Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Zu Trakl und Nietzsche

Hartmut Cellbrot (Opava)

I

Der Bedeutung Nietzsches für Trakl wird seit einigen Jahren in der Forschung zunehmend Rechnung getragen. In den Mittelpunkt des Interesses ist hierbei Trakls Stellung zu Nietzsches früher Kunstkonzeption gerückt, wie dieser sie in seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik unter der Optik des apollinischen und dionysischen Prinzips entworfen hat.(1)

Im folgenden soll das Augenmerk auf die Bezugsstruktur der beiden Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen, der bislang noch nicht so viel Beachtung geschenkt worden ist, gerichtet werden, um den problemgeschichtlichen Ort der Entsprechungen zwischen dem von Nietzsche diskursiv formulierten Kunstbegriff und dichterischen Gestaltungseigentümlichkeiten bei Trakl kenntlich zu machen.

Dazu seien Züge von Nietzsches Kunstmetaphysik aus der Geburt der Tragödie, soweit sie im anstehenden Zusammenhang belangvoll sind, vergegenwärtigt und näher befragt.

Das Thema der Schrift ist eine Neubestimmung der Kunst, die Nietzsche über die Deutung der antiken Kunst erlangt. Der Grundgedanke der Neupositionierung besteht darin, die Kunst nicht mehr nur als schönen ästhetischen Schein über dem Leben, sondern als unmittelbaren Ausdruck des elementaren Lebens selbst zu deuten. Im Zentrum stehen die mythischen Gestalten Dionysos und Apollon, die zugleich als das Dionysische und Apollinische die zwei universalen kosmischen Welt- und Grundprinzipien symbolisieren.(2)

Hinsichtlich einer Neubeurteilung der Kunst stellt Nietzsche die Frage nach dem Bezug der beiden Prinzipien zueinander in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Gleich zu Beginn der Abhandlung betont Nietzsche den Vorrang dieser Bezugsstruktur:

"Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist".(3)

Die in dem mythischen Bild des Apollinischen und Dionysischen angesprochene Ästhetik verknüpft Nietzsche von vornherein dergestalt mit dem Leben und der Natur, daß er die in der Natur wirkenden Grundkräfte als "Kunstzustände" (GT 30) bezeichnet. Dadurch formuliert er in seiner Frühschrift einen äußerst umfassenden Kunstbegriff.

Diese apriorische Kunst-Leben-Relation stellt Nietzsche in einen mehrfach gestuften Begrün- dungszusammenhang, den er in dreifacher Weise entfaltet, nämlich in psychologischer, ästhetischer und kosmischer Hinsicht. Alle drei Aspekte verweisen aufeinander und sind jeweils Manifestationen der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen.

Für Nietzsche symbolisieren das Apollinische und das Dionysische, dieser "Doppeltrieb der Natur" (GT 48), psychologisch und ästhetisch die "Kunsttriebe" (GT 82) der Griechen und schließlich kosmisch Weltprinzipien, die infolge ihres widerspruchvollen Wirkens ihres "Bruderbundes" (GT 140), die Erscheinung, die der Mensch als empirisches Wesen einnimmt, mithin Subjektivität schlechtnin, hervorbringen.

Psychologisch charakterisiert Nietzsche bekanntermaßen das Apollinische durch den Traum, dessen Bilderwelt, und durch das Maß als Begrenzung des Traums; während das Dionysische sich im Rausch, im Übermaß, in der Selbstvergessenheit und ekstatischen Zuständen offenbart. Ästhetisch zeigen sich die Prinzipien des Apollinischen und Dionysischen als Kunst-Triebe der Griechen, wie sie vor allem in der attischen Tragödie Gestalt geworden sind. Kosmisch fungieren sie als universale Weltprinzipien. Das Apollinische schafft hier nicht allein die Bildwelt des menschlichen Traums, sondern auch das, was der Mensch gewöhnlich als das Wirkliche nimmt. Apoll, den Bildnergott, sagt Nietzsche, möchte man "als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des `Scheins’, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche." (GT 28) So, wie Nietzsche die Bildwelt des menschlichen Traums zum Principium individuationis der Wirklichkeit schlechthin erweitert, steigert er den ekstatischen, menschlichen Rausch zu einem universalen Prinzip, das alle Gestaltbildungen sprengt. Das Dionysische ist der Weltgrund, in den alles Gestaltete und Vereinzelte wieder zurückkehrt, aber aus dem auch alle Einzelwesen hervorkommen, entstehen.

Die Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen figurieren dergestalt für Nietzsche als die beiden "Kunsttriebe" - d. h. die Kunst steht unter der Optik des Lebens (GT 14) - , daß infolge ihres Wirkens der Mensch selbst als "Kunstwerk" (GT 30) angesprochen zu werden vermag. Als individuelle Erscheinung in Raum und Zeit ist er dem apollinischen Prinzip verbunden; im Rausch - dem Zustand der "Verzückung" (GT 56) und Entgrenzung gewinnt das Prinzip des Dionysischen die Oberhand. Das apollinisch Gestalthafte wird wieder dem "fortwährende[n] Werden in Zeit, Raum und Causalität" (GT 39) ) überantwortet.

Dieses bedeutet nun nichts weniger, als daß der Mensch, insbesondere der Künstler die Wirkungsstätte oder das "Medium" (GT 47) der Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen abgibt.

Das Apollinische und das Dionysische in ihrer "gegenseitigen Notwendigkeit" werden "als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen" (GT 30). Der ,,menschliche Künstler" verhält sich somit den "unmittelbaren Kunstzuständen" der Natur gegenüber als "`Nachahmer’" (GT 30) und Vollzugsorgan der in der Natur wirkenden duplizitären Grundkräfte.

Wie das Verhältnis der beiden Prinzipien näher zu verstehen ist, beschreibt Nietzsche folgendermaßen:

"Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genöthigt sind." (GT 38f.)

Das Dionysische setzt Nietzsche in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Schein. In dem "zugleich" überkreuzen sich beide Prinzipien dergestalt, daß im Schein das Dionysische gegenwärtig ist wie umgekehrt der Schein des Apollinischen, die empirische Realität, wozu, wie Nietzsche unterstreicht, das empirische Ich gehört, wiederum, dem fortwährenden Werden und Vergehen unterliegend, als ständig vergehende Wirklichkeit dem Ur-Einen verfällt.

Das "ewig Leidende und Widerspruchsvolle" des "Ur-Einen" (GT 38), wie Nietzsche sich ausdrückt, dessen "ewige[r] Widerspruch" zu sich wie zu allem Gestalthaften in ihrer "gegenseitigen Notwendigkeit" (GT 39) bildet ein inverses Gefüge einer Verspannung des Gegensätzlichen im Übergang, in dem die einander bestreitenden Gegenmächte in ihrem Übergangscharakter nicht als zwei Pole aufzufassen sind, die erst für sich bestehen und dann zueinander in Beziehung treten; vielmehr ist der Bezug der "in einander gewobenen Kunsttriebe" (GT 82), ihres "Bruderbundes" (GT 140), das Primäre.

