Hartmut Krones (Wien)
Wir wollen unser Thema, dessen voller Titel "Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft unter dem Aspekt des Sprachbegriffs" lauten sollte, mit zwei Zitaten aus dem 17. und frühen 19. Jahrhundert eröffnen, zwei Zitaten, die vieles von dem in der Folge Darzulegenden bereits vorwegnehmen. Das erste Zitat stammt von Johann Sebastian Bachs erstem Biographen Johann Nicolaus Forkel und wurde im Rahmen von dessen Lebensbeschreibung im Jahre 1802 publiziert:
Er [also Bach] sah die Musik völlig als eine Sprache, und den Componisten als einen Dichter an, dem es, er dichte in welcher Sprache er wolle, nie an hinlänglichen Ausdrücken zur Darstellung seiner Gefühle fehlen dürfe.(1)
Das zweite Zitat ist Johann Matthäus Meyfarts 1634 erschienenem Werk "Teutsche Rhetorica oder Redekunst" entnommen und lautet folgendermaßen:
Eine künstliche Rede ist eine heimliche Harmoney oder Musica [ ] es ist eine unglaubliche Zierde, Lust, Frewde, Wonne, und Dapfferkeit, wenn der Redener sich kan von unten auff in die Septimam schwingen, oder die Sextam, wie die Musicanten reden [ ].(2)
Diese beiden Zitate zeigen uns zweierlei:
1.) ein terminologisches Dilemma jenes, das letzten Endes auch die Modifizierung meines Themas notwendig machte und
2.) die grundlegende Sicht einer engen Verwandtschaft von Musik und Sprache, wie sie sich insbesondere Künstlern und Theoretikern beider Sparten in vergangenen Jahrhunderten darstellte und von diesen auch in Schriften sonder Zahl dargelegt wurde.
Zu ersterem: Wenn wir von "Sprache" sprechen, so meinen wir zunächst keineswegs eine Kunstäußerung, sondern eher das uns auf Schritt und Tritt begegnende Alltagsereignis "Sprache". Erst auf einer höheren Ebene, der einer ästhetischen Äußerung mit gesellschaftlicher Kommunikations-Intention, wird Sprache zur Literatur, zum Kunstwerk. Demgegenüber ist die Vokabel "Musik" bereits in den meisten Fällen auf dieser höheren (Kunst-)Ebene angesiedelt, da ihr das Alltägliche, lediglich Umgangsmäßige der Produktion zumeist fehlt. Damit sei nicht unterschätzt, daß insbesondere die moderne Musikdidaktik sehr wohl oft auch dann von "Musik" spricht, wenn es sich nach dem Verständnis der Kunstmusik-Ästhetik lediglich um Klänge oder Geräusche handelt, also um Ereignisse, die von der systematischen Musikwissenschaft primär unter physikalisch-akustischen Gesichtspunkten erfaßt werden. Wenn solche Äußerungen aber durch beigemischte Gefühle, Emotionen u. Ä. zur Mitteilung werden, so kann sehr wohl eine Art von "Sprache" entstehen, die den Linguisten interessiert im Falle künstlerisch geordneter Zusammenstellungen solcher lautlichen Ereignisse in der Art des Dadaismus eines Raoul Hausmann oder Kurt Schwitters wird das Ergebnis sogar für den Literaturwissenschafter und/oder Musikwissenschafter interessant.
"Musik" bezeichnet also zumeist nach ästhetischen Prämissen gefügte "Werke" mit jenem emphatischen Kunstbegriff, der bei unserer zweiten Disziplin lediglich dem Begriff "Literatur" zukommt. Wie aber die "Literatur" aus Sprache besteht, so besteht auch die Musik aus "Sprache", nämlich aus "Musiksprache", aus einem Vokabular, das autonom musikalisch im zeitlichen Verlauf oft semantisch neutral zu sein scheint, in Wirklichkeit aber nahezu immer sprachlich im Sinne von semantisch aufgeladen erscheint und solcherart Mitteilungsfunktion besitzt. Zudem liegen auch im "sprachlichen Duktus" des Musikablaufs viele Konnotationen verborgen, die vom Komponisten zum Teil bewußt eingebaut und angesprochen wurden, zum Teil auch nur (primär) vom Rezipienten erfahren und gedeutet werden. Hier sind wie ja auch in der Literaturwissenschaft der Symbolforscher einerseits, der Hermeneut andererseits angesprochen. Und beides gilt auch für eine rational wirkende Symbolsetzung durch den Komponisten oder den Dichter.
Hier gibt es weitere Parallelen. Welche Bedeutung besitzt wann und wo ein Wort, ein musikalisches Motiv, ein Symbol; mit welcher Intention und mit welchem Bedeutungsfeld verwendet es der Komponist, der Dichter? Soll man dieser Intention überhaupt nachspüren oder ist die Rezeptionshaltung, der hermeneutische Zirkel oder Ähnliches wichtiger? Verfälschen wir ein Werk, wenn wir es nicht im Sinne des Dichters, des Komponisten realisieren? (Hier schaltet sich bekanntlich bei der Musik in viel höherem Maße die Kategorie des Interpreten zwischen Werk und Rezipienten!)
