Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Österreichisch-rumänische Interferenzen in der Literatur der Zwischenkriegszeit

Mariana Lazarescu (Bukarest)

Im Jahre 1997 ist im Bukarester Saeculum-Verlag das von der Rumänischen Akademie subventionierte Opus Bibliografia relatiilor literaturii române cu literaturile stràine în periodice (1919-1944). Vol. I - zu deutsch: "Bibliographie zu den Beziehungen zwischen der rumänischen Literatur und den fremden Literaturen in Periodika (1919-1944). Band I" erschienen. Das Buch enthält einen Riesenbestand an Informationen und dient als unentbehrliches Arbeitsinstrument für Fachleute im Bereich der Welt- und der vergleichenden Literatur. Das Opus stellt die notwendige Fortsetzung eines vor 17 Jahren begonnenen gleichnamigen Werkes dar, das die Zeitspanne von 1859 bis 1918 behandelte und in drei Bänden im rumänischen Akademie-Verlag in den Jahren 1980-1986 erschienen ist. Damals wurde die Grundlage für eine Forschung geschaffen, die die Reichhaltigkeit der rumänischen Kultur in dem besagten Zeitraum unter Beweis stellte. Diese Bibliographie wurde das wichtigste Nachschlagewerk der Literarhistoriker, da sie damit aus verschiedenen Blickwinkeln der Rezeption universaler Literaturwerte in jener für die Herausbildung einer modernen rumänischen Kultur ausschlaggebenden Zeitspanne nachgehen konnten. Bereits die damalige Bibliographie erfaßte die bedeutenden Elemente in der Entwicklung eines literarischen Geschmacks sowie der Mentalitäten und umriß das Bewußtsein der Teilnahme rumänischer Intellektueller aus dem vorigen Jahrhundert und dem angehenden 20. Jahrhundert an den Bemühungen, den Weltgeist zu definieren.

Die vorliegende Recherche entstand ausschließlich aufgrund der in der Bibliothek der Rumänischen Akademie vorhandenen Periodika. Davon wurden 824 Titel ausgewählt (im Unterschied zu den 511 der früheren Bände), die alle rumänischen Periodika der betreffenden Zeitspanne darstellen, was bedeuten soll, daß der erste Band der neuen Reihe wesentliche Ergänzungen zu den in den vorausgehenden Bänden unternommenen Untersuchungen bringt. Es handelt sich also um rumänische Periodika aus der Zeit von 1919-1944, die fremde Literatur und Kommentare dazu veröffentlicht haben, um literarische Zeitschriften, Kulturmagazine, politische Tageszeitungen und viele andere. Bibliographisch ausgewertet wurde also nicht nur die Presse aus der Hauptstadt und aus den großen Kulturzentren des Landes, sondern auch aus den kleineren Städten wie Cîmpina, Fàlticeni, Gàesti, Strehaia, Rosiorii de Vede usw. Ein besonderes Augenmerk galt den Gebieten Siebenbürgen, Bessarabien, Nordbukowina, Süddobrudscha, die nach der Großen Vereinigung von 1918 - also in der Zwischenkriegszeit - eine einmalige kulturelle Neuerung erfahren haben. Unberücksichtigt blieben die Publikationen in Fremdsprachen, die Almanache, die Schulkalender und -zeitschriften, bis auf wenige Ausnahmen.

Das bibliographische Vorhaben ist tatsächlich sehr umfassend, die einstigen ideologischen Restriktionen haben nun nicht mehr gewirkt, es wurden alle Kulturzentren aus Rumänien nach der Vereinigung von 1918 einbezogen. In dieser Zeitspanne hat sich die moderne Kultur in Rumänien auf vielen Ebenen durchgesetzt und somit den europäischen Touch einer jungen Generation rumänischer Intellektueller demonstriert, die zwar die großen Universitäten des Abendlandes besucht haben, sich aber vor allem in den einheimischen akademischen Institutionen haben schulen und ausbilden lassen. Unter der Anleitung namhafter Professoren wurde eine richtige rumänische Schule in dem so vielschichtigen und umstrittenen Bereich der weltliterarischen Exegese und etwas später der vergleichenden Literaturwissenschaft gegründet.