In ihrer gegenwendigen Bezugsstruktur widerstrebt das Apollinische allem Dionysischen und umgekehrt, diese beiden Gegenmächte verdrängen und bestreiten einander; aber - sie können nicht ohne einander sein.(4) Das Dionysische braucht das Apollinische zu seiner Erlösung im Schein, d. h. der unselbständige Schein fungiert zugleich als `Wesenserfüllung’ des Ur-Einen. Die Abkünftigkeit des apollinischen Scheins verhilft dem "Wahrhaft -Seienden" des Dionysischen, dem seinerseits der Widerspruch - als das wahrhaft Seiende ständig dem Vergehen überantwortet zu sein - innewohnt, erst zu seiner Erlösung. In Anbetracht der ganzen Bezugsstruktur fällt die Unterscheidung in wahrhaft Seiendes und wahrhaft Nichtseiendes im Grunde fort.

Kommt der Kunst die Aufgabe zu, die beiden Kunsttriebe der Natur in ihrem Widerspiel, diese nachahmend, darzustellen, offenbart sich die menschliche Kunsttätigkeit als ein "gespieltes Spiel".(5) Durch den Menschen und im Menschen vollzieht sich ein Welt-Ereignis, in das das Ich des Künstlers miteinbezogen ist.

An der Kunst wird für Nietzsche deutlich, daß der Künstler nicht Schöpfer seiner eigenen Kunstgebilde ist. Innerhalb der verschiedenen Künste werde insbesondere an der Musik und Lyrik sichtbar, wer das wahre Subjekt der Kunst sei. Denn nicht der Mensch, der die Kunst auszuüben glaubt, auch nicht eine transzendentale Instanz, ist letztlich ihr Schöpfer, sondern der Weltgrund in seiner Widerspruchsstruktur selbst, der durch den Menschen handle, ihn zum Gefäß seiner Tendenz mache.

Dies zeigt sich vor allem in den Schaffensvorgängen des Lyrikers. Nietzsche beschreibt, wie in dem Entstehungsprozeß von Lyrik die Duplizität der beiden Kunsttriebe und Weltprinzipien des Dionysischen und des Apollinischen wirksam ist und welchen Anteil der Künstler (das Subjekt) daran hat. Insofern die Kunst das Leben nachahmt, spiegelt der Rückgang auf die Genese von Kunst zugleich die Konstitutionsprozesse von Wirklichkeit, des Ich wie der empirischen Realität, schlechthin wider.

In dem Entstehungsprozeß von Lyrik sind demnach zwei Aspekt zu unterscheiden: Einmal der des apollinisch-dionysischen Übergangsgeschens selbst und zum anderen der des an dem Vorgang beteiligten Ich des Künstlers. Die Frage danach, die Nietzsche kategorial nicht - gemäß seines Mimesis-Begriffs - von dem des lyrischen Ich absetzt, ist in der Geburt der Tragödie mit leitend. Ehe seine Kunstkonzeption zu entfalten ist, "muss unsre Aesthetik erst", wie Nietzsche vermerkt, " jenes Problem lösen, wie der `Lyriker’ als Künstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer `ich’ sagt und die ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt." (GT 43)

Im Blick auf das Übergangsgeschehen der beiden Kunsttriebe akzentuiert Nietzsche zunächst die Perspektive auf das Hervordrängen des Dionysischen, unter der sich der Lyriker als Wirkungsobjekt des Dionysischen zeigt. Hier wird die Frage des Subjekts noch nicht eigens gestellt, wenngleich sie mitthematisch ist. Auf der ersten Stufe des Entstehungsprozesses ist der Künstler vollkommen versunken in das Geschehen, er wird ganz zum Medium der dionysischen Bewegung des In-Erscheinung-Tretens: Das spannungsvolle Ineinanderwirken der beiden Kunsttriebe stellt sich in der weiteren Abfolge als eine Reihe von Spiegelungen vor, in der sich der anfänglich bild- und begriffslose Schmerz und Widerspruch des Ur-Einen in einem Abbild als Musik spiegelt.

Der Dichter ist "zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik" (GT 43f.). In einer nächsten Spiegelung gewinnt die Sphäre des Apollinischen die Oberhand: "jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnisartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Widerschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spieglung, als einzelnes Gleichnis oder Exempel." (GT 44)

Nietzsche wechselt die Perspektive, wenn er sich ausdrücklich dem Anteil, den das Subjekt des Künstlers an dem Schaffensvorgang hat, zuwendet. Hier kommt nun eine an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen geknüpfte Selbstunterscheidung des Subjekts wie dessen Verdoppelung ins Spiel.

Vom empirischen Standpunkt aus hat der Lyriker, wie Nietzsche ausführt, auf der ersten Stufe des "dionysichen Prozess[es]" seine empirische "Subjectivität [...] aufgegeben" (GT 44). Dennoch vermag er sich selbst noch als Subjekt seiner Vorstellungen und Bilder anzusprechen, welches allerdings vom empirischen grundverschieden ist:

"die Bilder des Lyrikers [sind] nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt 'ich'; sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht." (GT 45)

Auf dieser Stufe des Schaffensvorgangs ist das Ich des Lyrikers ganz aufgegangen in das Welten erzeugende dionysische Prinzip. Nietzsche unterscheidet klar zwischen einem dionysischen und dem empirisch-apollinischen Ich. Die Subjektivität des Lyrikers ist am Schaffensprozeß beteiligt, sofern er dem "bewegende[n] Mittelpunkt der Welt" angehört. Sein dionysisches Ich-Sagen ist von dem des empirischen abzusetzen, doch besteht ein Selbstverhältnis zwischen beiden in der Weise einer Selbstunterscheidung. Die Duplizität geht mitten durch den Lyriker hindurch.

Wenn Nietzsche auch den Anschein erweckt, als ließen sich beide Formen des Ich-Sagens in ein dionysisches, unpersönliches und in ein apollinisch-empirisches trennen, das Übergangsgeschehen gar als einen gestuften Vorgang vorstellt, bei dem sich eine Ebene auf einer höheren spiegelt, so bleibt in Wahrheit ein spannungsvolles Zugleich bestehen, in welchem das scheinbar Gegensätzliche im Übergang in einem in sich unterschiedenen Zeitfeld anwesend ist.

