Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5. Nr. Juli 1998

Die Ukraine im Spannungsfeld der Kulturen

Larissa Cybenko (Lviv/Ukraine)

Die Ukraine, ein infolge des Zerfalls der Sowjetunion im August 1991 entstandener Staat (ca. 53 Mio. Einwohner(1)), könnte als ein historisches, politisches und kulturelles Phänomen betrachtet werden, das vor allem in Europa aus der Dunkelheit der Ignoranz ins Licht der Erkenntnis gebracht werden sollte. Das eklatante Unwissen über diesen zweitgrößten Staat des europäischen Kontinents hängt vor allem damit zusammen, daß die Ukraine im Bewußtsein der Mehrheit der gebildeten Westeuropäer bis heute als UdSSR-Nachfolgestaat im Schatten seines östlichen Nachbarstaates, Rußland, steht. Was die breiteren Kreise der Öffentlichkeit anbetrifft, so wird dieser souveräne Staat meistens überhaupt nicht akzeptiert.(2) Die Zukunft der Ukraine spielt aber eine große Rolle für die Situation in Europa einerseits und beeinflußt andererseits indirekt die weiteren Prozesse der Entwicklung Rußlands. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine (sie erklärte sich im August 1991 als unabhängiger Staat) sind eine größere Zahl von Gesamtdarstellungen und Publikationen zu einzelnen Problemen der ukrainischen Geschichte erschienen. Viele von ihnen sind aber tendenziös: die Tatsachen werden von verschiedenen, oft polaren Standpunkten diskutiert. Das ist einerseits durch die kulturelle Teilung des Landes, andererseits durch die 70 (in der westlichen Region etwa 50) Jahre währende Sowjetherrschaft, über die die Geschichtsschreibung zahlreiche Lücken und ideologische Fälschungen aufweist, zu erklären. Die meisten der in englischer, deutscher oder französischer Sprache geschriebenen Forschungsarbeiten über die Geschichte der Ukraine sind in den Universitäten und Forschungszentren der ukrainischen Diaspora in Kanada (vor allem Toronto, Winnipeg) und den USA, aber auch in Geschichtsinstituten deutscher, österreichischer und französischer Universitäten entstanden.(3) Immer öfter wird die Ukraine im kulturwissenschaftlichen Diskurs erwähnt, insbesondere dann, wenn es thematisch um Ost- und Mitteleuropa geht. Heute könnte es sich auch kein Verfasser, der sich mit den Fragen der Kulturkonflikte beschäftigt, leisten, die Ukraine aus diesem Problemkreis ausschließen.

Starke Aufmerksamkeit wird der Ukraine in dem viel diskutierten Werk Kampf der Kulturen(4) von Samuel Huntington gewidmet. Als "ein zerrissenes Land", ein "gespaltenes Land", "das Land der kulturellen Schizophrenie"(5) wird sie vom Verfasser ins Zentrum der West-Ost-Dichotomie in diesem Teil der Welt gestellt. So verläuft, laut Huntington, eine "zivilisationale Bruchlinie" durch das Herz des Landes: "Die Ukraine ist tief gespalten in den unierten, nationalistischen, ukrainischsprachigen Westen und den orthodoxen russisch-sprachigen Osten".(6) Aus dieser Behauptung entwickelt Huntington verschiedene Zukunftsszenarien: das eines möglichen Krieges und einer Eroberung der Ukraine durch Rußland und das einer möglichen Spaltung der Ukraine, wobei "eine solche Teilung blutiger als in der Tschechoslowakei verlaufen könnte, aber weit weniger blutig als in Jugoslawien".(7) Zwar wird letzteres Szenarium von Huntington mehrmals in Betracht gezogen(8), die größte Wahrscheinlichkeit mißt er jedoch einer dritten Perspektive bei: "... die Ukraine" bleibt "geeint und zweigeteilt ..., unabhängig und doch generell eng mit Rußland zusammenarbeitend".(9) Die gravierendsten längerfristigen Probleme der Ukraine seien, laut Huntington, die wirtschaftlichen, und gerade die enge Zusammenarbeit mit Rußland, die "teilweise gemeinsame Kultur" zwischen beiden Völkern und die "engen persönlichen Bande" unter den Bürgern beider Staaten (z.B. gemischte Ehen, Freundschaftsbeziehungen etc.) sollten bei ihrer Lösung sowie in den russisch-ukrainischen Beziehungen im ganzen entscheidend sein. Darin sieht der Verfasser "den unabdingbaren Kern für den Zusammenhalt der orthodoxen Welt".(10)

Die bisherige allgemeinpolitische Entwicklung des neuentstandenen Staates entspricht zum größten Teil der letzten, von Huntington genannten Zukunftsperspektive für die Ukraine. Das Land bleibt geeint, obwohl auf mehreren Ebenen dichotom. Was die enge Zusammenarbeit mit Rußland anbetrifft, so ist gerade hier die Verschiedenheit der Orientierung der unterschiedlichen kulturellen Regionen des Landes zwischen West und Ost besonders leicht zu verfolgen. Diese Verschiedenheit entstand infolge der großen kulturellen Differenz beider Teile der Ukraine, die aber nicht dazu führte, das Land "von innen" zu splitten. Es wäre wichtig zu erforschen, welche außer der von Huntington genannten Faktoren, zur Überwindung der Krise beitragen, gegen einen eventuellen Zerfall der Ukraine heute wirken und die fundamentale Basis für das Bestehen des unabhängigen ukrainischen Staates auch in der Zukunft bilden. Zu den wohl wichtigsten gehört die moderne nationale Identität des ukrainischen Volkes, die, obwohl auf den Elementen der aus mehreren Ingredienzen bestehenden kulturellen Tradition beruhend der staatlich-politischen Einheit zu Grunde liegt. Diese bestimmten einheitlichen Züge entwickelten sich infolge der Jahrhunderte dauernden Bestrebungen des Volkes nach eigener Staatlichkeit, ungeachtet der Zersplitterung unter verschiedenen Mächten. Besonders akut wurde die Frage der Beibehaltung der eigenen Identität für die Ukrainer in den letzten Jahrzehnten, als unter den Bedingungen des totalitaristischen Sowjetsystems, das eine umfassende staatliche Russifizierungspolitik durchführte, die volle Nivellierung der eigenen Mütter- und Väterkultur drohte. Wie weit diese Politik Erfolg hatte, hing jeweils von dem Spannungsfeld zwischen den zwei verschiedenen von Huntington erwähnten Kulturen in der Ukraine ab, das derer Gespaltenheit verursachte. Der Prozeß der Überwindung dieser Gespaltenheit hat mittlerweile begonnen, und von seinem erfolgreichen Vorankommen hängt die Entwicklung der ukrainischen Staatlichkeit und der modernen ukrainischen Nation ab.

Schon die ersten Jahre der staatlichen Eigenständigkeit waren durch die Suche nach eigener nationaler Identität gekennzeichnet, die keineswegs monolithisch sein konnte und nur als Resultat einer langdauernden Entwicklung, die bis heute andauert, gedeutet werden kann. Diese Identität sollte zwei von Huntington genannte verschiedene Kulturen - eine westliche (im Sinne der westeuropäischen, lateinischen Kultur) und eine östliche (gemeint ist die osteuropäische, byzantinische Tradition) umfassen. Doch diese zwei Kulturen wurden, (diese Tatsache berücksichtigt der amerikanische Forscher nicht), in der historisch kurzen, aber in Hinsicht auf die Entstehung bestimmter Eigenarten der Mentalität sehr wirksamen Periode des totalitaristischen Sowjetregimes, in dem die Nivellierung der kulturellen Tradition und der aggressive Atheismus von entscheidender Wirkung waren, stark beeinflußt. So kann man die Ukraine, noch mehr als jeden anderen Nationalstaat, als ein historisch bedingtes multikulturelles Gebilde bezeichnen. Diese These würde aber mehrere Erwiderungen hervorrufen: sowohl aus der russo-zentrischen Perspektive, als auch aus der ukrainischen, die beide mit mehreren Mythen verbunden sind: die erste Perspektive unterstützt die jahrhundertelang gepflegte Mythen über die russische Vorherrschaft in der Ukraine, die zweite stützt sich auf mehrere ukrainische nationale Mythen, die das Thema des Leidens behandeln.(11) Eine große Rolle bei der Entstehung dieser Mythen spielte immer die Deutung des Wesens der Ukrainer durch die anderen und ihre subjektive Einschätzung. Wenn man heute von diesem Wesen spricht, so fällt ein großer Widerspruch zwischen der ethnischen und der sprachlichen Identität auf. Hier sind die Daten der neuesten Statistik nicht uninteressant. Heute verstehen sich selbst drei Viertel der erwachsenen ukrainischen Staatsangehörigen (73%) als "ethnische Ukrainer", knapp ein Fünftel (22%) verstehen sich als "ethnische Russen", 5% gehören zu den nationalen Minderheiten. Diese nationale bzw. ethnische Identität der Ukrainer deckt sich nicht mit der sprachlichen: nur ein Drittel (37%) spricht überwiegend bzw. nur Ukrainisch, zwei Fünftel (42%) sprechen überwiegend bzw. nur Russisch, ein Fünftel (20%) verwendet beide Sprachen(12), auch, wenn sie sich als Staatsbürger der Ukraine verstehen.(13) Für diese Widersprüche in der Selbsteinschätzung gibt es einen bestimmten Grund, und zwar die Teilung des Landes im Laufe der Jahrhunderte unter der Herrschaft unterschiedlicher kultureller und politischer Traditionen.