Ein Beispiel, wie sehr das adäquate Verstehen von einzelnen Worten zu Fehlinterpretationen führen kann; ganz zu schweigen von der Frage, wie weit der Musiker bzw. Hörer oder Musik-Leser (auch den gibt es, allerdings ist er bereits ein Kenner!) im Falle von Vokalmusik den "Text" im literaturwissenschaftlich relevanten Sinne verstehen können soll. Unser Beispiel:
Die Bedeutung des Wortes "ziemlich" ist heute eine gänzlich andere als im frühen 19. Jahrhundert. Damals bedeutete es soviel wie "geziemend"(3), heute stellt es eine Art Steigerungshinweis dar. Dementsprechend spielen die meisten Musiker Werke, die Schubert mit "ziemlich langsam" bezeichnet hat, langsamer als langsam, während Schubert jene "ziemlich langsamen" Werke, die er metronomisierte, wesentlich schneller als "langsam" gespielt haben wollte, eben nur "geziemend langsam" bzw. "etwas langsam" ("langsam" bezeichnete er mit Metronomzahlen von 50-54, "ziemlich langsam" mit 63-66). Und dasselbe gilt für "schnell" bzw. "ziemlich schnell",(4) was eben auch nur "etwas schnell" bedeutete.
Ein erstes Fazit nach diesem Exkurs: Musikwissenschaft ist von ihrem Forschungsverständnis inhaltlich soviel wie Sprachwissenschaft plus Literaturwissenschaft, wenngleich die beiden Großfelder bei unseren beiden Disziplinen keineswegs deckungsgleich erscheinen. Das Dilemma, ein fruchtbares allerdings, vergrößert sich bei Zwischen- und Koppelformen, womit wir bei unserem zweiten Punkt von vorhin angelangt sind dem der engen Verwandtschaft der beiden Disziplinen, insbesondere in speziellen Gattungen aus der Musik- und/oder Literaturgeschichte (hier ist Musikgeschichte als Analogon zur Literaturgeschichte zu verstehen, also im Sinne der Geschichte von mit ästhetischen Implikationen gefügten Zeugnissen und Erzeugnissen).
Musik und Sprache (und somit Dichtung) wurden bekanntlich bereits in der griechischen Antike als verwandte Künste und als auf einer gemeinsamen ästhetischen Basis stehend angesehen. In ihrer Koppelung manifestierte sich zudem die höchste Stufe menschlicher Kunstäußerung: In den homerischen Epen, die zudem in "Gesänge" gegliedert sind, wird berichtet, daß der Sänger die in Hexametern gehaltenen Heldenerzählungen gleichsam metrisch musikalisiert (in singendem Tonfall, mit "musikalischem" Tonhöhenakzent versehen) und mit einer Phorminx begleitet vortrage, und aus diesen und ähnlichen Zeugnissen können durchaus Rückschlüsse auf die Ausführung der Epen gezogen werden. Zudem erscheint der Dichter-Sänger in diesen immer als höchste Autorität, als gleichsam gottähnlicher Künstler (der dementsprechend oft den Beinamen "der Göttliche" trägt). Und seine nahezu göttliche Sendung spiegelt sich nicht zuletzt in seiner Aufgabe wider, die Menschen zu Ethik, Moral und Götterfurcht anzuhalten (Plutarch, Peri Mousikés, 26). Die Musik wurde solcherart zu einer speziellen "Sprache" und hatte sogar staatspolitsche und pädagogische Aufgaben zu erfüllen. Während Platon dabei noch in erster Linie den alten "Musik"-Begriff der "mousiké" als "Musenkunst" (die Musik mit Dichtung und Tanz vereinigt) im Sinne hat, denkt Aristoteles bereits an die Musik im engeren Sinne und erkennt sowohl die Kitharistik als auch (mit Einschränkungen) die Auletik an.
Musikalische Kenntnisse bzw. das Wissen um die musikalischen Qualitäten der Sprache galten dann auch den römischen Rhetoren als günstig und wünschenswert, um die Effektivität ihrer Reden zu steigern, was u. a. Cicero (anschließend an Isokrates 13, 16: De oratore 3, 44, 173) oder Quintilianus (I, 10, 9-33) deutlich unterstreichen. Letzterer kam sogar zu dem Schluß, daß die Rede so wie der Gesang Wortfügung und Ton ("compositio et sonus") gemäß dem Inhalt und Affekt der Aussage zu wählen habe.