Im Schaffensvorgang eröffnet Nietzsche dem Lyriker die Erfahrungsmöglichkeit einer Selbst- unterscheidung zwischen dionysischem und empirischem Selbst, innerhalb derer er sich gegenübertritt, es also zu einer Selbstverdoppelung kommt, d. h. der Lyriker erlebt sich selbst als das Differenzgeschehen von An-sich-Sein des Weltengrundes und Für-sich-Sein seines individuierten Ichs, was die bisherige Ästhetik nicht wahrnahm.

Nietzsche gibt hierzu die Möglichkeit zu bedenken, wie der Lyriker unter den Abbildern des dionysischen Weltengrundes

"sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein 'Subject', das ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere von sich selbst jenes Wörtchen `ich’ spräche, so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er allerdings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet haben." (GT 45)

Die Kritik am Subjektbegriff der Genieästhetik zielt zunächst nochmals darauf, daß diese das wahre Subjekt des Schaffensvorgänge wie des Kunstwerks fälschlicherweise mit dem empirischen Subjekt des Künstlers in eins gesetzt hat, wodurch es zu einer Vertauschung der wahren Verhältnisse gekommen ist. Der Lyriker, ebenso das `lyrische Ich’(6), mit seinen Stimmungen und Bildern ist nicht Ursache der Bilderfolge, sondern zusammen mit der im Gedicht gestalteten Welt eine Projektion des dionysischen Dranges zum Schein.

Aber - und das ist der entscheidende Punkt - Nietzsche kehrt die Funktionsbestimmungen nicht einfach um, so als übernähme das dionysische Prinzip nur die Funktion, die vorher das Ich des Künstlers innehatte, vielmehr erfährt sich das Ich des Lyrikers selbst als der Ort der Duplizität des Dionysischen und des Apollinischen.

Im Augenblick des Hervorkommens, des Übergangs des einen Prinzips in das andere vermag der Lyriker auf zweierlei Weise Ich zu sagen und zwar nur in diesem Moment des Übergangs. Während zu Beginn dieses Prozesses der Lyriker vollkommen versunken ist - er hat seine "Subjectivität [...] aufgegeben" - und nach dessen Abschluß, der gewordenen Gestaltung, er sich nur noch als reales, lebensgeschichtliches Subjekt versteht, kommt es im Moment des Übergangs zu einer reflexiven Selbstunterscheidung des Lyrikers in ein Ich des An-sich-Seins und ein Ich des Für-sich-Seins. Als ein solches Übergangsgeschehen eignet dem Entstehungsprozeß von Dichtung ein Schwellencharakter, demzufolge das universale Ich als "Mitte der Welt" noch und das von ihm erzeugte reale und lyrische Ich schon anwesend ist. In diesem schwellenförmigen Übergangsgeschehen lebt der Lyriker als der gegenwendige Bezug.beider Weisen des Ich-Sagens. Der "lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius" (GT 45) bilden zusammen die unhintergehbare Bezugsstruktur der dionysisch-apollinischen Duplizität, als welche der Lyriker im Augenblick des Übergangs selbst existiert. Dort kommt es zu einer Selbstverdoppelung, in der der Lyriker beides zugleich ist: unhintergehbarer Bezug und Selbstverdoppelung. Darin äußert sich das "ewig Widerspruchsvolle" der Duplizität, die sich keiner höheren Synthese einfügt und die von keiner übergreifenden Ordnung abzudecken ist.

Im Schaffensvorgang, im Augenblick des Übergangs ist der Lyriker, wie Nietzsche schreibt, "zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer." (GT 48.) Als Dichter ist er eins mit dem dionysischen "Urkünstler der Welt", als Schauspieler vetritt er die von diesem erzeugten Figuren und als Zuschauer ist er der ganzen projizierten Bilderwelt zugewandt.

II

Von hier aus bietet sich nun der Brückenschlag zu Trakl an. Das frühe Gedicht Drei Träume(7) aus der Sammlung von 1909 reflektiert auf den Entstehungsprozeß von Dichtung als Nachahmung der beiden einander bestreitenden Grundkräfte in ihrer wechselseitigen Notwendigkeit.

Drei Träume

I

Mich däucht, ich träumte von Blätterfall,
Von weiten Wäldern und dunklen Seen,
Von trauriger Worte Widerhall -
Doch konnt' ich ihren Sinn nicht verstehn.
 
Mich däucht, ich träumte von Sternenfall,
Von blasser Augen weinendem Flehn,
Von eines Lächelns Widerhall -
Doch konnt' ich seinen Sinn nicht verstehn.
 
Wie Blätterfall, wie Sternenfall,
So sah ich mich ewig kommen und gehn,
Eines Traumes unsterblicher Widerhall -
Doch konnt' ich seinen Sinn nicht verstehn.

II

In meiner Seele dunklem Spiegel
Sind Bilder niegeseh'ner Meere,
Verlass'ner, tragisch phantastischer Länder,
Zerfließend ins Blaue, Ungefähre.
 
Meine Seele gebar blut-purpurne Himmel
Durchglüht von gigantischen, prasselnden Sonnen,
Und seltsam belebte, schimmernde Gärten,
Die dampften von schwülen, tödlichen Wonnen.
 
Und meiner Seele dunkler Bronnen
Schuf Bilder ungeheurer Nächte,
Bewegt von namenlosen Gesängen
Und Atemwehen ewiger Mächte.
 
Meine Seele schauert erinnerungsdunkel,
Als ob sie in allem sich wiederfände -
In unergründlichen Meeren und Nächten,
Und tiefen Gesängen, ohn' Anfang und Ende.

III

Ich sah viel Städte als Flammenraub
Und Greuel auf Greuel häufen die Zeiten,
Und sah viel Völker verwesen zu Staub,
Und alles in Vergessenheit gleiten.
 
Ich sah die Götter stürzen zur Nacht,
Die heiligsten Harfen ohnmächtig zerschellen,
Und aus Verwesung neu entfacht,
Ein neues Leben zum Tage schwellen.
 
Zum Tage schwellen und wieder vergehn,
Die ewig gleiche Tragödia,
Die also wir spielen sonder Verstehn,
 
Und deren wahnsinnsnächtige Qual
Der Schönheit sanfte Gloria
Umkränzt als lächelndes Dornenall.

Wenn auch weitgehend auf der thematischen Ebene angesiedelt und noch nicht vollends strukturell vollzogen, so läßt sich eine analoge Struktur der Selbstunterscheidung wie sie der Lyriker bei Nietzsche im Schaffensprozeß erfährt, feststellen. Im ersten der Drei Träume spricht sich ein Ich unter gegenläufigen Perspektiven an, die sich nicht von einem übergreifenden Gesichtspunkt vereinigen lassen. In der ersten Strophe tritt es zunächst als das Subjekt des Geträumten auf, das sich gleichwohl aus einer gewissen Distanz heraus ("Mich däucht") - gleichsam als ein "Zuschauer" (GT 48) - betrachtet. Auf dieser Stufe befindet es sich, so könnte man mit Nietzsche sprechen, in dem dionysischen Zustand, in dem es "mit dem Ur-Einen" eins geworden ist und in einem "gleichnisartigen Traumbilde" "unter der apollinischen Traumeinwirkung" eine "Traumscene" produziert, die der "Urwiderspruch und Urschmerz" (GT 44) des Dionysischen hervortreibt. Auf dieser Schaffensstufe vermag sich das Ich noch als "bewegender Mittelpunkt" der Welt zu sehen, verbunden mit der auf dem "Grunde der Dinge ruhenden Ichheit".