Zwei Phänomene, an denen man, laut Huntington, "zerrissene Länder" erkennt, sind: ein "Januskopf ", wobei die Gesichter nach Westen und Osten blicken, und ihre Bezeichnung als Brücke zwischen zwei Kulturen.

Was den "Januskopf" anbetrifft, so sollte man einen Blick in die Geschichte werfen. Als wichtiger Bestandteil der nationalen Identität wird sie heute neu bewertet. Die erste politische Teilung der ursprünglich von den Vorfahrern der Ukrainer besiedelten Territorien erfolgte schon im 14. Jh. Sie führte aber nicht zur kulturellen Teilung. Das Fürstentum Halycz-Wolyn, ein Nachfolgestaat der Kyjiver Rus`, geriet nach deren Zersplitterung (im Laufe des 11.-12. Jh.) unter die fast 200 Jahre dauernde Herrschaft zweier Staaten: des Großfürstentums Litauen (Mitte des 14. Jh. - Gebiete Kyjiv und Podolien) und des Königreiches Polen (Mitte - Ende des 14. Jh. - Galizien). Wenn infolge der von der Seite Polens geführten Politik der Expansion nach Osten die volle Polonisierung des ostslawischen Nachbarn drohte, war die Politik Litauens in Hinsicht auf Kyjiv und Podolien viel liberaler, was die Möglichkeit bot, sich zu konsolidieren und eigene autochthone ethnischen Züge zu behalten. In diese Zeit fallen auch die Anfänge der ukrainischen Literatursprache und die Herausbildung ihrer eigentümlichen Mentalität. Besonders wichtig waren die zwei Jahrhunderte der litauischen Herrschaft in den ehemaligen Gebieten des Kyjiver Staates, wo in der Verwaltung das ukrainische Element prävalierte: sogar die Amtsprache war hier eine der Urvarianten der zukünftigen ukrainischen Sprache. Das war der Grundstein der sprachlichen Identität, der die Entwicklung der ethnischen Identität entscheidend beeinflußte. Die Verhältnisse auf dem größeren, von Litauen verwalteten Territorium, wirkten als Gegenpol zu den Verhältnissen auf dem von Polen besetzten Teil des von den Vorfahrern der Ukrainer besiedelten Landes, was den Ukrainern geholfen hat, sich zu einem einzigen Volk zu konsolidieren. Mit der Union von Lublin (1569) zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Königreich Polen gerieten größere ukrainische Territorien unter die Vorherrschaft Polens, wo eine starke Polonisierung der ukrainischen Bevölkerung begann.

Das zweite Moment, warum die Ukrainer in dieser Zeit nicht assimiliert wurden, hängt mit der Religion zusammen. Traditionell gehörte die gesamte Ukraine zur orthodoxen Kirche byzantinischen Ritus: Das Christentum kam aus Konstantinopel in die Kyjiver Rus‘. Das Vordringen der römisch-katholischen Konfession (mit der polnischen Expansion nach Osten verbunden) führte einerseits zum heftigen Widerstand der Orthodoxen und andererseits zum Entstehen der kirchlichen Union von 1596 (in Galizien erst 1710). Diese neue, griechisch-katholische Kirche, die den byzantinischen Ritus mit dem lateinischen Kodex des Glaubens verband, wurde zu einer Art der Zwischenlösung des konfessionellen Kompromisses. Sie spielte längere Zeit die Rolle der ukrainischen nationalen Kirche, die unter anderem den Zugang zur Verwaltung (der nur für Katholiken möglich war), die Ausbildung in den westlichen Universitäten und die Erhaltung der eigenen Sprache und byzantinischen Bräuche ermöglichte. Ungeachtet des Widerstands der ukrainischen Orthodoxie, breitete sich die griechisch-katholische Kirche bis nach Kyjiv aus.(14) Die gleichzeitige Anwesenheit der zwei Kirchen in der Ukraine, wobei beide einen ukrainischen Charakter entwickelten, verursachte eine reale Spaltung in der Kultur und der Mentalität der Ukrainer, die bis heute wirkt. Zu einem der Gegenpole gegen diese Spaltung wurde die Bewegung des Kosakentums, dessen Tradition fast zwei Jahrhunderte umfaßte (Ende des 15. - Anf. 18. Jh.) und einen gewaltigen Nachklang in den ukrainischen epischen Volksliedern fand. Als erste ernste Probe für das Bestehen einer ukrainischen Identität hatte die Tätigkeit der Kosaken eine große Bedeutung. Unter ihrer Anführung entfaltete sich der erste Unabhängigkeitskrieg gegen das polnische feudale Reich zugunsten der Errichtung eines eigenen Verfassungsstaates. Eben infolge dieses Krieges kam es zur politischen Spaltung der Ukraine und zur Entstehung der West-Ost Grenze: der größere, östliche Teil der Ukraine wurde 1654 Rußland einverleibt, der westliche blieb unter polnischer Herrschaft - bis zur ersten Teilung Polens 1772. In diesem Jahr etablierte sich hier für fast 150 Jahre die Macht der Habsburger. Galizien und Bukowina wurden von Österrreich (ab 1867 von einer konstitutionellen Monarchie) verwaltet, die östlichen, zentralen und nordwestlichen Gebiete aber (die Rechtsufrige Ukraine und Wolyn`) – vom absolutistischen Rußland. Die gesellschaftlich-politische und kulturelle Situation der Ukrainer in diesen zwei Staatsgebilden wurde auf verschiedene Weise gelöst, was eine starke Einwirkung auf die nächsten Perioden (bis zu den Jahren 1918/1939/1944) hatte. Mit dieser politischen Teilung der Ukraine wurde der Riß im kollektiven Unbewußten des Volkes immer tiefer, die so genannte "Kaffee/Tee - Grenze" entstand. Die Herrschaft der beiden Großmächte hatte allerdings unterschiedlichen Charakter. Unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie des Donaureiches genossen die Ukrainer (Ruthenen genannt) alle Rechte der anderen Völker dieses Vielvölkerstaates, sowohl politisch wie auch kulturell. So stellten z.B. die Ukrainer 1914 ein Drittel der Vertreter des galizischen Landtags; 97% der ukrainischen Kinder konnten in ihrer Muttersprache lernen, an der Lemberger Universität wurde Ende des 19. Jh. ein Lehrstuhl für Ukrainistik eröffnet und es gab hier mehrere kulturwissenschaftliche Institutionen. Nicht umsonst wurde Ostgalizien "ukrainisches Piemont" genannt: hier wurden von den Ukrainern mehrere politische Parteien gegründet, die eine Tradition des demokratischen Denkens entwickelten.(15) In dem zum zaristishen Rußland gehörenden Teil der Ukraine war die Despotie des autokratischen Regimes und die repressive Ukrainer-Politik mehr als spürbar. Im Laufe des ganzen 19. Jh. (bis zur Revolution 1905) wurde der Assimilationsdruck der russischen Gesellschaft auf die Ukrainer immer stärker. Ab 1860 hatten auch mehrere repressive Maßnahmen der zaristischen Regierung gegen die ukrainische Kultur Platz gegriffen: so erschien 1863 der Zirkular des russischen Innenministers Valuev über das teilweise Verbot ukrainischer Druckschriften, unter ihnen auch der religiösen und pädagogischen Literatur, ihm folgte 1876 der geheime "Akt von Ems", der ein weitgehendes Verbot ukrainischer Schriften, ukrainischer Theateraufführungen, des Druckes ukrainischer Lieder und der Einführung ukrainischsprachiger Schriften aus dem Ausland (vor allem Ostgalizien) im Russischen Reich beinhaltete. Infolgedessen siedelten mehrere Verlagszentren ins Ausland um: nach Genf, Lemberg und Czernowitz (1876-1905). Dementsprechend war auch die ukrainische Nationalbewegung in Rußland zum Stillstand gebracht worden, ihr Schwerpunkt verschob sich aber im Laufe der siebziger Jahre nach Galizien, wo sie sich bis zu Beginn des 20. Jh. in eine Massenbewegung verwandelte. Hier fanden viele ukrainische Politiker, Wissenschafter und Kulturschaffende aus Rußland Obhut (z.B. der spätere erste Präsident der Ukrainischen Volksrepublik im Rahmen Rußlands, der Historiker M. Hruschevs`kyj). Die nationalen Bestrebungen der Ukrainer in Galizien hatten auch in den ukrainischen Gebieten des russischen Reiches einen gewissen Nachklang. Am Ende des 19. Jh. kam es auch hier zur Gründung geheimer politischer Organisationen. Aber erst nach der Revolution von 1905 wurde es den Ukrainern in Rußland möglich, eine freie nationale Kommunikation zu entfalten. So erreichte das Bewußtsein der eigenen Identität der Ukrainer, ungeachtet der politischen und kulturellen Teilung des Landes, bis zum Anfang des 20. Jh. infolge des Prozesses der Modernisierung einen relativ hohen Grad. Die Wechselwirkungen der politischen Prozesse in den ost - und westukrainischen Regionen erlauben, laut A. Kappeler,(16) schon damals "von einer ukrainischen Nationalbewegung zu sprechen". Die beiden Teile der Ukraine waren aber schon damals zu heterogen, um einen einheiltlichen Staat zu gründen. Diese Bewegung mündete nach dem I. Weltkrieg in die Entstehung zweier nationaler Republiken (der Westukrainischen Volksrepublik im Westen und der Ukrainischen Volksrepublik im Zentrum und im Osten), die aber offiziell eine Vereinigung anstrebten.