Auch im Mittelalter war man weitgehend davon überzeugt, daß die Musik "Sprache" sei und sowohl Mitteilungs- als auch "Wirkungs"-Funktionen besitze. Zu dieser Meinung trugen einerseits die durch Boethius vermittelte Rezeption antiker Autoren, insbesondere von Platon und Aristoteles, sowie die partielle Kenntnis des Platonschen "Timaios" in der lateinischen Übersetzung und Kommentierung (kurz nach 400) durch Calcidius bei, und auch die Andachtshaltung des gregorianischen, weitgehend deklamatorisch ausgeführten Kirchengesanges verstärkte diese Meinung.
Die Überzeugung, daß die Musik eine "Sprache" sei, blieb auch im Mittelalter erhalten. Im Jahre 1325 z. B. veröffentlichte Marchettus von Padua, eine der wichtigsten Musikerpersönlichkeiten des italienischen Trecento, sein theoretisches Hauptwerk, das "Pomerium in arte musicae mensuratae", und in diesem verglich er die "colores ad pulchritudinem consonantiarum" in der Musik mit den "colores rhetorici ad pulchritudinem sententiarum" in der Grammatik(5); die Farbwirkungen der Zusammenklänge glichen seiner Meinung nach den rhetorischen Mitteln, die den Schönheiten der Sprache gewidmet seien. Und um den jeweiligen Textausdruck (in der Vokalmusik) adäquat zu erreichen, dürfe man sich sogar "falscher" Wendungen bedienen. Ein halbes Jahrhundert später forderte Heinrich Eger von Kalkar: "Ornatus habet musica proprios sicut rhetorica"(6) die Musik hätte also wie die Rhetorik ganz spezifische Mittel für den "Schmuck" (der "musikalischen Rede").
Die beiden genannten Autoren sprechen damit als erste ganz deutlich aus, was seit den Anfängen der abendländischen Musikentwicklung, aber auch schon in der antiken Musiktheorie, für alle offenkundig war und nie angezweifelt wurde: daß die Musik als "Sprache", die sie sei, rhetorischen Gesetzen zu gehorchen habe, desgleichen aber auch dieselben Hilfsmittel wie die (sprachliche) Rhetorik einsetzen könne. Bereits die Notation hatte ihren Ausgang bei Rhetorik und Prosodie genommen die Neumen waren Weiterentwicklungen der spätantiken prosodischen Zeichen sowie der ekphonetischen Notation. Schließlich fußte ja auch die gesamte spätmittelalterliche Modalrhythmik auf einer versmaßadäquaten Setzung von Längen und Kürzen und entwickelte aus den sechs Grund-Versarten Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst, Spondeus und Tribrachys sechs "modi", deren Bewegungen vielen Musiker-Generationen ihre rhythmischen Möglichkeiten gaben.
Im weiteren Verlauf der Musikgeschichte verfestigte sich nun das allgemeine Bewußtsein von einer tiefgehenden Verwandtschaft der Musik mit der Rhetorik, und diese Verwandtschaft drückte sich immer deutlicher auf jenen drei Ebenen aus, die bereits in den zitierten frühen Zeugnissen angesprochen erschienen womit wir bei unserem Hauptkapitel sind: der Notwendigkeit für den Musiker und Musikwissenschafter, auf einem Spezialgebiet der Literaturwissenschaft, nämlich der Rhetorik, Spezialkenntnisse zu besitzen, um die Musik des 14. - 19. Jahrhunderts adäquat verstehen zu können.
Zur ersten Ebene der musikalischen Rhetorik:
1)
Zunächst einmal wurden "rhetorische" Mittel zur Verdeutlichung des
"Inhalts" herangezogen; dies nicht zuletzt wegen der anzustrebenden
"Wirkung" der Musik, die schon in der Antike ethischen Maßstäben verpflichtet
war und noch in der Neuzeit die Aufgabe einer "Besserung" der Menschen besaß,
wie z. B. Agrippa von Nettesheim in seiner Schrift "De vanitate et incertitudine
scientiarum" (Köln 1532) betonte.(7) Monteverdi z. B.
forderte seinen Textdichter Alessandro Striggio in einem Brief sogar dezidiert auf, ihm
eine Poesie zu liefern, mit der er die Leidenschaft der Hörer bewegen könne(8) die Lehre, wie dies zu geschehen habe, war die
"Affektenlehre".
Wie schon der eingangs zitierte Marchettus von Padua meinte, konnten zur Textverdeutlichung auch "Fehler" eingesetzt werden: Ergebnis war ein "cantus irregularis", wie ihn Gobelinus Persona 1417 in seinem "Tractatus musicae scientiae"(9) erlaubte; und schließlich wendete Johannes Tinctoris 1477 in seinem "Liber de arte contrapuncti" für solche Lizenzen in Anlehnung an die "Institutionis oratoriae libri" des Marcus Fabius Quintilianus den Begriff "figura"(10) an. Damit ist die "Grundlageneinheit von Musik und Rhetorik"(11) endgültig in das Bewußtsein der Musiktheorie getreten und wird nun von nahezu allen Autoren betont Joachim Burmeister ist es dann, der in seinen Schriften "Hypomnematum Musicae Poeticae" (Rostock 1599) und "Musica Poetica" (Rostock 1606) eine erste große Zusammenfassung von Kompositionslehre (die "Musica Poetica" hieß, weil man Komposition und Poetik auf der Basis von ähnlichen Regeln lehrte) und Figurenlehre vorlegte.