Beim aufmerksamen Durchsehen der rund 7000 Karteikarten, die in dem vorliegenden Band versammelt wurden, kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß gleichzeitig mit der Registrierung einer größeren Anzahl von Übersetzungen - klassischer sowie moderner Werke - auch eine Interpretation dieser Werke erforderlich wurde. Die Schriftsteller wurden im allgemeinen aufgrund von linguistischen Kriterien der einen oder der anderen Literatur zugeteilt. Wie üblich im Falle der bibliographischen Unternehmungen wurden als eigenständige Literaturen, nicht nach linguistischen, sondern nach ethnischen und geopolitischen Kriterien, die Gesamtheit der Werke von Schriftstellern betrachtet, die verschiedenen kulturellen und nationalen Räumen angehören und die die gleichen Idiome verwenden: es handelt sich um die Literaturen in englischer, französischer und deutscher Sprache. Die Exegese der Weltliteratur erlangt im rumänischen Kulturraum eine Bedeutung, die vom Vorhandensein einer mächtigen Intelligenz zeugt, die sich als Teil einer europäischen Kultur verstand. Die Werke großer Schriftsteller drangen somit durch Übersetzungen in rumänische Bibliotheken ein, aber auch die Stimmen der Kritik hierzulande trugen wesentlich zur Festigung des rumänischen Kulturbildes bei. Das alles erwies sich als ein Zeichen intellektueller Reife, die - zu der Zeit - den gesamten Bereich der rumänischen Kultur kennzeichnete.

Der vorliegende Band, der von den Forschern des Instituts "George Càlinescu" in Bukarest fertiggestellt wurde, repräsentiert eines der wichtigsten wissenschaftlichen und bibliographischen Argumente für das Verstehen und die Deutung des Kulturphänomens in Rumänien als Teilhaber an der Behauptung einer modernen Literatur in der ereignisreichen Zwischenkriegszeit. Dabei entsteht eine interessante Konstellation von Beziehungen zwischen der rumänischen Literatur und den fremden Literaturen. Wir wollen im folgenden auf die österreichisch-rumänischen Interferenzen in der Literatur der Zwischenkriegszeit fokussieren.

Unter Interferenz versteht man in der Sprachwissenschaft laut DUDEN (Deutsches Universalwörterbuch A-Z, Mannheim: Bibliographisches Institut 1989, S. 773) die Einwirkung eines sprachlichen Systems auf ein anderes, die durch die Ähnlichkeit von Strukturen verschiedener Sprachen oder durch die Vertrautheit mit verschiedenen Sprachen entsteht. In der Bildungssprache versteht man unter Interferenz eine Überlagerung, eine Überschneidung. Im Bereich der Literaturwissenschaft sprechen wir oft von Interferenzerscheinungen oder von auf Interferenz beruhenden Erscheinungen und meinen dabei literarische Phänomene, die sich überlagern oder überschneiden, im weiteren Sinn denken wir an Einflüsse aus einem Bereich auf einen anderen Bereich, bzw. aus einer Literatur auf eine andere Literatur.

Es ist allgemein bekannt, daß zwischen der österreichischen und der rumänischen Literatur alte Traditionsbeziehungen herrschen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß diese Beziehungen auch aus der vorliegenden Bibliographie ersichtlich sind. Man kann verfolgen, wie sie sich in einer überschaubaren Zeitspanne entwickelt haben.

Einige Kapitel und Unterkapitel des Bandes beziehen sich auf den Bereich der Literaturtheorie, wobei der Ästhetik der Literatur und der Ästhetik der Folklore sowie den theoretischen Aspekten hinsichtlich der Geschichte der Literatur, aber auch dem Problem des Plagiats besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Ein anderes Kapitel befaßt sich mit der Theorie der literarischen Gattungen, ein anderes wiederum mit den Epochen und Strömungen in der Literaturgeschichte.