Die Wiedereroberung Ostgaliziens durch Polen (1919) und die Etablierung des bolschewistischen Regimes (1920) in der "Großukraine" führte zu einer neuen, noch tieferen Spaltung: ungeachtet der politischen und kulturellen Unterdrückung in der polnischen Zwischenkriegszeit haben in Lemberg viele ukrainische wissenschaftliche und kulturelle Institutionen weitergearbeitet, wohingegen das stalinistische Regime eine gewaltige Kollektivierung, eine schrekliche Hungersnot und Säuberungsaktionen gegen die Intellektuellen ab Ende der 20-er Jahre mit sich brachte.

Der Anfang des zweiten Weltkrieges (1939) und die 4. Teilung Polens gemäß dem Molotow-Ribbentrop Pakt riß die westukrainischen Gebiete endgültig aus Mitteleuropa heraus und vereinte das Land unter der Sowjetmacht wieder.(17) Diese viel propagierte, aber auch bewußt von der westukrainischen Bevölkerung angestrebte Wiedervereinigung der Ukraine endete mit den opferreichen stalinistischen Repressalien gegen Andersdenkende, die bereits wenigen Monate nach Eintreffen der Roten Armee in der Westukraine Platz griffen und mit einer herben Enttäuschung der Mehrheit der Bevölkerung. Eine neue Hoffnung auf die Möglichkeit der Schaffung einer unabhängigen Ukraine wurde deshalb mit der Hilfe durch die deutsche Wehrmacht verknüpft, was die Ukrainer in den üblen Ruf der Nazisympathisanten brachte. Die Realität der Nationalitätenpolitik Hitlers war anders, als von den Ukrainern erhofft. Die beiden Weltkriege, zu deren Schauplatz die Ukraine wurde, die Repressalien der beiden totalitaristischen Systeme, die ökologischen Probleme der Sowjetzeit (Tschernobyl ist sogar zum "Markenzeichen" der Ukraine geworden), konnten die Eigenart der Identität der Ukrainer nicht unbeeinflußt lassen. Heute gehört die Frage dieser Eigenart zu den wichtigsten Momenten im gesamtukrainischen Staatlichkeitsdiskurs. Die "Kaffee/Tee-Grenze" gehört der Vergangenheit an, ist zum Mythos und Stereotyp der Tradition geworden. Im politischen Denken beginnt man die Einheit, die Annäherung der zwei Mentalitätstypen anzustreben.

Wenn man sich an Huntingtons Bezeichnung der "zerrissenen Länder" als eine "Brücke" hält, so ist diese Funktion für die Ukraine seit dem Altertum her gegeben. Schon die etymologische Bedeutung des Namens des Landes "an der Grenze", "am Rande"(18), weist auf seine Rolle eines Grenzlandes, des Abgrenzungs- und Treffpunktes, des Transitlandes hin, wo sich die Interessen der Nachbarstaaten trafen, was zu seinem "Segen und Fluch" wurde. Dabei wurde das Land zum Schnittpunkt mehrerer unterschiedlicher Kulturen. So ist das Bild des Landes vom Mittelalter bis zur Gegenwart vom Zusammenleben der Ukrainer, Russen, Polen, Juden, Litauer, Deutschen, Österreicher, Tataren und Türken geprägt. In diesem Raum kam es zum Zusammenstoß und zur Wechselwirkung mehrerer kultureller Traditionen, in derem Spannungsfeld eine ethnische bzw. nationale Identität der Ukrainer mit unterschiedlichen Mentalitätstypen geformt wurde. Diese Verschiedenheit der Traditionen wurde durch die politisch bedingte räumliche Spaltung des Landes unter verschiedenen Staaten, sowie durch die zentrale geopolitische Lage des Landes an mehreren Kreuzungen der wichtigsten Handelswege, die West- und Mitteleuropa mit dem Orient verbanden, verursacht. Die Hauptvektoren der kulturellen Einflüsse verliefen aus dem Westen, Osten und Süden, was dementsprechende Einflüsse der lateinisch-christlichen, der byzantinisch-christlichen und der islamischen Tradition mit sich brachte. Während die südlichen, islamischen Einflüsse nur in beschränktem Ausmaß gewirkt haben (meistens in Verbindung mit verbündeten oder feindlichen Militärbeziehungen im Laufe des 16.-17. Jh. mit dem Krimer Khanat und darüber hinaus mit dem Osmanenreich), spielten die West-Ost Beziehungen bei der Entstehung der eigenen nationalen Identität die entscheidende Rolle. Als die Ukraine in der frühen Neuzeit zwischen die zwei mächtigeren Nachbarstaaten - das Moskauer Großfürstentum im Osten und das polnisch-litauische Reich im Westen – geriet, und zum "Land an der Grenze" im direkten Sinne dieses Wortes wurde, kam sie ins Spannungsfeld der zwei einflußreichen Weltkonfessionen - des lateinischen Katholizismus des Westens und der byzantinischen Orthodoxie des Ostens. Die Rolle einer kulturellen Brücke, und zwar zwischen West-, Mittel- und Osteuropa, hat die Ukraine in verschiedenen Epochen gespielt. So war sie ab dem Mittelalter bis zum Ende des 17., Anfang des 18. Jh. (bis zur Zeit der Regierung Peters des Großen in Rußland) die wahre Übermittlerin der westlichen kulturellen Einflüsse nach Osten gewesen, quasi "Bindeglied" zwischen westeuropäischen Ländern und Moskauer Reich.(19)