In Burmeisters Gefolge entstanden nun bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zahlreiche Lehrbücher, die die "musikalisch-rhetorischen" Figuren erklärten, systematisierten und inhaltlich entschlüsselten, und allgemein herrschte die Meinung vor, man könne ein Musikwerk gar nicht verstehen, geschweige denn vernünftig interpretieren, wenn man nicht auf Grund der Figurenlehre dessen "gantze Meinung"(12) kenne, also mit Hilfe der Figuren (und sonstiger textverdeutlichender Mittel) inhaltlich enträtsele. Ja, man greife ein Werk ohne diese Kenntnis gleichsam "mit ungewaschenen Händen und fast vergeblich"(13) an, wie es Johann Mattheson so schön formulierte; und dies galt gleichermaßen für Vokal- und Instrumentalmusik. Mattheson prägte für letztere sogar den Begriff "Klangrede"(14), die man ebenso "verstehen" müsse wie eine echte Rede oder wie die Vokalmusik. Noch Friedrich August Kanne, Freund Ludwig van Beethovens und in den frühen zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts Herausgeber der Wiener "Allgemeinen Musikalischen Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat", bediente sich im Jahre 1821 in der Artikelserie "Versuch einer Analyse der Mozartischen Clavierwerke mit einigen Bemerkungen über den Vortrag derselben"(15) weitgehend des Vokabulars der rhetorischen Figuren, um Mozarts Kompositionen inhaltlich zu entschlüsseln und die Interpreten zu ermahnen, diese in ihren Realisationen nachzuvollziehen.
Daß die Komponisten in ihre Werke solche "Inhalte" legten, ist ebenfalls verbürgt. Einerseits waren die zitierten "Theoretiker" selbst höchstrangige Schöpfer (man denke nur an Mattheson, Leopold Mozart oder Carl Philipp Emanuel Bach, der für Joseph Haydn oder Ludwig van Beethoven auch als Komponist das große Vorbild war), andererseits besitzen wir von vielen Meistern unmißverständliche Hinweise, wie sehr sie auch in ihrer Instrumentalmusik "inhaltsbezogen" arbeiteten und sich dabei des üblichen semantischen Vokabulars (u. a. eben der musikalisch-rhetorischen Figuren) bedienten. Joseph Haydn unterlegte vielen Werken sogar "eine Art Roman oder Programm" und bezog die Ausarbeitung der "Gedanken und Schattierungen"(16) auf dieses, wie sein Biograph Giuseppe Antonio Carpani auf Grund von "Interviews" des Komponisten berichtete. Ludwig van Beethoven beschrieb in seiner e-Moll-Sonate, op. 90, sogar die Liebesgeschichte des Grafen Lichnowsky in allen Einzelheiten, wie er selbst dem Aristokraten verriet(17); zudem frug er bei einem Besteller einer Klaviersonate an, ob er in dem Werk lieber "das Selbstgespräch eines geflüchteten Königs oder den Meineid eines Usurpators oder das Nebeneinanderwohnen zweier Freunde, welche sich nie sehen", "besungen"(18) (in Klaviermusik!!) haben wolle. Erst einem Eduard Hanslick blieb es vorbehalten, Musik als rein musikalische Sprache anzusehen.(19)
2)
Die zweite Ebene, auf der sich die Sinneinheit von Musik und Rhetorik konstituierte, war
die "sprachlich-grammatikalische", der wir schon bei der Gleichsetzung von
Versdeklamation und musikalischem "Sprechen" begegnet sind. Sie prägt sich
einerseits in Formen wie dem Rezitativ aus, das ja eine Mittelstellung zwischen Singen und
Sprechen einnahm und gar nicht wirklich "gesungen" (im heutigen Sinne) werden
sollte, sie schlug sich in einer "musikalischen Deklamation" nieder, die
taktfrei oder doch zumindest nicht genau nach dem Takt zu erfolgen hatte, sie führte aber
auch zu jenem kleingliedrigen "sprechenden" Artikulieren, durch welches sich das
Interpretieren von älterer Musik (einschließlich "Wiener Klassik") von
spätromantischem "Dauer-Legato" unterscheiden muß. Noch für Ludwig van
Beethoven bezeichnete sein erster Biograph Anton Schindler "das rhetorische
Prinzip" als "Grundwesen aller seiner Musik" und deren deklamatorische
Ausführung als die allein richtige und mögliche, und er hob die "rhetorische
Pause" als einen der wichtigsten Bestandteile der "Beethovenschen
Redekunst am Pianoforte" hervor. Beethoven selber forderte ja laut Schindler von den
Interpreten seiner Instrumentalmusik, den Linien einen adäquaten Text zu unterlegen und
sie zu singen, um die erforderliche "Einsicht in den Sinn" dieser Stellen zu
erlangen erst dann dürften sie gespielt werden.(20)
Und wenn man Leopold Mozarts Violinschule nach ihren Artikulationsvorschriften untersucht,
so ergibt sich dasselbe Bild: kleingliedriges "sprechendes" Artikulieren ist
gefordert, kein "Dauer-Legato" wie im sogenannten "Wiener Mozartstil",
der nichts mit Mozart zu tun und Wien auch erst im späten 19. oder frühen 20.