In der dritten Strophe indes - noch des ersten 'Traums' - kehrt sich die Perspektive um, und das Ich erscheint nicht mehr als Traumsubjekt, sondern es wird selbst zum Objekt, Effekt - zum "unsterblichen Widerhall" "Eines Traums".

Die "ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" des Weltengrundes begegnet sich jetzt selbst als Widerhall, als Abbild eines Traumes, als welches es sich "ewig kommen und gehn" sieht. Evident ist es , daß das immerfort entstehende und vergehende Ich nicht mit dem von der dionysischen Ichheit produzierten apollinischen Ich gleichzusetzen ist, aber es auch nicht zusammenfällt mit der ruhenden Ichheit des Weltengrundes.

Vielmehr ist das dem endlosen Wechsel der Erscheinungen anheimgegebene Ich - als Wirkung eines Traums und somit mit diesem verknüpft - in sich unterschieden in der Weise einer Selbstunterscheidung. Das Gesamtgeschehen stellt ein duplizitäres Widerspiel vor, das dem des Apollinischen und des Dionysischen in seiner gegenseitigen Notwendigkeit gleicht. Man kann also sagen: Die apollinische Erscheinung des Traumes (als Kunsttrieb) ist eine Bedingung dafür, daß die dionysische Ichheit, der Welt-Erzeuger, zu sich selbst kommt, daß er seiner bewußt werde und in der Bewußtwerdung auf seine eigenen Entstehungsbedingungen reflektiert, aber stets so, daß das Widerstreitende (die Duplizität) als "Bruderbund" anwesend bleibt. Der dionysische Welten-Erzeuger muß außer sich gehen, sich in der Form einer Selbstunterscheidung entzweien, um sich auf sich beziehen zu können.

Ebenfalls gegenwärtigt der zweite der "Drei Träume" das Ich in der Weise einer Selbstunterscheidung. Scheint zunächst das Ich die Perspektive des dionysischen Welt-Erzeugers einzunehmen, so zeigt sich indes auch hier die Duplizität. Einerseits verschmilzt das Ich mit dem schöpferischen Prinzip - "Meine Seele gebar blut-purpurne Himmel" - andererseits wird es selbst "Bewegt von namenlosen Gesängen", ist von ihnen durchstimmt, aber nicht eins mit ihnen, sondern als apollinisches Ich auf sie ausgerichtet. Die Musik bildet für Nietzsche den "Grundton der Natur", dessen "musikalische Dissonanz" (GT 152) des apollinisch-dionysischen Wechselspiels eine "Menschwerdung der Dissonanz" (GT 155) erzeugt.

Musik als "Abbild des Ur-Einen" stellt auch die erste Stufe im Entstehungsprozeß von Lyrik vor. Der über die Musik einsetzende Schaffensvorgang steht zwar noch unter der Herrschaftssphäre des Dionysos, ist aber gleichwohl stets in ihrer polaren Bezogenheit auf das Apollinische zu sehen. Die notwendige Wechselseitigkeit dieser beiden Sphären gewinnt ihren adäquaten Ausdruck in der "dionysischen Musik". Das von "namenlosen", "tiefen" "Gesängen" bewegte Ich fungiert als Medium dieses Schöpfungsvorgangs, in dem es sich selbst, gemäß der apollinisch-dionysischen Duplizität, unterscheidet.

Im dritten `Traum´ schließlich scheint das Ich aus dem Geschehen herauszutreten und eine distanzierte Stellung gegenüber der "ewig gleiche[n] Tragödia" einzunehmen. Doch auch hier bleibt es beteiligt und vermag keine Position außerhalb zu beziehen. Das "spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt" (GT 153) wird zwar nicht, wie es Nietzsche tut, als "Ausfluss einer Urlust" (GT 153) bejaht, aber das Ich weiß sich als Mitspieler - "Die also wir spielen" - dieses immer wiederkehrenden Prozesses und somit diesem zugehörig.

Das Gedicht thematisiert den Prozeß des dionysisch-apollinischen Schöpfungsvorgangs und insofern der Lyriker ihn nachahmt, kommt es zur reflektiven Selbstunterscheidung des dionysisch-apollinischen Prozesses im Ich - oder, was dasselbe besagt: das Ich existiert in der Weise dieser Selbstunterscheidung. Wenn Nietzsche betont, das Ich sei in dem doppelten Ich-sagen im Schaffensvorgang "zugleich Subjekt und Objekt" (GT 48), so spielt Nietzsche damit hinsichtlich der in dem Vorgang der Selbstunterscheidung sich vollziehenden Konstitution von Subjektivität auf einen widerspruchsvollen Sachverhalt an, mit dem sich jede Subjektphilosophie konfrontiert sieht. Es handelt sich hierbei um die "Paradoxie" einer menschlichen Subjektivität, wie sie der späte Husserl, das neuzeitliche Subjektdenken resümierend, formuliert, die zugleich "Subjektsein für die Welt" und "Objektsein in der Welt"(8) bedeutet. Nietzsches Konzeption der duplizitären apollinisch-dionysischen Selbstunterscheidung, als welche das Ich im Schaffensvorgang - zugleich Subjekt und Objekt zu sein - existiert, nimmt diese paradoxe Struktur des Subjekts auf, indem er sie allerdings entgrenzt und in eine Verspannung des Gegensätzlichen überführt, wodurch sich der Begriff des Subjekts von dem der Subjektphilosophie grundlegend unterscheidet.

Da Trakl nun dieses Zugleichsein in dem widerwendigen Bezug von Welten schaffendem und erzeugtem Ich aufnimmt, gestaltet er in dieser simultanen Gegensatzverspannung von konstitutierendem - dionysischem - Welt-Ich und konstituiertem - dem lyrischen, raum-zeitlichen - apollinischen Ich die Genese eines Selbst- und Weltverhältnisses, das problemgeschichtlich auf dieselbe Subjektproblematik verweist.