Die politische Bedeutung dieses Landes als einer Brücke zwischen verschiedenen Mächten war nie unterschätzt worden: auch der Ausgang des ersten und des zweiten Weltkrieges hing in hohem Maße von der Situation in der Ukraine ab. Heute beeinflußt die Ukraine auch indirekt das Gewicht Rußlands in Hinblick auf die Europäische Union. Die Beziehungen zwischen den Nachbarstaaten sind aber noch gespannt. Hier ist die Frage nach der nationalen Identität beider Völker - der Ukrainer wie der Russen - von großer Bedeutung. Sogar den liberal denkenden Russen fällt es schwer, die Unabhängigkeit der Ukraine anzuerkennen. Sie kommen nicht damit zurecht, eine Minderheit in der Ukraine zu sein. Die Unabhängigkeit der Ukraine ist wichtig für die Freiheit Mitteleuropas und die Demokratie in Rußland selbst.(20) Wie sich die Ukraine weiter entwickelt - als unabhängiger demokratischer Staat, oder als neuer Satellitenstaat von Rußland, hängt aber nicht zuletzt von der Frage der eigenen Identifikation ab. Dabei wäre es wichtig zu ergründen, wie es zustande kam, daß ein Volk, das im Laufe der letzten 300 Jahre unter verschiedenen Großmächten zerteilt war, ungeachtet der politischen, konfessionellen und kulturellen Gespaltenheit, eine eigene Identität und indigene Kultur gestalten konnte. Die historisch bedingte Gespaltenheit ist bis heute auf mehreren Gebieten und Niveaus des gesellschaftlichen Lebens der Ukrainer zu spüren. In der Politik steht sie der Durchführung demokratischer Reformen im Wege.

Zu den zentralen Momenten des kulturellen Ausdrucks jeder nationalen Identität gehören, außer der Geschichte und Religion, die Sprache und Literatur als Widerspiegelung der mentalen Merkmale. Die Konzentration auf diese Momente könnte bei der Analyse der Gespaltenheit der Mentalität der Ukrainer Licht auf viele wichtige Nuancen werfen. Laut Milan Kundera ist die Identität des Volkes, die Zivilisation, in dem, was der Geist produziert, was als "Kultur" definiert wird, widergespiegelt und konzentriert.(21) Wenn eine Identität bedroht wird, intensiviert sich das kulturelle Leben. Einer der besten Ausdrücke dieser Intensivierung war immer die literarische Dichtung in der eigenen Nationalsprache.

Das Interesse an der Geschichte der ukrainischen Sprache war immer mit der Frage der Ethnogenese der Ukrainer verbunden. Man konnte bei verschiedenen historischen Bedingungen, politischer und kultureller Teilung, die Auswirkungen verschiedener Einflüsse auf die Phonetik, Lexik und Semantik der Sprache nicht außer Acht lassen. Wichtig aber war die Tatsache, daß bei der Mannigfaltigkeit formaler Elemente die Wahrnehmung der eigenen Sprache die Rolle eines vereinigenden, signifikanten, geradezu psychischen Faktors übernahm. Besondere Bedeutung bekam dabei die Frage nach der Herkunft der ukrainischen Sprache, über die meistens viel spekuliert wurde. Bei der Beantwortung dieser Frage kann man auch leicht die Folgen der kulturellen Spaltung des Landes verfolgen. In der prorussischen und später sowjetischen Sprachwissenschaft war das allgemeingültige Schema verbreitet, wonach die ukrainische Sprache als eine zu den ostslawischen Sprachen gehörende definiert wurde; man hat in der Forschung diejenigen Tatsachen hervorgehoben, die bewiesen, daß die Merkmale der ukrainischen Sprache in den schriftlichen Denkmälern der Kyjiver Rus` vorkommen. Hier wurde eine publizistische Metapher, ein Mythos von der Herkunft aller drei ostslawischen Sprachen aus "einer Wiege" - der Kyjiver Rus` - entwickelt. Dieser Mythos stand der wissenschaftlichen Erforschung der ukrainischen Sprache im Vergleich zu den süd- und westslawischen, als auch zu anderen indoeuropäischen Sprachen im Wege. Noch im 19. Jh. wurde die ukrainische Sprache als "kleinrussische Mundart" definiert. Die bedeutendsten ukrainischen Sprachforscher Ende des 19. - Anfang des 20. Jh. entwickelten die Theorie der autochthonen Entstehung und der selbständigen Entwicklung der ukrainischen Sprache aus dem Altslawischen. Es ist dabei wichtig zu erwähnen, daß die meisten derartigen Arbeiten, wie von A. Kryms`kyj, E. Tymtschenko, S. Smal-Stozkij, I. Ohienko, Ju. Scheweljow, O. Horbatsch u.a., seit den 30-er Jahren bis zur politischen Wende Ende der 80-er Jahre aus Gründen des Vorwurfes des "Nationalismus" verboten waren. Diese "westliche" Tradition der Erforschung der Geschichte der ukrainischen Sprache konnte nur an den ukrainischen Universitäten in der Emigration weitergeführt werden.

Eine besondere Bedeutung für die subjektive Identifikation der Ukrainer spielte die moderne ukrainische Literatursprache, die erst am Ende des 18. Jh. auf der Basis der Mundarten der zentralen Gebiete (Kiew und Poltawa)(22) entstand. Im Laufe der nächsten Periode hatte sie aber infolge der kulturellen Spaltung immer mehr heterogene Färbungen aufgewiesen: eine starke Russifizierung im Osten, eine Polonisierung und Germanisierung im Westen. Besonders deutlich wurde die Sezession des Ukrainischen im Laufe des 20. Jh. Mit der Etablierung der Sowjetmacht in der Ostukraine kurz nach dem I. Weltkrieg (mit Recht Großukraine genannt), begann die schonungslose Assimilation der ukrainischen Bevölkerung. Russisch, als "lingua franca" des Sowjetstaates alleingültige Amts- und Machtsprache, verwandelte das Ukrainische in diesen Gebieten in eine Sprache zweiten Ranges, die sogenannte "Küchensprache". "Maßnahmen", wie die Industrialisierung und die damit verbundene Migration der Bevölkerung, aber noch mehr die blutigen Repressalien des stalinistischen Regimes gegen die ukrainischen Intellektuellen (Ende der 20er bis Ende der 30er Jahre)(23) führten zu starken Säuberungen vom ukrainischen Element in diesem Teil der Ukraine, obwohl sich hier bis Ende der 20er Jahre wichtige Zentren der ukrainischen Sprache befanden (besonders stark waren sie in den traditionellen Zentren der ukrainischen klassischen Kultur - in den Regionen Kyjiv, Charkiv und Poltawa). Bis heute haben noch die Veröffentlichungen der Wörterbücher der ukrainischen Sprache in Charkiw in den Jahren 1929, 1930, 1932, deren Verfasser repressiert wurden oder emigrieren mußten, normative Bedeutung.(24) Als Resultat der 70-jährigen Politik der Nivellierung und der Assimilation entstand einerseits bei der Mehrheit der Sowjetukrainer ein tiefgreifender psycholinguistischer Komplex hinsichtlich einer sprachlichen Minderwertigkeit, andererseits kam es zur Zerstörung des einheitlichen lexikalischen Fundus, zur Entstehung der sogenannten "Surshyk"-Sprache(25) (einer unbewußte Mischung der ukrainischen und russischen Lexik). Dagegen konnte die Bevölkerung der westlichen Gebiete der Ukraine, ungeachtet der chauvinistischen Kulturpolitik der polnischen Regierung in der Zwischenkriegszeit auf diesem Boden, dank der noch in der Zeit der Donaumonarchie herausgebildeten starken Tradition des nationalen Bewußtseins die ukrainische Sprache in breitem Maße in lebendiger Form erhalten. Die Muttersprache spielte als wichtiger Faktor des nationalen und politischen Selbstbewußtseins der westlichen Ukrainer auch in den Jahrzehnten der Russifizierung unter dem kommunistischen Regime nach dem II. Weltkrieg eine große Rolle, was auch während der "Wende" starke Auswirkungen auf andere Regionen, besonders auf die Hauptstadt Kyjiv hatte. Ukrainisch zu sprechen hatte längere Zeit doppelte Bedeutung gehabt: einerseits bedeutete es einen Protest gegen die offiziöse Sprachpolitik (was nicht immer harmlose Folgen haben konnte), andererseits war es ein wichtiger (obwohl nicht ohne bestimmte Beschönigung) Ausdruck der eigenen nationalen Identität. Eine kulturelle Spaltung des Landes sollte diesem Prozeß nicht im Wege stehen. Am 1. Januar 1990, über ein halbes Jahr vor der Souveränitätserklärung der Ukraine, wurde das Ukrainische zur offiziellen Staatssprache erklärt. Mehrerer tiefwurzelnder Hindernisse ungeachtet, begann in der Ukraine der Prozeß der nationalen und sprachlichen Wiedergeburt. Ukrainisch verwandelt sich allmählich auf dem gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Felde in die Sprache der Elite. "Die Elite wird man nachahmen" - meint Larissa M.L.Z. Onyshkewych, eine Erforscherin der heutigen sprachlichen Probleme in der Ukraine.(26) Zum Prestigegewinn der ukrainischen Sprache in immer breiteren Kreisen, besonders unter der jüngeren Generation, trägt auch die Pflege dieser Sprache durch die modernen Massenmedien bei, die eine für die ganze Ukraine gültige Norm der Sprache auszuarbeiten anstreben. Die ukrainische Sprache wird in den Schulen, an den Universitäten und in den Behörden gefördert, sie soll aber die moderne ukrainische Nation nicht primär als ethnisches Kriterium begründen. Eine wichtigere Rolle, wie oben gesagt, spielt in der Ukraine heute das Konzept einer politischen Nation, wobei die Idee der Staatlichkeit allmählich an Priorität gewinnt. Diese Tatsache ergibt auch die Perspektive der Fortentwicklung einer sprachlich definierten nationalen Identität.