Im Kapitel zum Problem und zur Technik des Übersetzens wurde zum Unterschied von der vorausgehenden bibliographierten Etappe, d.h. 1859-1918, in der die Übersetzungen und nicht die Kommentare sowohl quantitativ als auch qualitativ den Vorrang hatten, nun ein umgekehrtes Verhältnis verzeichnet. Das Interesse der Presse gilt nun hautpsächlich der Überlegungen am Rande des literarischen Phänomens. So erklärt sich das Überwiegen der literaturgeschichtlichen Artikel, der Essays, der Ideendiskussionen, der literarischen Umfragen, der Interviews usw. im Hinblick auf die Übersetzung poetischer Texte.

Der vorliegende Band, der die Reihe der neuen Bibliographien eröffnet, verzeichnet allgemeingeschichtliche und theoretische Stoffe (Literaturtheorie, Geschichte der Weltliteratur, vergleichende Literatur). Das Vorherrschen der Sekundärliteratur gegenüber der Primärliteratur ist auch im Rahmen der Nationalliteraturen festzustellen, die den Gegenstand der nächsten in Vorbereitung befindlichen Bände ausmachen. Ein besonderes Augenmerk im Vergleich zur voranghenden Bibliographie gilt in dem besprochenen Band auch dem Kapitel über die Rezeption der rumänischen Literatur im Ausland, die nach der Großen Vereinigung eine stärkere politische und kulturelle Glaubwürdigkeit erreichte.

Im Hinblick auf die Einteilung des Stoffes ist weiterhin die Tatsache hervorzuheben, daß auf die kurzen Anzeigen und Informationen in bezug auf ausländische Bücher im Unterschied zur früheren Auffassung verzichtet wurde. Nur die Theaterkritiken, die sich auf den literarischen Wert der Texte beziehen, wurden aufgenommen. Filmkritiken wurden jedoch nicht berücksichtigt. Die Kritiken zu szenisch bearbeiteten epischen Werken wurden beim Quellenautor angegeben, und die Kommentare einiger Schriftsteller zu den Werken anderer Schriftsteller wurden in den bibliographischen Notizen der letzteren angeführt. Unter dem Namen eines Schriftstellers wird alles bibliographisch erfaßt, was die Presse aus seinem und über sein Werk geliefert hat, unabhängig davon, ob es ein literarisches, politisches, philosophisches oder wissenschaftliches ist.

In den folgenden Bänden wurde das nach Literaturen gegliederte Material in zwei große Gruppen eingeteilt:

  1. Studien, Artikel, Anmerkungen zu Literaturgeschichte und Literaturkritik.
    Diese werden wiederum unterteilt in: a. Arbeiten mit allgemeinem Charakter; b. Arbeiten über literarische Gattungen; c. Arbeiten über literarische Motive; d. Arbeiten über Schriftsteller in der alphabetischen Reihenfolge der Namen und nicht, wie bisher, in der chronologischen Reihenfolge ihrer Erscheinung;
  2. Übersetzungen und Bearbeitungen, eingeteilt in Gattungen (Lyrik, Dramatik, Epik) und alphabetisch nach Titeln geordnet; für den gleichen Titel wird die Chronologie der Erscheinung verwendet.

Nachstehend will ich, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, zeigen, wie sich österreichische und rumänische literarische Phänomene überlagern bzw. überschneiden.