Hinsichtlich der bei Trakl vieldiskutierten Frage nach der Dissoziation des lyrischen Ich wie der nach der Reflexivität des Gedichts wird Trakls Bezug zu Nietzsche noch deutlicher, wenn man diesen problemgeschichtlichen Hintergrund, von dem Nietzsche sich absetzt, kurz auflichtet, um sodann die Eigenart der im Gedicht zur Sprache kommenden Selbstunterscheidung des Ich, die ja mit einer Entzweiung und Dezentrierung einhergeht, vor allem, was dessen Verwobenheit im Feld des Gedichts anbelangt, herauszustellen.

In der neuzeitlichen Subjektphilosophie existiert das Subjekt in einer Art von Verdoppelung. Sie rührt her aus der Unterscheidung des Menschen in ein transzendentales und in ein empirisches Subjekt. Diese zweifache Zugehörigkeit des Menschen zum einen zur Sinnenwelt und zum anderen zu einer höherstufigen Transzendentalität des reinen Ich, einer im wörtlichen Sinn übersinnlichen, metaphysischen Welt (von Platon herkommend) die transzendental-subjektiv allem gegenständlich Mannigfaltigen erst ihren Grund und Halt gibt, radikalisiert Nietzsche, um sie schließlich aufzulösen.

Die Selbstunterscheidung nimmt er derart auf, daß er das Selbst, das sich auseinanderlegt in ein transzendentales und empirisches Subjekt grenzenlos erweitert und dem dionysischen Selbst überantwortet im Sinne eines An-sich-Seins. Dem entspricht auf der Ebene der Erscheinungen, daß das Selbst des empirischen Ich sich nicht mehr transzendental zu legitimieren vermag, sondern aufgeht in den apollinischen Schein, in den sich das Ur-Eine vorübergehend geworfen und vergegenständlicht hat. Dadurch verliert der Mensch seinen Eigenstand wie das ihn umgebene Mannigfaltige seine Begründbarkeit einbüßt. Aus der Optik der Subjektphilosophie wird es zum Imaginären, zum Schein. Bei Nietzsche ist die Welt wie das menschliche Selbst- und Weltverständnis Ergebnis einer Selbstunterscheidung des ewigen widerspruchsreichen Spannungsgefüges der apollinisch-dionysischen Duplizität. In der von Nietzsche proklamierten "Menschwerdung der Dissonanz" (GT 155) hat sie im Menschen genau den Ort der Unterscheidung in ein sinnliches und ein übersinnliches Subjekt eingenommen.

Wie analog zu Nietzsches früher Kunstkonzeption, die ja eine Natur- und Menschendeutung stets mitumfaßt, auch bei Trakl das im Gedicht zur Sprache kommende Ich zum Dissonanzraum eines Gegensatzgeschehens wird, läßt sich an einem weiteren Beispiel, dem Gedicht "Die Raben" (11), mit dem der Zyklus "Gedichte" von 1913 einsetzt, aufzeigen. Über die Berufung mythischer Bilder vergegenwärtigt es ein Übergangsgeschehen, das sich entschiedener als in "Drei Träume" ins Strukturelle hinein verlagert, so daß es hinsichtlich des Ich zu einer Verflechtung mit dem Gedichtfeld kommt, die es nicht mehr erlaubt, es aus seiner Umgebung herauszulösen. Das Gedicht versammelt eine Reihe von Bezugsmöglichkeiten, die sich thematisch in dem weiten Umkreis von Eros und Tod gruppieren lassen. Es eröffnet ein aus Gegensatzspannungen aufgebautes, von der Gegenwart des Sprechens bis in mythische Zeitalter reichendes Zeitfeld, in dem sich Naturhaftes und Menschliches, triebhafte Gebärden und Anklänge an mystisches Erleben wechselseitig durchdringen und überlagern.

 

III

Die Raben

Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.
 
O wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören
 
Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.

Hinsichtlich des äußeren Geschehens ist es zunächst auffällig, wie die ruhelose Bewegung der krächzenden Vögel ( "mit hartem Schrei" ) mit der "braune[n] Stille", in die die Raben lärmend einfallen, kontrastiert. Das Verhalten der Raben charakterisieren abwertende Anthropomorphismen ("mürrisch", "keifen"), mit welchen diese Vögel häufig belegt werden. Entsprechend akzentuiert das Gedicht von der symbolischen Bedeutungsvielfalt, die den Raben in Mythen und Dichtungen zugeschrieben worden sind, die Aspekte des Dunklen, der Todesnähe wie des Sündhaften. Sie entschwinden "wie ein Leichenzug/In Lüften, die von Wollust zittern". So unvermittelt sie auftauchen, verschwinden sie wieder; und was sie umtreibt, ist das Aufspüren von Aas.

In der ersten und dritten Strophe bzw. der letzten Zeile der zweiten Strophe, wo die Raben die Szene beherrschen, erfolgt das Sprechen aus der Perspektive des unpersönlichen Personalpronomens man(9), während sich in der zweiten Strophe ein Ich, das die von den Raben verursachte Störung mit sichtlicher Anteilnahme beklagt, bekundet. In dem "wie" schwingt ein die Interjektion "O" steigerndes 'sehr' mit. Das Ich war der Stille schon zugewandt, bevor die Raben sie gebrochen haben. Die starke Bewegung, die das den Verlust der Stille betrauernde Ich durchstimmt, deutet darauf hin, daß es sich selbst der Stille zugehörig fühlt.

Die Stille umfängt das Ich und bildet ebenso das Element, in dem sich der Acker "verzückt". Mit dem Farbadjektiv braun, das die Stille benennt, ist diese der Erde verbunden, ohne jedoch den Bezug auf das Ich aufzugeben. Es vermag nicht gesagt zu werden, daß die Stille die Verzückung erst ermöglicht, aber offenbar bedarf es ihrer, damit sie wahrnehmbar wird.

Als braune Stille ist es die Stille der Erde selbst, in der der Acker sich verzückt. Sie, die Frucht tragende und Leben erhaltende, stellt das bergende Element dar, in dem alles Gedeihen in einer lautlosen verschwiegenen Weise vor sich geht und eingelassen ist. Diesem vegetativen Vorgang eignet eine Selbstbezüglichkeit.

Wie die Stille zu dem lärmenden Auftreten der Raben, so kontrastiert auch die lautlose Verzückung zu der Wollust, die die Raben beim Fortfliegen mit ihrem Geflatter in den Lüften erregen. In der Wendung "ein Acker sich verzückt" breitet sich im Gegensatz zu der Triebhaftes einsinnig betonenden Wollust ein weit ausgreifendes Mythisches, Erotisches und Geistiges wie Geistliches und Mystisches vereinigendes Bedeutungsfeld aus, in dem unterschiedliche Kontexte und damit Ordnungen - und das besagt: Weltentwürfe - berufen werden, die sich von keiner alles übergreifenden Ordnung abdecken lassen.