Was die Literatur anbetrifft, so könnte man sagen, daß sie in Hinblick auf die ästhetische Wiedergabe feinster mentaler Momente in Fragen kultureller Eigentümlichkeiten eines bestimmten Volkes, verschiedener Nuancen seiner nationalen Identität, eine ungeheuer große Rolle spielt. Die nationale Literatur bringt mehrere Elemente der ethnischen bzw. nationalen Identität, welche durch Geschichte, Religion und Sprache nur einzeln widergespiegelt worden, zusammen. Sie bildet einen eigentümlichen Spannungsbogen zwischen verschiedenen Arten des Ausdrucks der mentalen Besonderheiten eines Volkes. Die ukrainische Literatur ist das beste Zeugnis, wie die kulturelle Spaltung im geistigen Leben der Ost- und Westukrainer zustande kam und wie kompliziert die Wege waren, ungeachtet dieser Gespaltenheit, zu einer einheitlichen nationalen Identität zu kommen, eine gesamtukrainische nationale Literatur im modernen ästhetischen Sinne zu schaffen.(27)

Welche Rolle der Literatur bei der Bekämpfung der kulturellen und religiösen Spaltung in der Ukraine schon in der frühen Neuzeit zukam, sieht man am Beispiel ihrer ersten Blüte in der Barockzeit des 17. Jh., wo sie apologetisch in rhetorischer Form gegen die kirchliche Union und für die Orthodoxie in der Ukraine eintritt. Zu nennen ist hier das Schaffen von M. Smotryc`kyj und I. Wyschens`kyj, deren Werke die besten Beispiele der Publizistik aus dieser Zeit sind. Zu den bekanntesten Polemikern auf der Seite der Unierten dagegen gehörte I. Potij. Eine besondere Bedeutung für die geistige Konsolidierung beginnt die neue, in beiden Teilen der getrennten Ukraine entstandene Literatur im 19. Jh. zu spielen, die einen großen Einfluß auf die Entwicklung des subjektiven Bewußtseins des Volkes ausübte. Wie erwähnt, geriet die Ukraine am Ende des 18. Jh. in den Schatten der zwei Hauptstädte - Wien und St. Petersburg. Die Herrschaft der zwei Throne hat unterschiedliche Auswirkungen auf das geistige Leben des Landes gehabt. Während sich die kulturelle Entwicklung der westlichen ukrainischen Gebiete - Ostgalizien und Bukowina - im Rahmen des einheitlichen mitteleuropäischen kulturellen Raumes der Donaumonarchie vollzog, war das geistige Leben der Ukrainer in den östlichen Gebieten unter den Bedingungen der russisch-zaristischen Autokratie großer Unterdrückung unterworfen. Einzigartig in der ganzen Kulturwelt von damals ist das offizielle Verbot der ukrainischen Sprache in Wort und Schrift im zaristischen Rußland.(28) Dank ihm konnte auf dem zu Rußland gehörenden ukrainischen Boden im Zeitraum von 30 Jahren (bis zur Revolution 1905-1906) in ukrainischer Sprache kein Buch veröffentlicht, keine Theateraufführung durchgeführt werden. Als Folge dieses Verbotes begann die Emigration der Literaten und Gelehrten in die westlichen Gebiete der Ukraine; die meisten ihrer Werke wurden zu dieser Zeit auch nur hier gedruckt. Am Beispiel einzelner Schicksale der bedeutendsten ukrainischen Dichter des 19. und des 20. Jh. kann man die Hauptzüge des literarischen Schaffens in der Ukraine verfolgen, sowie die Bedeutung der Folgen der politischen und kulturellen Teilung aufzeigen.

Die Gestalt des ostukrainischen Dichters Taras Schewtschenko (1814-1861) ist für viele Ukrainer bis heute ein Symbol des national-kulturellen Erwachens und der Wiedergeburt geblieben. Sein Schaffen verkörpert auf der einen Seite die Idee der Entstehung "einer freien, neuen Ukraine", auf der anderen Seite war es eine Synthese früherer sprachlicher und poetischer Elemente, besonders derjenigen, die sich in der mündlichen Tradition der ukrainischen Volksdichtung im Laufe der Jahrhunderte entwickelten. T. Schewtschenko, vom russischen Zaren Nikolaus I. verfolgt und bestraft (zehnjährige Verbannung nach Kasachstan, der ein früher Tod folgte) wurde zur Inkorporation des tragischen Schicksals des ukrainischen Volkes, zum nationalen Märtyrer. Sein Werk, das von großer literarischer Qualität gekennzeichnet ist, inspirierte die Ukrainer in beiden Teilen des gespaltenen Landes, führte viele Literaten zur ukrainischen Sprache und Problematik zurück. Prägnant ist diesbezüglich das dichterische Schicksal des bukowinischen Dichters Jurij Fed`kowytsch (1834-1888), der, als k. und k. Offizier seine Poesien zuerst deutsch verfaßte, sich nach der Bekanntschaft mit dem Schaffen von T. Schewtschenko im Jahre 1860 aber endgültig für die ukrainische Sprache in seinem Schaffen entschied. Trotz Verboten fand das Werk von T. Schewtschenko weite Verbreitung in allen ukrainischen Regionen, es wurde allmählich quasi zur "Bibel des Volkes", zum tatkräftigen Element des subjektiven Bewußtseins seiner kulturellen Identität.

Als zweiter ukrainischer Klassiker ist Iwan Franko (1856-1916) zu nennen, der zu den bedeutendsten Autoren der Westukraine zählt. Sein dichterisches Weltbild basiert einerseits auf den Grundlagen der Tradition des ukrainischen Schrifttums (insbesondere des Werkes von Schewtschenko), andererseits ist es eng mit dem gesamteuropäischen Kulturgut verbunden. Als universell talentierter und allseitig gebildeter Mensch war I. Franko eine schicksalhafte Persönlichkeit für die westukrainische Kultur. Seine Forschungsarbeiten auf wissenschaftlichem Gebiet (Philosophie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Geschichte, Politik und Wirtschaft), sein lyrisches, dramatisches und episches Werk, sein Schaffen als Übersetzer schöngeistiger Literatur aus mehreren Sprachen sind ein gutes Beispiel der Leistung eines ukrainischen Intellektuellen, der sich als europäischer Bürger im breiteren Sinne dieses Wortes - politisch und kulturell - fühlte. (Als galizischer Ruthene, also Westukrainer, hatte I. Franko die österreichische Staatsbürgerschaft; er hatte an der Lemberger, Czernowitzer und Wiener Universität studiert, schrieb seine Werke auf Ukrainisch, Deutsch und Polnisch). Die galizische Mundart, in der Franko seine Schriften verfasste, akkumuliert die Besonderheiten der ukrainischen Sprache der westlichen Region - die starke Polonisierung und Germanisierung, dabei behielt sie aber viel von der eigentümlichen ukrainischen Lexik, die unter der Russifizierung im Osten verlorengegangen war.