Jahrhundert kennengelernt hat(21) (ein Wiener Musiker des 18.
Jahrhunderts wäre nachgerade entsetzt gewesen!). Im übrigen forderte Carl Czerny noch
1842, daß man Beethoven "sehr sprechend"(22)
interpretieren müsse.
"Sprachlich-grammatikalisch" wurde im übrigen auch die Kleinstruktur der Phrasen gesehen. Schon Johann Sebastian Bach hat laut seinem Biographen Johann Nicolaus Forkel so komponiert, daß "jedes Stück unter seiner Hand gleichsam wie eine Rede sprach", weil er "seine Stimmen gleichsam als Personen ansah, die sich wie eine geschlossene Gesellschaft mit einander unterredeten".(23) Die gesamte Lehre vom "Satz" (Vordersatz, Nachsatz etc.) und von der Periodologie basiert auf diesem Wissen, dessen theoretischer Unterbau wieder aus Rhetorik und Prosodie stammt "denn jedes gute Tonstück ist ein Gedicht"(24) und muß daher im Sinne eines solchen komponiert, interpretiert und artikuliert werden.
3)
Die dritte Ebene der Verwandtschaft zwischen Rhetorik und Musik ist die großformale, die
sich auch auf die Gattungssicht niederschlug. Bereits Gallus Dressler sah in seinen
"Praecepta musicae poeticae" (Magdeburg 1563) die Abschnitte
"exordium", "medium" und "finis" als "Teile der
musikalischen Rede"(25), und Joachim Burmeister wies
1606 nach, daß Komponisten des 16. Jahrhunderts bei der "dispositio" der Form
tatsächlich "rhetorisch"(26) verfuhren. Johann
Mattheson war es wieder, der diese Sicht besonders schön zusammenfaßte: "Unsre
musicalische Disposition ist von der rhetorischen Einrichtung einer blossen Rede nur
allein in dem Vorwurff, Gegenstande oder Objecto unterschieden"; sie bestehe daher
wie bei einer Rede aus "Eingang, Bericht, Antrag, Bekräfftigung, Widerlegung und
Schluß", also aus "Exordium, Narratio, Propositio, Confirmatio, Confutatio
& Peroratio."(27) Welcher heutige Musiker, der
Barockmusik spielt, ist sich dessen bewußt und interpretiert die Musik in diesem Sinne?
Rhetorische Ausrichtung und Disposition haben aber auch alle Formen und Gattungen, die sich im späteren 18. Jahrhundert entwickelten, geprägt. Eine Sonate war laut Christian Friedrich Daniel Schubart "musicalische Conversation, oder Nachäffung des Menschengesprächs"(28), ein Konzert laut Heinrich Christoph Koch eine "leidenschaftliche Unterhaltung des Concertspielers mit dem ihn begleitenden Orchester; diesem theilt der Concertspieler gleichsam seine Empfindungen mit; dieses winkt ihm durch kurze eingestreute Nachahmungen bald seinen Beyfall zu, bald bejahet es seinen Ausdruck [...]. Kurz, das Concert hat viele Aehnlichkeit mit der Tragödie der Alten, wo der Schauspieler seine Empfindungen nicht gegen das Parterre, sondern gegen den Chor äußerte [ ]".(29)
Auch die Sonatenhauptsatzform war rhetorischen Ursprungs. Sie wurde noch von Anton Reicha (Paris 1824) bzw. seinem Übersetzer Carl Czerny (Wien 1832) als Darstellung eines Dramas gesehen, das ein Grundthema (im Sinne eines inhaltlichen Sujets, als "Thema" im umgangssprachlichen Sinne wie ein Aufsatzthema) abwandelte, also als "Thema der musikalischen Rede" behandelte; der 1. Teil war hier die "Exposition der Vorgeschichte", im 2. Teil (später "Durchführung" plus "Reprise") ereigneten sich gemäß der Dramentheorie die "Schürzung des Knotens" (die "Intrige") und seine "Auflösung".(30) Und dieses eine Thema erhielt nun "passende Nebensätze", durchlief Argumentationen, Beweisführungen, "Erregungen von Gefühlswirkungen" und "Überredungen", immer aber blieb seine Grundsubstanz dieselbe auch eine eventuelle "Widerlegung" bediente sich dieser, sodaß letzten Endes die gesamte motivische Arbeit auf demselben Material basierte; ein wirklich selbständiges "Seitenthema" war nicht vorgesehen, sondern konnte höchstens aus einer besonders krassen "Widerlegung" (rhetorisch: refutatio) entstehen, ohne den Motivzusammenhang aufzugeben. Und wieviel Zeit wurde schon vertan, um in älteren Sonatenhauptsätzen "Seitenthemen" zu suchen! Und wenn dann wirklich kein motivisches Gebilde zu einem solchen hochstilisiert werden kann, spricht man fast verschämt von "Themenverwandtschaft" oder gar von "noch nicht voll entwickelter Sonatenform". Was hier nicht voll entwickelt ist, ist das historische Bewußtsein der Betrachter, die Musik des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts mit Augen und unter Prämissen des 20. Jahrhunderts ansehen und insbesondere die rhetorische Fundierung der Musik jener Zeiten nicht bedenken.