Der sich verzückende Acker als Bild für 'Fruchtbarkeit', 'weiblicher Schoß' und damit umfassend für die Erhaltung des Lebens ('Mutter Erde') evoziert zunächst eine griechisch-mythische Welt, die sich im Kontext der Mittagsstille - es ist Mittag, in dem die Stille währt, mithin die Stunde des Pan(10) - und dem mythologischen Tier der Hirschkuh(11) einstellt. Zugleich überschreitet der in dem Verb `verzücken’ liegende Bedeutungsüberschuß das mit dem Acker verknüpfte Bild des Vegetativen hin auf Geistliches, Erotisches und Ekstatisches. Indem der folgende Wie-Vergleich die dem Acker mythologisch inhärente Bedeutungskomponente des Weiblichen - der Fruchtbarkeit, der Spenderin des Lebens und des Geschlechtlichen - ausdrücklich nennt, wird diese Verweisung zwar gefestigt, aber ebenso - aus der mythischen Perspektive heraus betrachtet - verengt, da das in der ganzen Natur wirkende, Leben spendende Prinzip, das der Acker gegenwärtigt, jetzt aus dem kosmischen Zusammenhang gelöst und personifiziert wird. (Der dadurch aufscheinende andere Kontext bedeutet nun wiederum eine Überschreitung der griechisch-mythischen Ordnung.) - In einer gegenläufigen Bewegung verliert infolge des derart gestalteten Vergleichs die mythische Bildlichkeit an Kraft und die wörtliche Bedeutung beginnt sich wieder durchzusetzen. Man könnte auch sagen, der Acker gewinnt seine Dinglichkeit und seinen Eigenstand zurück. Denn der Vergleich mit "Weib" lockert infolge des Bedeutungsüberschusses in 'Verzücken' - 'seelische oder sinnliche Entrückung eines Menschen' - die Bindung zu Acker und der Vorgang des Verzückens tritt in den Kontext "Weib, das schwere Ahnung berückt". Im Hinblick auf den Acker wäre der ekstatische Vorgang dann rein bildlich zu lesen, etwa in dem Sinne: Der Acker erscheint dem wahrnehmenden Ich in der Stille so, wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt. Das Sich-Verzücken des Ackers bedeutete derart eine Projizierung des im Vergleich Gesprochenen auf die Naturwahrnehmung, wäre das Ergebnis einer semantischen Rückstrahlung.

Im ganzen gesehen, zeigt sich das in der Stille Geschehende als eine in sich kreisende Sinnbewegung, an der sich drei Ebenen, die sich über Vor- und Rückverweisungen wechselseitig überlagern, unterscheiden lassen, wobei zu betonen ist, daß keiner der Ebenen, die freilich nur abstraktiv so genannt werden dürfen, im Grunde ein Vorrang gebührt in dem Sinne, als sei eine der Ebenen die denotative Grundschicht, auf der sich die anderen aufstuften. Die verschiedenen Ebenen stellen sich über jeweils unterschiedliche kontextuelle Verweisungen her. Einmal erscheint der Acker innerhalb der Naturwahrnehmung, zu der auch die einfallenden Raben gehören. Zudem beruft das Sich-Verzücken in der Mittagsstille einen griechisch-mythischen Kontext, der wiederum in dem Wie-Vergleich auf Erotisch-Ekstatisch-Menschliches hin überschritten wird. Der Acker verzückt sich buchstäblich, vergleichsweise und bildlich in allen drei Kontexten in einem zumal, da diese sich in dem selbstbezüglichen Vorgang des Sich-Verzückens überschneiden und in einer kreisenden Bewegung interferieren. Das Sich-Verzücken gewinnt dergestalt eine semantische Offenheit und geschichtliche Tiefendimension, deren Spannweite von der erotischen Besetzung der Natur wie umgekehrt der Deutung der Sexualität als Naturereignis über kosmische antike Vorstellungswelt bis hin zu mittelalterlicher mystischer Entrückung (,,berückt") reicht.

Festzuhalten ist, daß sich die verschiedenen Bedeutungsaspekte, die ja zugleich Weltentwürfe und damit umfassende Ordnungszusammenhange mitgegenwärtigen, sich nicht unter einer alles übergreifenden Ordnung subsumieren lassen. Zur Kontrastierung sei nur an Goethes ,,Mailied" erinnert, wo sich die wechselseitige Durchdringung von Erotik und Natur sehr wohl in ein alles umfassendes kosmisches Gesamtgeschehen einfügt.

Angesichts dieses komplexen Gefüges, das sich perspektivisch nicht von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus in den Blick bringen und das heißt offenbar, überhaupt nicht von einem wie auch immer gearteten wahmehmenden Ich vorstellen läßt, wird deutlich, daß sich das Ich dem Geschehen nicht betrachtend zuwendet, sondern von ihm tiefgehend bewegt wird. In dieser Gestimmtheit wird das Ich nicht einfach nur passiv von dem Vorgang affiziert, sondern bringt ihn mit hervor. Da sich in dem Sich-Verzücken die Linien der in Frage stehenden Kontexte kreuzen, geht der semantische Gehalt in keiner der verschiedenen Ordnungen ganz auf und infolgedessen greift er auf das Ich über.

Der Anblick des in der Stille liegenden Feldes überwältigt das Ich in der Weise einer Selbstverzückung solchermaßen, daß es das, was es da erfährt, nicht anders zu sagen vermag als in der von ihm geäußerten Weise, ohne daß das Sich-Verzücken des Ackers zu einer bloßen Projektion würde. Unter dieser Optik kommt ein weiterer Sinnaspekt zum Vorschein, der das Ordnungsgefüge des Gedichtszusammenhangs abermals wandelt. Die braune Stille tritt jetzt vollends als das Element - was durchaus im vorsokratischen Sinn zu verstehen ist - einer Selbstverzückung auf, wobei der in dem Wort "Selbst" liegende Doppelsinn hier ausdrücklich mitzuhören ist: "selbst" meint einmal das Wesen einer Sache oder Sachverhalts, zum anderen aber auch das Fürsichsein dessen, was in der Subjektphilosophie mit Ichbewußtsein bezeichnet wird. Beide Bedeutungen des Wortes "Selbst", das Ansichsein von etwas wie das Fürsichsein eines Ich, durchkreuzen und überlagern sich diesseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt. Die Selbstverzückung durchgeht sowohl das Ansichsein der Natur als auch das Fürsichsein des Ich wie die geistig-erotischen Bezüge.(12) Die Selbstverzückung des Ich bedeutet, daß es sich in einem Zustand der Ekstase (griech. ekstasis, "aus sich gestellt sein"(13)), in dem es außerhalb seiner selbst steht, was das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung besagt. Das Ichbewußsein ist vor der Störung aufgehoben zugunsten einer tiefen Versunkenheit in das Ansichsein der Natur, wodurch es zum Organ und Medium einer Selbstverzückung wird, die nicht vom Ich ausgeht, aber ohne es auch nicht Gestalt zu gewinnen vermag.