Die beiden Klassiker der ukrainischen Literatur wurden in der Ukraine kanonisiert. Sie verwandelten sich in einen nationalen Mythos, der bis heute wirkt und unter den ukrainischen Intellektuellen immer noch weit verbreitet ist. Sie wurden sogar in der kulturellen Tradition mit den mythologischen Namen "Kobsar" und "Kamenjar" benannt.(29) In der Sowjetzeit deutete man sie als revolutionäre Sozialdemokraten, Vertreter des kritischen Realismus in der ukrainischen Literatur, deren Werk zwar zum Schulprogramm gehörte, aber sehr stark ideologisch zensiert war. Obwohl besonders die Gestalt von Schewtschenko während der letzten 150 Jahre beinahe kultisch verehrt wurde, erschienen während der letzten Jahre neue Interpretationen des Schaffens dieser Dichter. Eine der meistdiskutierten Publikationen stellt die kulturphilosophische Studie von Oxana Sabuschko über Schewtschenkos Ukraine-Mythos dar, in der sie gegen die Ikone des ukrainischen Nationalbewußtseins schreibt.(30) Von der selben Autorin stammt auch die Forschung über I. Frankos national-existentielles Suchen, in dessen Gestalt sie die Konzentration der geistigen Erfahrung der ukrainischen Intellektuellen der Jahrhundertwende sieht.(31) T. Hundorowa stellte im Titel ihrer literaturwissenschaftlichen Monographie, in der  sie die Momente des Modernismus im Werk des Dichters erforscht, die Frage: "War I. Franko wirklich ein Steinbrecher?"

Die anderen ukrainischen Autoren der Jahrhundertwende, solche wie die Dichterin Lesja Ukrainka (1871-1913), der anerkannte Impressionist M. Kozjubyns`kyj (1864-1913), der einmalige Darsteller des Lebens der Huzulen in den Karpaten H. Chotkewytsch (1877-1938), die aus den östlichen Gebieten des Landes stammten, fanden im Westen der Ukraine große Anerkennung und Unterstützung, was für die geistige Erfahrung und das subjektive Bewußtsein der Ukrainer in dieser wichtigen Zeit, an der Schwelle der Gründung der ersten Staatsgebilde am Ende des I. Weltkrieges, von großer Bedeutung war.

Die neue Teilung der Ukraine in der Zwischenkriegszeit - in einen bolschewistischen Osten und einen unter die Übermacht Polens gestellten Westen - findet auch symptomatischen Widerklang im Schaffen ihrer Dichter. Wenige Schicksale könnten dabei die möglichen Wege, die dieser Generation bevorstanden, zum Ausdruck bringen. M. Chvyl`ovyj (1893-1933), der eigentümliche Vertreter des Nationalkommunismus in der neuen sozialistischen ukrainischen Literatur, ging mit seinem Appell für die von Rußland unabhängige, westlich orientierte ukrainische Kultur einen Weg, der unter den Bedingungen der "Säuberungen" des stalinistischen Regimes unter der ukrainischen Elite in den Selbstmord führte. Das zweite Modell der möglichen Entwicklung unter den damaligen Bedingungen kann man im Schicksal des bekannten Lyrikers dieser Generation, P. Tytschyna (1891-1967) sehen. Dieser Dichter trat als einer der talentiertesten Vertreter der Moderne in die ukrainische Literatur, wurde aber ziemlich schnell zum offiziösen Literaten des kommunistischen Systems in der Ukraine, was schließlich seine dichterische Persönlichkeit in jeder Hinsicht nivellierte. Interessante Beobachtungen machte der westukrainische Schriftsteller R. Kuptschyns`kyj, als er nach der "Wiedervereinigung der Ukraine" in einer Sowjetrepublik im Jahre 1939(32) den bekanntesten Dichter der Sowjetukraine kennenlernte:

"Tytschyna machte den Eindruck des Schattens von einem Menschen, einer Mumie, die das Leben zurückbekam und durch die Welt wandert, die nichts sieht und hört, ab und zu nur die rhytmische Agitprop schreibt. Freilich kommt manchmal zwischen den Zeilen ein Strahl vom alten Tytschyna durch, es ist aber nur ein kurzdauernder Glanz".(33)

Ein interessantes Beispiel eines talentierten Schriftstellers, der infolge der Suche nach seiner ukrainischen Identität an der Grenze der zwei Kulturen an die politische Grenze verschiedener Mächte geriet und letztlich vernichtet wurde, ist die Gestalt von J. Halan (1902-1949). Er begann sein Schaffen mit vielversprechender Kurzprosa in der Westukraine der polnischen Zwischenkriegszeit, wobei er die Werke in beiden Sprachen (Ukrainisch und Polnisch) verfaßte. Das Interesse für die kommunistischen Ideen und die Intentionen der Wiedervereinigung der Ukraine führten ihn in das Lager der Anhänger einer Etablierung der Sowjetmacht in Ostgalizien, was sein ganzes Schaffen in den Rahmen der politisch-propagandistischen, manchmal sogar aggressiven Propaganda stellte. Im dem Moment aber, in dem der Schriftsteller dem Regime nicht genug "orthodox" erschien, fiel er dem Vernichtungsapparat zum Opfer. Mit typischem Zynismus wurde er später zum Idol der Sowjetpropaganda in der Westukraine gemacht.

Die stalinistische Zwangsordnung, die offene Verfolgung der Andersdenkenden, die öfters mit der Todesstrafe endete, sperrte, laut der ukrainischen Dichterin der kurzen "Tauwetterzeit" Ende der 50-er Anfang der 60-er Jahre, Lina Kostenko, "den Gedanken der Zeit in den verriegelten Frachtwaggon". Alles, was danach erschien, könnte man unter drei Begriffe einordnen: eine aggressive, sozialistisch-realistische Pseudoliteratur, ein kitschiger Folklorismus, der vom Regime bewußt gefördert wurde und die illegal verbreitete, legendär gewordene Literatur des ukrainischen Untergrundes. Zu den hervorragendsten Gestalten der letzteren gehört der Dichter Wassyl Stus (1938-1985). 1985, als in Moskau schon Gorbatschow regierte, wurde er im sowjetischen Straflager in den frühen Tod geschickt. W. Stus, einer der bedeutendsten ukrainischen Lyriker und Übersetzer der europäischen Poesie der Moderne, selbst mit der kulturellen Tradition des ukrainischen Ostens und Zentrums, dem "klassischen ukrainischen Boden", eng verbunden, wurde öfters "Schewtschenko des 20. Jh." genannt. Sein Bild der Ukraine - des Landes, das "sich in allzu langes Schweigen hüllt"(34)- durfte er, vielleicht als letzter, mit Recht in Trauer einhüllen, da er dafür mit seinem Leben bezahlte. Kein einziges Buch konnte auch der westukrainische Dichter H. Tschubaj (1949-1982) veröffentlichen. Das Thema des Leidens kommt aber in seiner Dichtung anders vor: "Spielt nicht alle gleichzeitig den Helden, ... stellt euch an für das Heldentum und wartet", was in der Zeit nach der Unabhängigkeitserklärung, als man mit dem Thema "des ukrainischen Leidens" zu spekulieren begann, immer mehr an der Aktualität gewann.