Sie alle wissen nun, daß auch Instrumentalmusik als "sprechend" empfunden wurde und Programme, Affekte, Charaktere oder Botschaften zu transportieren hatte, damit die Werke "immer etwas sagen und auch ohne Worte sprechen"(31). Wenn nun ein Werk wie die "Hipocondrie" des böhmisch-deutschen Barockkomponisten Jan Dismas Zelenka, eines in Dresden wirkenden Zeitgenossen von Johann Sebastian Bach, einen so schönen, inhaltsbezogenen Titel besitzt, so ist diese Komposition ganz sicher "erzählend" in besten rhetorischem, also sprachlichem Sinne und besitzt wohl auch eine Struktur, die kaum ausschließlich auf der Basis von "autonom"-musikalischen Gestaltungsmodellen (z. B. der sogenannten "Ritornellform") in einen befriedigenden Griff zu bekommen ist.
Bei genauerer Analyse der "Hipocondrie" stellt sich nun heraus, daß Zelenka hier jener "rhetorischen", die Gerichtsrede in ihrer Abfolge nachahmenden Form huldigt, die z. B. Johann Mattheson als nahezu verbindlich für die Erfindung einer Melodie angesehen hat(32) wir erkennen im Hauptteil genau jene von Mattheson genannten Teile Exordium (T. 25-33), Narratio (T. 34-47), Propositio (T. 48-62), Confutatio (T. 63-175) und Confirmatio (T. 175-210), ehe das abschließende "Lentement" die Conclusio bringt. Die Confutatio, wie immer der längste Teil der Rede, da hier ja die Streitgespräche und Argumentationen stattfinden, setzt dem Hauptthema als erste Widerlegung das ihm entnommene chromatisch hochstrebende Trillermotiv entgegen und vermehrt es um Seufzerketten; als zweites "Gegenargument" erklingt ein synkopisches Motiv (T. 69), das ebenfalls in den Seufzer mündet, dann übernimmt wieder der Hauptthemenkomplex die Führung, ehe die "Gegenargumente" erneut auftreten. Schließlich intonieren alle Instrumente ganz energisch einen akkordischen Komplex, gleichsam als ob sie "jetzt ist Schluß" sagen würden. Als Schein-Confirmatio erklingt sodann der wörtliche Hauptsatz (T. 126), doch noch einmal taucht ein Gegenargument, diesmal dem synkopierten Motiv entnommen, auf, ehe sich in einer letzten Auseinandersetzung das Thema durchsetzt und die tatsächliche Confirmatio (T. 175) gestaltet.
Nachdem eine "Hipocondrie" laut zeitgenössischen Erklärungen(33) notwendigerweise Launen, "Grillen", aber auch verschiedenste Stimmungen der Unlust darzustellen hat, kann die Abfolge des Werkes nach der dargelegten Analyse leicht inhaltlich erklärt werden. Es handelt sich gleichsam um einen Disput zwischen optimistisch-positiven und negativen "Argumenten" bzw. auch Stimmungen, nach welchem das abschließende "Lentement" durch seine Passus duriusculi (harte, also dissonante Schritte) und Katachresen(34) ("mißbräuchlich eingesetzte Akkorde") den Sieg der Hipocondrie und damit des negativen Potentials bestätigt. Deutlicher als durch dieses Werk kann Zelenkas Naheverhältnis zur musikalischen Rhetorik (und zwar auf allen drei Ebenen) wohl kaum mehr dokumentiert werden. Und dasselbe gilt, wie Elmar Budde so schön herausgearbeitet hat,(35) u. a. auch für Johann Sebastian Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 3, das sich ebenfalls des von Mattheson beschriebenen Formmodells der Gerichtsrede bedient und aus ihm innere Dramatik und strukturelle Stringenz bezieht.