Insofern in dieser Art der Selbstverzückung, die innerhalb des griechisch-mythischen Kontextes, den das Gedicht mitberuft, auf das zeugerische Prinzip des Dionysischen verweist, das Ich als deren gestaltgebendes Medium fungiert, zeigt es sich selbst als der Ort des Schöpferischen (aber nicht als das Schöpferische selbst), wodurch die Selbstverzückung den Charakter einer lyrischen "Verzückung" (GT 50) annimmt. Unter dieser Perspektive reflektiert das Gedicht in der Weise einer Selbstunterscheidung in ein An-sich und ein Für-sich auf die Bedingungen seines Entstehens und hinsichtlich der Frage nach dem `lyrischen Ich’ - dessen Selbst- und Weltverhältnis - auf die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität, wobei der Entstehungsprozeß des Gedichts untrennbar verknüpft ist mit der Konstitution des im Gedicht zur Sprache kommenden Ich.

Vor dem Hintergrund Nietzsches läßt sich unschwer erkennen, wie Trakl die widerspruchsvolle Duplizität des Apollinischen und Dionysischen infolge der polyvalenten Gedichtstruktur in einem spannungsvollen Zugleich gegenwärtig hält. Im Unterschied zu dem Gedicht "Drei Träume" werden das apollinische und das dionysische Prinzip nicht thematisch in ihrem Zusammenwirken gegenübergestellt, sondern ihr widerwendiges Übergangsgeschehen wird in seiner Polyperspektivität wie Prozeßhaftigkeit aufgrund des Feldcharakters strukturell vollzogen. Die "Stille" bildet innerhalb des Gedichts einen Bereich, in dem sich das Übergangsgeschehen als eine in sich kreisende Sinnbewegung, in die das Ich miteinbezogen, fortwährend erneuert und in der Bewegung der dargestellten mehrfältigen Selbstunterscheidung sowohl den Entstehungsprozeß von Dichtung als auch den von Subjektivität spiegelt - von Subjektivität indes, die als pure Bezugsstruktur sich nicht mehr eingrenzen und vom Gedichtfeld abheben läßt.

Die Polyperspektivität des Gedichts, die Gegensätzliches im Übergang verspannt und eine Polytemporalität mit einschließt, ist allerdings hiermit noch nicht ausgeschöpft. Lenkt man den Blick von dem Bezirk der Stille wieder auf den ganzen Text und wendet sich der Beziehung zwischen Stille und Störung zu, so vermag die Störung der Stille, in der das Ich selbstversunken lebt, durch die mit Wollust und Verwesung konnotierten Raben in dem apollinisch-dionysischen Kontext als das Einbrechen der `Wirklichkeit’ in den dionysischen Zustand gesehen zu werden. Es tut sich eine Kluft auf, die für Nietzsche die dionysische Wirklichkeit von der alltäglichen scheidet:

"Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewußtsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden." (50)

Jene Kluft oder Grenze, die bei Nietzsche infolge der chronologischen Abfolge der gegensätzlichen Zustände entsteht, wandelt sich bei Trakl zu einer Schwelle, zu einem Ort des Übergangs, an dem die Gegensätze sich überlagern und das Ich mit erfassen. Was Nietzsche genetisch in ein Nacheinander auseinanderlegt - den dionysischen Zustand der Versunkenheit und die, verglichen mit diesem, ekelerregende Wirklichkeitserfahrung - vereinigt Trakl zu einem in sich unterschiedenen, das Ich durchziehenden Zeitfeld.

Die der Störung vorausgehende Stille ist in der Gegenwart des Sprechens nur noch als gebrochene vernehmbar. Das Ich vermag sich ihr daher allein als einer sich entzogen habenden zuzuwenden. Gegenwärtig ist der Entzug der Stille; sie ist ja noch da, denn der Acker verzückt sich im Augenblick des Sprechens, in welchem zugleich die Störung geschieht, anders ist das präsentische "verzückt" nicht zu deuten. Sie dauert an als gebrochene, heißt: sie und das in ihr Geschehende sind, von der Störung aus betrachtet, gewesen, aber von solcher Art, daß ihr Gewesensein selbst präsent ist; sie ist anwesend als abwesende und ihre Abwesenheit ist gegenwärtig.(14) Störung und Verzückung liegen grammatikalisch auf derselben Zeitebene. Ihre Gleichzeitigkeit ist aber in sich different, da das Zugleich von dem Ineinanderspiel von Präsenz und Absenz gebildet wird, das sich in dem ausrufenden "O" verbalisiert. In temporaler Hinsicht hat es den Charakter einer Schwelle, ist es Übergang: die Stille ist noch anwesend und das Lärmen der Raben schon da. Das infolge des Zugleich von Störung und Stille sich eröffnende Zeitfeld erstreckt sich auch auf die Befindlichkeit des Ich. In dem "O" bekundet sich nicht allein Klage, sondern ebenso Lust, insofern die Verzückung, an der das Ich Anteil nimmt, noch in der angegebenen Weise ist.

Stille und Störung, Lust und Klage gehen mitten durch das sprechende Ich hindurch. Es ist der Ort, wo Stille und Störung und damit das ganze Spektrum der Gegenspannungen mit ihren gleitenden Übergängen sich kreuzen. In ihm ereignet sich jene "Menschwerdung der Dissonanz" (GT 155) des ewig Widerspruchsvollen in seiner gegenseitigen Notwendigkeit. Von Nietzsche aus betrachtet, löst Trakl damit in der Lyrik dessen Forderung ein, die "Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen" zu knüpfen. (GT 25)

In der Folgezeit tritt bei Trakl ein Ich in der Gestaltung des duplizitären Widerspiels kaum noch auf. Es zieht sich zugunsten eines Du oder Er zurück oder überläßt es ganz sich selbst. Damit geht einher die Verschiebung der thematischen Artikulation der Duplizität ins strukturelle Geschehen. Das wechselseitige Verdrängen bei gegenseitigem Aufeinanderangewiesensein verdichtet sich zu einem Feld, in dem die Universalität der perspektivischen Vergegenwärtigung zum Grundprinzip wird(15), eine Universalität indes, die sich zu keiner höheren Ordnung zusammenschließt. "Als ob eine Welt", wie Nietzsche vermerkt, "noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete".(16)

© Hartmut Cellbrot (Opava)

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Anmerkungen:

(1) Vgl. Hans-Georg Kempers Nachwort in: Georg Trakl: Werke. Entwürfe. Briefe. Hrsg. von Hans-Georg Kemper und Frank Rainer Max. Stuttgart 1984, S. 269-320, zu Nietzsche bes. S. 283-293. Walter Methlagl: Nietzsche und Trakl. In: "Frühling der Seele". Pariser Trakl-Symposion. Salzburg 1994, S. 81-118.