Eine Regimeanbiederung oder der Weg des Protestes und des Märtyrers waren das Schicksal der ukrainischen Dichter des "langen Winters" der Breschnew-Ära. Im Allgemeinen spiegelt sie die Geisteszustände der Ukrainer in den letzten Jahrzehnten vor dem Zerfall der Sowjetunion wider, wobei der zweite Weg mehr im Westen des Landes verbreitet war, was die Entstehung einer demokratischen Bewegung gerade hier zufolge hatte. Es war auch die sogenannte Peripherie der westlichen Gebiete der Ukraine, wo an der Wende von den 80-er zu den 90-er Jahren die an der gesamteuropäischen Phänomene der modernen Kunst orientierte alternative Literatur entstand. Am besten spiegelt das Schaffen des international anerkannten Schriftstellers, Dichters und Herausgebers J. Andruchowytsch(35), dem es gelungen ist, die zeitgenössische ukrainische Literatur der Marginalien ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, die Grundzüge dieser Literatur wider. Die wichtigsten Intentionen seines Schaffens beziehen sich auf die verschiedenen Probleme der Mentalität der heutigen Ukrainer und ihrer nationalen Identität: von der Überwindung des bisweilen stark gepflegten Heldentums bis zur Suche nach den neuen geistigen Werten, wo eben die nationale Identität in den Hintergrund des Menschenmasses tritt. Interessant wäre zu bemerken, daß der Schriftsteller die alte, "prosowjetische" und "prorussische" Tradition in der Ukraine sarkastisch mit dem "byzantinischen Ritus" im breiteren Sinne verknüpft.(36) So kommt hier die Selbstbestimmung und Selbsteinschätzung der ukrainischen Intellektuellen als Europäer zutage. Dies zählt zu den wichtigen positiven Momenten in der Herausbildung der modernen ukrainischen Identität. Die eindeutig europäische Orientierung findet man auch in breiteren Massen unter der ukrainischen Bevölkerung(37), was als Ergebnis des komplexen Zusammenwirkens mehreren historischer, konfessioneller und kultureller Elemente im Prozeß der Entwicklung der eigenständigen Identität eingeschätzt werden kann.

Gerade in dieser Hinsicht könnte der Fall der Ukraine repräsentativ sein. Ein Spannungsfeld der Kulturen erzeugt zwei Prozesse bei der Gestaltung der Identität: ein Zusammenstoß der Kulturen auf der einen Seite und deren Durchdringung auf der anderen Seite kann eine neue Ausprägung in qualitativer Hinsicht zufolge haben. Diese Prozesse aktivieren sich dementsprechend besonders dann, wenn es um Neugestaltung geht. Neue nationale Identität umfaßt und verschmilzt zu einem neuen Amalgam, das die wesentlichsten Züge der beiden Mentalitätstypen der Ukrainer beinhält - die unter dem Einfluß der lateinischen Tradition geformten westlichen und die von der byzantinischen Orthodoxie geprägten östlichen. Was Sprache, ethnische und kulturelle Merkmale anbetrifft, so kann man sie nicht als ein monolithisches Gebilde sehen. Die wichtigste Rolle spielt hier heute die politisch-staatliche Situation. Zum "Schmelztiegel" der neuen ukrainischen Identität wird die Gründung des eigenen einheitlichen Staates, zur wichtigsten Vorbedingung - die Demokratie. Die Einheit wird aber nicht nur zum geographischen und staatlich-politischen Begriff, sondern auch zum psychologischen. Die Annäherung in der Lebensweise, und im geistigen Zustand zwischen Osten und Westen der Ukraine hat begonnen.

Es wäre aber für die Zukunft der Ukraine wichtig, bei allem westlichen Tendieren (was besonders bei den Eliten zutage kommt und von der ukrainischen Diaspora unterstützt wird(38)) die historische Perspektive nicht gänzlich zu verwischen. Das byzantinische Erbe, sowohl der griechisch-orthodoxen, als auch der griechisch-katholischen ukrainischen Gemeinden, die anderen langfristigen Tendenzen (nicht zuletzt der kulturelle Einfluß von Rußland, die Politik der Nivellierung in der Sowjetzeit), könnten bei der rasanten Entwicklung, in den Hintergrund treten; ihre Folgen aber werden nicht in einer Nacht verschwinden. Umso wichtiger wäre es, die Kontakte mit Westeuropa, mit dem Westen im breiten Sinne des Wortes zu entwickeln, aber auch die Beziehungen zum nächsten Nachbarn im Osten – zu Rußland, auf einem entsprechenden intellektuellen und politischen Niveau aufzubauen.

© Larissa Cybenko (Lviv/Ukraine)

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Anmerkungen:

(1) Laut neuester Statistik beträgt die Bevölkerungszahl der Ukraine ca. 50 Mio. Einwohner. Infolge der niedrigen Geburtenraten, der Auswanderung und der hohen Sterblichkeit verringert sich die Bevölkerungszahl in letzter Zeit ständig.

(2) Laut einer sarkastischen Äußerung einer Journalistin der Zeitung "The Times", fiele es den Europäern leichter, die Frage zu beantworten, ob es auf dem Mars Leben gibt, als zu sagen, wer die Ukrainer sind. Nicht leichter fiele es ihnen zu begreifen, was auf diesem, zu Europa zählenden, Stück Boden passiert. (Nach der ukrainischen Zeitung "Postup", N 69, 4.04.1998).

(3) Ein ausführliches Literaturverzeichnis der Werke über die Ukraine in diesen drei Sprachen findet man in der Arbeit von Andreas Kappeler "Kleine Geschichte der Ukraine", München: Beck, 1994. Eine umfangreichere Anzahl von Werken in ukrainischer, polnischer und russischer Sprache ist, leider, nur einem eingeschränkten Interessentenkreis zugänglich.

(4) Huntington, Samuel P., Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. - Europaverlag - München-Wien. 3. Aufl. 1997.

(5) Huntington, Samuel P. Op. cit. - S. 214 ff.; S. 251, S. 263 ff.

(6) Ibid. - S. 216.

(7) Ibid. - S. 44-45. Hier ist anzumerken, daß die Ukraine der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion ist, wo es ungeachtet aller Spannungen und Prognosen, nicht zu blutigen Auseinandersetzungen kam.

(8) Diesbezüglich seien nur einige Stellen aus dem Werk zitiert, z.B. - S. 45: "Ein kultureller Ansatz würde Rußland und die Ukraine zur Zusammenarbeit ermutigen, die Ukraine zum Verzicht auf ihre Kernwaffen drängen (was wirklich eintrat! - L.C.) und für umfangreiche Wirtschaftshilfe und sonstige Maßnahmen eintreten, die dazu dienen könnten, die Einheit und Unabhängigkeit der Ukraine zu erhalten und Pläne für den Fall zu erstellen, daß sie auseinanderfällt"; oder S. 257: "Aber die NATO-Erweiterung, die auf Länder beschränkt ist, welche historisch Teil der westlichen Christenheit sind, garantiert Rußland auch, daß der NATO nicht Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldau, Weißrußland angehören, auch nicht die Ukraine, solange die Ukraine geeint bleibt."

(9) Huntington, Samuel P. Op. cit. - S. 268.

(10) Ibid.

(11) S. dazu auch der Artikel der Verfasserin: Mythen in der ukrainischen Vergangenheit und Gegenwart. - In: Das Bild vom Anderen. Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen. Hg. V. Heuberger, Ar. Suppan, E. Vyslonzil. - Peter Lang. Wien 1998. - S.105 - 122.

(12) Diese Daten sind den Ergebnissen einer Repräsentativbefragung in der Ukraine zu außenpolitischen, ökonomischen und regionalen Fragen ("Die Ukraine und ihre Regionen zwischen Rußland, NATO und EU"), entnommen, die vom Forschungsverbund von Socis Gallup, Kiew; Prof. Dr. R. Münz, Lehrstuhl Bevölkerungswissenschaft der Humbolt-Universität Berlin und Dr. H.-P. Meier-Dallach , Kultur Prospektiv, Zürich durchgeführt wurde. - Berlin, Kiew und Zürich, 23. Juni 1997.

(13) Ein Beweis für die Hochschätzung der eigenen Staatlichkeit durch die ukrainischen Bürger war die negative Stellungnahme unter breiten Kreisen der Bevölkerung zum Krieg in Tschetschenien, der von Rußland Anfang der neunziger Jahre geführt wurde. In diesem Fall sollten die Ukrainer nicht mehr als Soldaten für die großstaatlichen Interessen Rußlands kämpfen, wie es noch im Krieg in Afganistan war, dem viele junge Ukrainer zum Opfer fielen.

(14) So wurden, z.B. die Ikonen der Gottesmutter im 17.-18. Jh. nach dem byzantinischen Kanon, aber im westeuropäischen Gewand gemalt.

(15) Die privilegierte Stellung der Polen in Galizien und der Ungarn in Transkarpaten nach 1867 schuf für die Ukrainer in diesen Regionen eine Situation des permanenten Kampfes für ihre Rechte. Infolge der verschiedenen politischen Orientierungen entstand die Trennung zwischen Slawophilen (auch Moskwophilen) und westlich Orientierten.

(16) Kappeler A. Op. cit. - S. 143.

