebenda, S. 27.
(16) A. Cl. Kensik: Narziss. Im Gespräch mit Rudolf Kassner. Zürich 1985, S. 197. Zit. in: IX 984.
(17) Heidegger: Holzwege (Anm. 5), S. 189.
(18) Martin Heidegger: Sein und Zeit. 13. unveränd Aufl., Tübingen 1976, S. 12. Zitatbelege künftig im Text als SZ mit Seitenzahl.
(19) Die Überschrift des Einleitungskapitels von Sein und Zeit lautet bekanntermaßen: "Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein".
(20) Martin Heidegger: Vier Seminare. Frankfurt a. M. 1977, S. 82f.
(21) Ebd., S. 84f.
(22) Heidegger: Holzwege (Anm. 6), S. 246.
(23) Ebd., S. 104.
(24) A. Cl. Kensik: Aus den Gesprächen mit Rudolf Kassner. In: Rudolf Kassner zum achtzigsten Geburtstag. Gedenkbuch. Hrsg. von A. Cl. Kensik und D. Bodmer. 1953, S. 198.
(25) Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a. M. 1987, S. 218. Der Ausdruck ontologisches Relief, den Waldenfels zur generellen Deutung des Gestalthaften verwendet, läßt sich auch dahingehend auf das Gestalthafte bei Kassner beziehen, daß es weder in subjektiven Intentionen noch objektiven Strukturen aufgeht.
(26) Zum Einzelnen als dem Menschen der Grenze vgl. besonders Das Ebenbild und der Einzelne (IV 448- 480). Vom Menschen der Grenzen lassen sich Linien zu Musils Mann ohne Eigenschaften ziehen, insofern ihm, wie Kassner vermerkt, "nichts so schwer [fällt] wie Besitz. Er besitzt nicht einmal, möchte man sagen, seine Eigenschaften" (IV 419).
(27) Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare Gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort von Claude Lefort. Aus dem Franz. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1994, S. 153.
(28) Im Gegensatz zum Anschauenden steht der Beobachter: "Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß der Anschauende innerhalb der Welt, die er sieht, verharrt [...], während der Beobachter aus ihr heraustritt an deren Rand" (VI 456).
(29) Edmund Husserl: Gesammelte Werke (= Husserliana). Auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Leuven) in Verbindung mit Rudolf Boehm unter Leitung von Samuel Ijsseling. Den Haag 1950ff. Bd. VI. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter Biemel. 1954, § 53.
(30) Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. (Anm. 27), S. 180.
(31) Das Charakteristikum des Kollektivmenschen liegt für Kassner bezeichnenderweise darin, daß er auf das "Utopische" ausgerichtet ist. Es ist "die eine Idee des Menschen der Menge, das eine Gesicht, das er zu sehen weiß" (V 347). Damit wohnt dem Schnitt ein temporales Moment inne. Ähnlich wie bei Heideggers Gegensatzpaar von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, wenn auch unter gegensätzlichen Vorzeichen, wird der Unterschied zwischen Einzelnem und Kollektivmenschen wesentlich durch die jeweiligen Verhaltensweisen des Menschen zur eigenen Zeitlichkeit bestimmt.
(32) Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a. M. 1973, S. 263.
(33) Kensik: Gespräche (Anm. 16), S. 205.
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