Sprechende Beispiele für Interferenzen zwischen den Kulturen und für den Mechanismus dieser Interferenzerscheinungen in der Zwischenkriegszeit sind meines Erachtens die in der Zeitschrift Rampa nouà ilustratà (1926) erschienenen Artikel über die Teilnahme Rumäniens am Kongreß des Intellektuellenvereins, der 1926 in Wien stattgefunden hat. Der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal stellte das Ziel des Vereins vor. Es beteiligten sich daran 12 Länder, heißt es im rumänischen Artikel: Deutschland, Österreich, Belgien, Spanien, Frankreich, Ungarn, Italien, Polen, Portugal, die Schweiz, die Tschechoslowakei und Rumänien. Als eingefleischter Österreicher teilt Hofmannsthal ex cathedra seine große Freude mit, daß der Kongreß in Wien stattfindet, daß Wien somit zum Treffpunkt so vieler Persönlichkeiten, Vertreter der Intellektuellen aus mehreren europäischen Ländern geworden ist, die zusammengekommen sind, um sich über das geistige Leben in Europa jetzt und in Zukunft Gedanken zu machen. Hugo von Hofmannsthal hob hervor, daß diese Versammlung nicht Tendenzen, Sympathien oder Interessen festlegen will, sondern die Wahrheit hinter der Maske der vielen Erscheinungen der Gegenwart lüften möchte. Österreich, die einstige große Macht, stelle nun den Mittelpunkt für die Intellektuellen dar, die aus den ehemals feindlich gesinnten Gebieten zusammengekommen waren. Rumänien wurde von Emil Riegler vertreten. Ein anderer rumänischer Teilnehmer war Ion Pillat, ein berühmter rumänischer Kulturliebhaber, ein feiner Kenner und guter Freund der österreichischen Literatur, ein Rilke- und Hofmannsthal-Verehrer.

In einem anderen Artikel der rumänischen Zeitschrift Rampa vom 29.09.1926 wird im Zusammenhang mit der Rolle der Intellektuellen bei der Organisierung Europas ebenfalls betont, daß der Intellektuelle intensiver zu leben habe, für die Menschheit leiden und nach Möglichkeit mit gutem Beispiel vorangehen müsse.

Wenn man sich nur das Kapitel über Literaturtheorie näher ansieht, findet man zahlreiche Beispiele von Artikeln, die auf die reichhaltigen österreichisch-rumänischen Beziehungen hinweisen. Über Siegmund Freud erscheint ein Beitrag von Felix Aderca in Lupta (Bukarest, 1922), einen weiteren Beitrag bringt Miscarea literarà (Bukarest, 1925); Stejar Ionescu schreibt über Freud in Complex artistic, literar (Jassy, 1927), Florin Andrei in Dacia (Constanta, 1927), R. E. Morel in Reporter (Bukarest, 1934). Nicolae Rosu bezieht sich auf Freud in Curentul (Bukarest, 1934), Eugen Lovinescu verfaßt einen Beitrag über Freud in Adevàrul (Bukarest, 1936). Über Weininger kann ein Artikel von Lucian Blaga in Adevàrul literar si artistic (Bukarest, 1924) gelesen werden, über den internationalen Kongreß der Kritiker in Salzburg berichtet Politica (Bukarest, 1927). Auf Hofmannsthal bezieht sich Ion Sân-Giorgiu in Flacàra (Bukarest, 1922), über Schnitzler schreibt z.B. Mihail Dragomirescu in Flamura (Craiova, 1925), über Rilke unter anderen Nicolae Iorga in Cuget Clar (Bukarest, 1939). Dies sind nur einige wenige Beispiele von österreichischen Schriftstellern und Persönlichkeiten, mit denen sich bekannte rumänische Literaturkritiker auseinandersetzten, weil sie das Schaffen rumänischer Schriftsteller wesentlich beeinflußten. Die betreffenden Beiträge sind bahnbrechend für die Entwicklung literarischer Phänomene in Rumänien und zeugen von den Überschneidungen der beiden Kulturkreise.

Die erwähnten Beispiele für die österreichisch-rumänischen Beziehungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit können beliebig fortgesetzt werden, eins steht aber fest: zwischen Österreich und Rumänien hat es in der Zwischenkriegszeit bedeutende Interferenzerscheinungen gegeben, die auch in der damaligen Presse ihren Niederschlag gefunden haben. Dieses Kapitel ist sowohl für die Austrianistik als auch für die Rumänistik eine eingehende Untersuchung wert.

© Mariana Lazarescu (Bukarest)

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