(17) Der 17. September 1939 wurde in der Sowjetzeit als "Tag der Wiedervereinigung der Ukraine" gefeiert. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in der Westukraine aus Unwissen von der Unterjochung der breiten Volkmassen in der Sowjetukraine die Rote Armee begrüßte, kam es ziemlich schnell auch hier zu stalinistischen Repressalien gegen Andersdenkende.

(18) Der alte Name des ersten Staates auf ukrainischem Boden, Kyjiver Rus`, der alle Ostslawen umfaßte, (eigentlich "Rus`") wurde ab dem 10. Jh. von den nördlichen ostslawischen Stämmen (Vorfahren der heutigen Russen) übernommen. "Ukraina" wurde schon seit dem 12. Jh. in den Chroniken zur Bezeichnung der südostslawischen Gebiete verwendet. Schon die zwei am meisten verbreiteten Erklärungen des Namens - "das Land an der Grenze, das Land am Rande" - zeugen von der Möglichkeit der spekulativen Deutung dieses Begriffes: wenn der ältere Blick von Byzanz die Grenze des byzantinischen Christentums meint, so ergibt der Blick von Moskau "am Rande des Moskauer Reiches", "an der Grenze von Rußland", wovon auch der spätere Begriff "Kleinrußland" stammt. Der Name "Rus`" und die davon abgeleitete Formen "Rusine", "rusinisch" war aber unter den breiten Kreisen, besonders unter den österreich-ungarischen Ukrainern im 19. Jh. verbreitet. Der deutschsprachige Terminus "Ruthene", "ruthenisch" ist die direkte Fortsetzung des mittelalterlich-lateinischen Bezeichnung der südlichen Ostslawen "Rutheni".

(19) Z. B., die Verbreitung der Buchdruckerkunst im 16. Jh., mehrere westeuropäische Einflüsse in der kirchlichen Musik etc.

(20) Im Fall der Möglichkeit einer eventuellen neuen Annexion der Ukraine von Rußland.

(21) Kundera, Milan. Die Tragödie Mitteleuropas. In der ukrainischen unabhängigen kulturologischen Zeitschrift "Ji", N 1(6) 1995, Lviv. - S. 26-27. Gute Beispiele dafür: die große Rolle des kulturellen Gedächtnisses und die Aktivierung des kulturellen Lebens in den zentral- und osteuropäischen Staaten in der Zeit vor der Wende. (Die Dichter gingen in die Politik - W. Havel in Tschechien, D. Pawlytschko u.a. in der Ukraine).

(22) Als Begründer der neuen ukrainischen Literatursprache zählt der poltawaer Dichter und Freimaurer Iwan Kotlarews`kyj (1769-1838); die endgültige Ausdrucksform, die im Osten sowie im Westen der Ukraine als klassisches Muster bis heute gilt, gewann das Ukrainische im Schaffen von Taras Schewtschenko (1814-1861). Als erster Nationaldichter der Westukraine gilt der galizische Dichter Markijan Schaschkewytsch (1811-1843).

(23) Der stalinistische Massenterror in der Ukraine war nicht nur gegen einzelne Andersdenkende gerichtet, sondern auch gegen mehrere "unpassende" ukrainische wissenschaftliche und kulturelle Institutionen. - Näheres darüber in: Kostiuk H. Stalinist Rule in the Ukraine: A Study of the Decade of Mass Terror 1929-39. - London, 1960.

(24) Das ukrainische orthographische Wörterbuch von H. Holoskevych entspricht den Normen der ukrainischen Rechschreibung der Allukrainischen Akademie der Wissenschaften. - Charkiw, 1929.
Die Verfasser des 1932 in Charkiw veröffentlichen ukrainischen Wörterbuches der Fremdwörter I. Bojkiw, O. Izjumow, H. Kalyschews`kyj und M. Trochymenko wurden Anfang der 30er Jahre repressiert.

(25) Mit diesem Wort bezeichnet man die Mischung aus Roggen und Weizen beim Brotbacken.

(26)Essays on ukrainian orthography and language. - Proceedings of The Sixteenth Annual Conference on Ukrainian Subjects at the University of Illinois at Urbana-Champaigh, June 20-25, 1997. Published by The Shevchenko Scientific Society (USA). - New York - Lviv, 1997. (In ukrainischer Sprache).

(27) Den kurzen Exkurs in die Geschichte der ukrainischen Literatur findet man im Essay von A. Woldan Die Ukraine - ein neuer Staat mit alten Traditionen. In: Literatur und Kritik. Mai 1996.

(28) Der sogenannte "Emskij" oder "Hrigoejewskij ukaz" von 1876.

(29) "Kobsar" bezeichnet im Ukrainischen den wandernden Barden, der zum Saiteninstrument Kobsa die mündlich überlieferten Volksdichtungen rezitierte. Die Tradition dieser Dichtung spielte in Schewtschenkos Schaffen eine entscheindende Rolle, so daß er seine Gedichtsammlung auch "Kobsar" nannte. "Kamenjar" - im Ukrainischen "Steinbrecher" - ist der Name eines der bekanntesten Gedichte von Franko, das für sein Schaffen programmatisch wurde.

(30)Wie die Neue Züricher Zeitung schreibt (27.4.1998), "Sabuschko analysiert in tadelloser philologischer Feinarbeit Schewtschenkos verklärende Konstruktion seiner strahlenden Heimat, die von einem dämonisch-satanistischen Rußland unterdrückt wird. Die Kritik stößt sich bereits an dieser Themenstellung: wie könnte man von einem Ukraine-Mythos sprechen, wenn alles, was Schewtschenko schreibe, die lautere Wahrheit sei? Die fast einhellig ablehnende Haltung der ukrainischen Literaturkritik gegenüber Sabuschkos Buch kommt indessen einer Selbstentlarvung gleich: Sie zeigt, daß man in der Ukraine noch weit davon entfernt ist, ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zu den eigenen Nationalmythen zu gewinnen". Ulrich M. Schmid. Arbeit am Mythos. Dekonstruktion des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko.

(31) Unter dem Titel "Philosophie der ukrainischen Idee und der europäische Kontext" erschien die Arbeit von O. Sabuschko in Kyjiv 1993.

(32) Laut dem Vertrag zwischen Hitler und Stalin wurde das damalige Polen zum vierten Mal geteilt. Das Territorium der Westukraine geriet bis Juni 1941 unter die Sowjetmacht.

(33) Zitert nach den Erinnerungen von Roman Kuptschyns`kyj "Kyjiver Schriftsteller in Lviv", die in der ukrainischen Zeitung "Postup", N 117(126), 30.06.1998 veröffentlicht wurden.

(34) Die Übersetzungen der Gedichte von Wassyl Stus erschien in der deutschen Sprache unter dem Titel "Du hast dein Leben nur geträumt". – Gerold & Appel, Hamburg, 1987.

(35) Unter anderem: J. Andruchwitsch (Hrsg.): "Reich mir die steinerne Laute. Ukrainische Lyrik des 20. Jahrhunderts". Aus dem Ukrainischen übersetzt von A.-H. Horbatsch. - Brodina-Verlag, Reichelsheim 1996.
Deutsch wurde ein Artikel von J. Andruchwytsch "Stanislau/Iwano-Frankiwsk" in der Zeitschrift "Literatur und Kritik", Februar 1997. - S. 5-7 veröffentlicht.

(36) Die Erläuterungen von J. Andruchowytsch in seinem Artikel über die ukrainische Elite, der für die allukrainische Zeitung "Den`" ("Der Tag") geschrieben wurde.

(37) Laut der obenerwähnten Ergebnissen der Repräsentativbefragung in der Ukraine, besteht unter der Bevölkerung der Ukraine größere Sympathie für eine wirtschaftliche und politische Westintegration, also für einen EU-Beitritt.

(38) Historisch bedingte Traditionen der Demokratie in der Westukraine, die während der Wende (Ende 80er-Anfang 90er Jahre) eine entscheidende Rolle für die ganze Ukraine gespielt hatten, könnten in der nächsten Zukunft wichtig für die Annäherung dieses europäischen Staates an die Europäische Union werden. Sie könnten - der Bemerkung eines westukrainischen Unternehmers nach - die Funktion einer Lokomotive übernehmen, die das ganze Land in die westliche Richtung führt.


Webmeisterin: Angelika Czipin
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