Johann Sebastian Bach ging in seinem "Musikalischen Opfer", BWV 1079, sogar noch einen Schritt weiter diese Erkenntnis verdanken wir Warren Kirkendale:(36) Die Abfolge der Sätze ist ein hochstilisiertes Gebäude aus Bausteinen rhetorischer Grundmuster und Implikationen, wie hier nicht näher erläutert werden kann Sie sehen im folgenden das Grundschema. Ohne Beschlagenheit auf diesem speziellen Gebiet der Musik- und der Literaturwissenschaft, eben der musikalischen bzw. sprachlichen Rhetorik, würde Bachs summum opus nicht in seiner wahren Funktion, Struktur und Semantik erkannt werden.
Quintilian | Bach | ||||
Exordium I (Principium) | Ricercar a 3 | ||||
Narratio brevis | Canon perpetuus super thema regium | ||||
Narratio longa | Thematis regii elaborationes canonicae: | ||||
[5] Canones diversi super thema regium | |||||
Egressus | Fuga canonica | ||||
Exordium II (Insinuatio) | Ricercar a 6 | ||||
Argumentatio (Quaestiones): | [2 Rätselkanons] | Quaerendo invenietis: | |||
Probatio | Canon a 2 | ||||
Refutatio | Canon a 4 | ||||
Peroratio in adfectibus | Sonata sopril sogetto reale (Fl., V., B.c.) | ||||
Peroratio in rebus | Canon perpetuus (Fl., V., B.c.) |
Es gäbe noch vieles zu unserem Thema zu sagen wir haben ja auch nur einige Aspekte herausgegriffen: Die Rückbesinnung auf die abgebrochene Tradition der Rhetorik geht im übrigen auch in der Literaturwissenschaft vonstatten, wo man Texte wieder in ihrer Funktion als Verständigungsmittel untersucht und zum rhetorischen Literaturbegriff zurückkehrt. Auch das Hereinnehmen von Soziologie, Sozialpsychologie oder gar Marktforschung in die wissenschaftlichen Überlegungen und damit eine Abkehr von der Autonomieästhetik sind beiden Disziplinen in neuerer Zeit in immer größerem Ausmaß gemein. Dasselbe gilt für die Erforschung der sogenannten Trivialliteratur bzw. Trivial-, sprich U-Musik, wobei man sich nicht zuletzt bewußt wird, daß die Komponisten von U-Musik früherer Epochen z. B. Telemann oder Schubert, aber auch Bach, Mozart oder Beethoven hießen. Auch die Frage, was denn alles Text sei und somit als Kommunikationsmittel eingesetzt wurde, wird in beiden Disziplinen in immer weiterer Form beantwortet, wodurch sich nicht zuletzt der große Aufschwung der Hermeneutik begründet. Denn: Ist das dem barocken Theater eigene Gesten-Repertoire bereits Text und eine Aufführung ohne dieses daher bruchstückhaft? Umgekehrt: Sind Monteverdi-Opern ohne die seinerzeit erwarteten vokalen wie instrumentalen Verzierungen (die im Stil der Zeit zu extemporieren waren) fragmentarisch?
Der Fragen sind viele in der Literaturwissenschaft in gleicher Weise wie in der Musikwissenschaft. Wir haben also noch sehr viel Arbeit vor uns.
© Hartmut Krones (Wien)
Anmerkungen:
(1) J[ohann] N[icolaus] Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 24.
(2) Johann Matthäus Meyfarts, Teutsche Rhetorica oder Redekunst, Erfurt 1634, S. 12f.
(3) Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 31 = Band 15, Z-Zmasche (Leipzig 1956), Taschenbuch-Ausgabe München 1984, Sp. 1117ff.
(4) Hartmut Krones, "...nicht die leiseste Abweichung im Zeitmasse". Tempofragen bei Franz Schubert am Beispiel der "Winterreise", in: Österreichische Musikzeitschrift 45 (1990), S. 683f.
(5) Marchettus von Padua, Pomerium in arte musicae mensuratae, hrsg. von Joseph Vecchi (= Corpus scriptorum de musica 6, 1961), S. 71.
(6) Zit. nach Heinrich Hüschen, Das Cantuagium des Heinrich Eger von Kalkar 1328-1408 (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 2), Köln-Krefeld 1952, S. 57.
(7) Karl Gustav Fellerer, Agrippa von Nettesheim und die Musik, in: Archiv für Musikwissenschaft 16 (1960), S. 78ff.
(8) Brief vom 9. Dezember 1616, in: Claudio Monteverdi, Lettere, dediche e prefazioni, hrsg. von D. dePaoli, Rom 1973, S. 87.
(9) H. Müller (Hrsg.), Der "tractatus musicae scientiae" des Gobelinus Person (1358-1421), in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 20 (1907), S. 195.
(10) Johannes Tinctoris, Liber de arte contrapuncti, hrsg. von Albert Seay: Opera theoretica 2 (= Corpus scriptorum de musica 22/2, 1975), S. 140.