(2) Vgl. hierzu auch Eugen Fink: Nietzsches Philosophie. Stuttgart 1960, S. 21f. und Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst. Tübingen 1993, S. 27-34.

(3) Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 1. München 1980, S. 25. Zitatbelege nach dieser Ausgabe künftig im Text als GT mit Seitenzahl.

(4) Vgl. Eugen Fink: Nietzsches Philosophie (Anm. 2) S. 24.

(5) Ebenda, S. 25.

(6) Infolge der prinzipiellen Gleichheit von Kunst und Leben - beide formen sich entsprechend der Duplizität des Dionysischen und Apollinischen - vermögen das lyrische Ich und das des Künstlers sich wechselseitig zu vertreten.

(7) Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar, 2 Bde. Salzburg 1969, S. 215 f. Zitatbelege aus Band I der Dichtungen nach dieser Ausgabe künftig im Text mit Seitenzahl.

(8) Edmund Husserl: Gesammelte Werke (= Husserliana). Auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Leuven) in Verbindung mit Rudolf Boehm unter Leitung von Samuel Ijsseling. Den Haag 1950ff. Bd. VI. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter Biemel. 1954, § 53.

(9) Das unpersönliche Pronomen man verwendet Trakl in den Gedichten wie in der frühen Lyrik recht häufig, ebenfalls in den Dramenfragmenten. Es steht für eine Anonymität, die jeglichem Ich-Sagen fremd gegenübersteht. In diesem Sinne ist es von jenem aus der Lyrik des Rokoko vertrauten `man’ , das den generellen Menschen bezeichnet, scharf zu unterscheiden. Das generelle `man’ verbürgt eine verbindliche Allgemeinheit, an der der einzelne teilhat, die bei Trakl nicht mehr gegeben ist In der späten Phase seines Schaffens kommt ein `man´ kaum noch vor, was auch daher rührt, daß das Man, wenn auch in unpersönlicher Weise, noch eine grammatikalisch identifizierbare Sprechinstanz suggeriert. In dem Zyklus "Sebastian im Traum" erscheint es überhaupt nicht mehr. Vgl. den Gebrauch des unpersönlichen Pronomens man bei Georg Heym. Heym verwendet dieses Pronomen zumeist in dem Sinne von anonymer öffentlicher Herrschaft. Hier könnten Parallelen zu Heideggers Bedeutung des "Man" aus "Sein und Zeit" gezogen werden.

(10) Die Mittagszeit steht in der Antike unter der Regentschaft des Gottes Pan. Dem Nietzsche-Leser Trakl war neben der "Geburt der Tragödie", "Jenseits von Gut und Böse" auch der "Zarathustra" vertraut, was aus seiner von ihm verfaßten Bücherliste hervorgeht. (Vgl. Methlagl: Nietzsche (Anm. 1) S. 83) Zarathustra feiert den "große[n] Mittag" als den Übergang des Menschen "auf seiner Bahn [...] zwischen Thier und Übermensch" ("Von der schenkenden Tugend"). Die "Stille" des "Mittags" ist aber vor allem die Zeit, in der Zarathustra, in einem versunkenen, monistischen Zustand sich der Erde und dem Kosmos verbunden fühlend, der Wiederkunftsgedanke offenbar wird: "du heiterer schauerlicher Mittags-Abgrund! wann trinkst du meine Seele in dich zurück?" ("Mittags"). Abgesehen von den verzeichneten Büchern Nietzsches ist sicher davon auszugehen, daß Trakl darüber hinaus mit dem Philosophen vertraut war. Der Aphorismus 308 "Am Mittag" ("Menschliches Allzumenschliches". Zweiter Band) evoziert ebenfalls einen naturkosmischen Augenblick der Selbsvergessenheit, als der "Wanderer" auf einer "verborgenen Waldwiese [...] den großen Pan schlafend" findet. Kurz darauf "reißt" ihn aber das "Leben mit blinden Augen," wieder "an sich". Der Aphorismus gestaltet im Nacheinander eine ganz ähnliche Gegensatzstruktur wie das Gedicht. In "Psalm", ebenfalls aus dem Zyklus "Gedichte", nimmt Trakl ausdrücklich Bezug auf Pan, um sich von der mit ihm verbundenen Welt abzusetzen. Seine intertextuelle Erwiderung darauf lautet: "Der Sohn des Pan erscheint in der Gestalt eines Erdarbeiters,/Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft."

(11) In der griechischen Mythologie ist die Hirschkuh der Hera und der Jagdgöttin Artemis geweiht. Zudem verkörpert sie den animalischen oder mütterlichen Aspekt der Weiblichkeit. Der Schatten , den die vorübereilenden Raben auf die Hirschkuh werfen, deutet hierbei bereits auf das akustische Überdecken der Stille voraus.

(12) Eine Auffächerung dieses Spektrums bietet Trakls Werk von dem frühen Dialog "Maria Magdalena" an ("Verzückungen ihres Körpers", 196, "auf den Knien vor dem Kreuz, zu ihm betend [...] In Verzückung", 197)) über die "Gedichte" ("Das sanfte Korn schwillt leise und verzückt", 49) bis hin zu "Sebastian im Traum" ("Oder es tönte dunkler Verzückung/Voll das Saitenspiel", 125).

(13) Im Neuen Testament wird Verzückung, griech. Ekstasis, wörtl. "außerhalb (seiner selbst) stehen" , als ein Zustand des Außer-sich-Seins (2Kor,24) genannt, in dem dem Entrückten göttliche Offenbarungen zuteil werden. Als Empfänger solcher Offenbarungen werden die Apostel Petrus (Apg. 10.10; 11,5, Verzückung) und Paulus (Verzückung: Apg. 22,17; entrückt werden: 2Kor 12,24) genannt. Bei diesen Verzückungen, die bei den Aposteln während des Gebetes auftraten, tritt die Wahrnehmung der Umwelt zurück zugunsten göttlicher Offenbarungen.

(14) Aufgehellte Stimmungen und Welterfahrungen sind allein noch, wie beispielsweise in "Psalm" (55) , im Modus ihrer Durchstreichung aussprechbar. Der bekannte Eingangsvers "Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat" vergegenwärtigt wie in "Die Raben" ein solche Anwesenheit des Abwesenden.

(15) Zur problemgeschichtlichen Bestimmung des Perspektivismus bei Nietzsche vgl. Severin Müller: Topographien der Moderne. Philosophische Perspektiven - literarische Spiegelungen. München 1991, S. 77-117.

(16) Nietzsche: Sämtliche Werke (Anm. 3) Band 13, S. 371.


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