(11) Martin Ruhnke, Joachim Burmeister. Ein Beitrag zur Musiklehre um 1600, Kassel-Basel 1955, S. 96.
(12) Johann Gottfried Walther, Praecepta der Musicalischen Composition (1708), hrsg. von Peter Benary, Leipzig 1955, S. 158.
(13) Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S.181.
(14) Ebenda, S. 180.
(15) Friedrich August Kanne, in: AMZÖK 5 (1821), passim. Hiezu siehe Hartmut Krones, Rhetorik und rhetorische Symbolik in der Musik um 1800. Vom Weiterleben eines Prinzips, in: Musiktheorie 3 (1988), S. 125ff.
(16) Giuseppe Antonio Carpani, Le Haydine ovvero Lettere sulla vita e le opere del celebre maestro Giuseppe Haydn, Mailand 1812, S. 69.
(17) Hartmut Krones, "... er habe ihm seine Liebesgeschichte in Musik setzen wollen". Ludwig van Beethovens e-Moll-Sonate, op. 90, in: Österreichische Musikzeitschrift 43 (1988), S. 592ff.
(18) Brief vom 8. April 1815 an Johann von Kanka, in: Ludwig van Beethovens sämtliche Briefe, hrsg. von Emerich Kastner und Julius Kapp, Leipzig o. J., S. 306.
(19) "In der Musik ist Sinn und Folge, aber musikalische; sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht im Stande sind". Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1854, S. 35.
(20) Anton Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven 2, Münster 3. Aufl. 1860, S. 237.
(21) Hiezu siehe Hartmut Krones, Geschichte der musikalischen Interpretation [Die Zweite Republik], in Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber, Musikgeschichte Österreichs 3. Von der Revolution 1848 bis zur Gegenwart, Wien-Köln-Weimar 1995, S. 340ff.
(22) Carl Czerny, Die Kunst des Vortrags der ältern und neuen Claviercompositionen oder: Die Fortschritte bis zur neuesten Zeit. Supplement (oder 4ter Theil) zur grossen Pianoforte-Schule, op. 500, Wien o. J. (1842), S. 45.
(23) J. N. Forkel, a. a. O., S. 17 und 40f.
(24) Friedrich August Kanne, a. a. O., Sp. 33f. Hiezu siehe Hartmut Krones, "denn jedes gute Tonstück ist ein Gedicht". "Rhetorische Musikanalyse" von Johann Mattheson bis Friedrich August Kanne, in: Gernot Gruber (Hrsg.), Zur Geschichte der musikalischen Analyse. Bericht über die Tagung München 1993 (= Schriften zur musikalischen Hermeneutik 5), Laaber 1996, S. 56ff.
(25) Gallus Drechsler, Praecepta musicae poeticae, hrsg. von B. Engelke in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 49/50 (1914/15), S. 213-250.
(26) Joachim Burmeister, Musica poetica, Rostock 1606, S. 73f.
(27) Johann Mattheson, a. a. O., S. 235.
(28) Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hrsg. von Ludwig Schubart, Wien 1806, S. 360.
(29) Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon, Frankfurt/Main 1802, Sp. 354.
(30) Anton Reicha, Traité de haute Composition musicale II, Paris 1826, S. 298, und [wohl] auch sein Übersetzer Carl Czerny (Wien 1832) sahen noch über dreißig Jahre später die Sonate als zweiteiliges Drama über ein "Thema" (im inhaltlichen Sinne!), in welchem der 1. Teil die "Exposition der Vorgeschichte" abgebe, während sich im 2. Teil die "Schürzung des Knotens" (die "Intrige") sowie seine "Auflösung" ereigneten. Unter diesem Aspekt erhält die Aneinanderreihung mehrerer Aspekte desselben (Haupt-)Themas in Sonaten jener Zeit eine weitere rhetorische Basis; es handelt sich um die Figur der Apostrophe, mit welcher Mattheson (1739, S. 238) die "neue Narration" bezeichnet.
(31) Johann Mattheson, Critica Musica I, Hamburg 1722, S. 199.
(32) Mattheson, Capellmeister, a. a. O., S. 235.
(33) Siehe u. a. Johann Mattheson, Kern melodischer Wissenschaft, Hamburg 1737, S. 67.
(34) Zu den musikalisch-rhetorischen Figuren und deren Symbolgehalt siehe insbesondere Hartmut Krones, Musik und Rhetorik, in: MGG 6, Kassel etc. 1997, Sp. 826-832.
(35) Elmar Budde, Musikalische Form und rhetorische dispositio. Zum ersten Satz des dritten Brandenburgischen Konzertes, in: Hartmut Krones (Hrsg.), Alte Musik und Musikpädagogik (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 1), Wien-Köln-Weimar 1997, S. 69-83.
(36) Ursula Kirkendale, The Source for Bachs Musical Offering: The Institutio oratoria of Quintilian, in: JAMS 33 (1980), S. 88-141.
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