Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Ist der Eurozentrismus wirklich tot?

Karl Katschthaler (Debrecen)

I. Der Eurozentrismus ist hartnäckiger, als man glaubt

In letzter Zeit ist viel von Mulitkulturalismus, Überwindung des Eurozentrismus und vom postkolonialen Blick die Rede, wie auch eine neulich von Paul Michael Lützeler herausgegebene Anthologie heißt, die Texte deutschsprachiger Schriftsteller über die "Dritte Welt" aus den 80er und 90er Jahren enthält. Über die dort versammelten Autorinnen und Autoren urteilt Lützeler: "[...] mit dem offenen, wißbegierigen, solidarischen und gleichwohl kritischen postkolonialen Blick suchten sie das kulturell Andere zu erkennen."(1) Wird also die fremde Kultur weder eurozentrisch bloß an den eigenen Maßstäben gemessen, noch in einer Art umgekehrtem Eurozentrismus gegenüber der verachteten eigenen Kultur idealisiert? Lützelers Antwort lautet nein, denn die versammelten Autorinnen und Autoren seien kritisch gegenüber der eigenen wie der fremden Kultur und seien sich der Tatsache auch durchwegs bewußt, daß sie in ihren europäischen Denkweisen insofern gefangen sind, als sie sie zwar revidieren, aber nicht aufgeben können und wollen. Daß aber der Eurozentrismus auch auf dieser hohen Reflexionsstufe nicht so ohne weiteres überwunden werden kann, darauf weist Uwe Timm in seinem Beitrag hin, wenn er befürchtet, daß der europäische Schriftsteller in der Dritten Welt immer in Gefahr sei, sich der Fremde bloß zu bedienen. Edward Said paraphrasierend meint er, die Gefahr bestehe, "daß die Erzählung, gemeint ist die europäische, eine Struktur der Einstellung und Referenz hat, die das europäische Subjekt ermächtigt, sich in überseeische Territorien einzunisten, Nutzen daraus zu ziehen, um ihnen letztlich aber Autonomie oder Unabhängigkeit zu verweigern."(2) Neugier allein genüge nicht, vor dieser Gefahr könne nur die Erfahrung der Differenz im Staunen gegenüber dem Fremden bewahren, ein Staunen, das zur Erkenntnis führen müsse, daß die eigene Wahrnehmung vorläufig und geschichtlich bedingt sei. Eine auf diese Weise möglich gewordene Wahrnehmungsveränderung beschreibt Bodo Kirchhoff in seinem Beitrag zu einer anderen Anthologie an sich selbst. In Gesprächen, die er mit Äthiopiern führt, verändert sich sein Blick auf dieses Land.(3) Entgegen Lützelers Optimismus scheinen sich mir aber viele der Texte seiner Anthologie in einer gefährlichen Nähe zu der von Timm aufgezeigten Gefahr zu befinden. Sie geraten in diese Gefahr, weil in ihnen zwar über fremde Kulturen berichtet wird, Vertreter dieser Kulturen aber kaum selbst zu Wort kommen, das europäische Subjekt also einen Monolog über diese Kulturen führt und sich so über sie stellt. Das extremste Beispiel dafür ist Günter Grass´ Beitrag mit dem verräterischen Titel Zum Beispiel Calcutta, in dem Calcutta tatsächlich zum Beispiel für eine in Anlehnung an die Berichte des Club of Rome angenommene apokalyptische Weltentwicklung instrumentalisiert wird. "Calcutta steht vor der Tür und läßt sich nicht abweisen."(4), lautet der Schlußsatz. So wird Calcutta zur Chiffre der Bedrohung der "Ersten Welt", und der Eurozentrismus schleicht sich hinterrücks in den postkolonialen Blick zurück.

Doch auch die Wissenschaft, die sich mit fremden Kulturen beschäftigt, die Ethnologie, bemüht sich in den 80er und 90er Jahren redlich, den Eurozentrismus zu überwinden. Dieses Bemühen äußert sich in einer "Krise der ethnographischen Repräsentation", so der Untertitel des deutschsprachigen Sammelbandes(5), der die vor allem angelsächsische Diskussion über die Angemessenheit ethnographischer Darstellungsweisen zusammenfaßt. Diese Krise führte einerseits zur Ausbildung einer Meta- und sogar einer Metameta-Ethnographie, die aufzeigten und kritisierten, wie ethnographische Genrekonventionen das ethnographische Schreiben und die Wahrnehmung der fremden Kultur beeinflussen. Andererseits kam es zu einem experimental Moment, einer Phase des Experiments mit neuen, anderen Schreibweisen und Darstellungsformen in der Ethnographie, die dann wiederum von den Metaethnographen analysiert und bewertet wurden.(6) Interessant erscheinen vor allem jene ethnographischen Experimente, die versuchen, die Stimmen der Vertreter der fremden Kultur nicht zu unterdrücken, sondern ihnen Raum zu geben, in einen Dialog mit ihnen einzutreten. Sieht man sich diese dialogischen Ethnographien aber näher an, so stellt sich heraus, daß die Ethnologen letztlich die volle Kontrolle behalten, so daß Stephen Tyler von als Dialog angeordneten ethnographischen Texten mit Recht als Maskerade sprechen kann, durch die die Stellung des Informanten nicht wirklich verbessert werde, weil seine Worte Instrumente des Wollens des Ethnographen blieben.(7) Genau das weist Klaus Neumann an einem der prominentesten Beispiele der dialogischen Ethnographie, Vincent Crapanzanos Tuhami(8), nach. Crapanzano führe eine kritische Bearbeitung der Stimme Tuhamis durch, er fülle Lücken und korrigiere Inhalte, halte so an seiner ethnographischen Autorität fest, obwohl er sich dessen am Schluß selbst bewußt werde.(9) Der Marokkaner ist eben doch nur ein Informant, kein gleichberechtigter Gesprächspartner.

Doch nicht alle Vertreter der Kulturen, die traditionell zum Gegenstand der Ethnologie werden, geben sich heutzutage noch mit dem Status des Informanten zufrieden. "The natives talk back.", so lautet die ebenso einprägsame wie verräterische Formel dafür in der angelsächsischen Anthropologie. Europäische und amerikanische Ethnologen müssen sich heute oft mit lokalen Anthropologen und Soziologen auseinandersetzen, deren Stimmen nicht mehr so einfach zu ignorieren sind wie die der Informanten früherer Zeiten. Daß aber selbst zwischen solchen anscheinend doch auf gleicher Stufe stehenden Gesprächspartnern kein echter Dialog zustande kommt, sondern die westlichen Anthopologen ihr Autoritätsmonopol verteidigen, das hat Veena Das am Beispiel des anthropologischen Diskurses über Indien nachgewiesen. Das liegt vor allem daran, daß die andere Kultur weiterhin nur als Gegenstand gesehen wird: "Andere Kulturen erlangen Legitimität nur als Gegenstände des Denkens - niemals als Instrumente des Denkens."(10) Daher werde der indische Anthropologe auf die Rolle des Informanten beschränkt, es sei denn, er paßt sich den westlichen Normen an und übernimmt sie bedingungslos. Anthropologie und Soziologie, die von anderen als den westlichen Werten ausgeht, werde automatisch als "neohinduistisch", "provinziell" und "rückwärtsgerichtet" disqualifiziert. Hier ist an die Warnung von Bernhard Waldenfels zu erinnern, der die Gefahr sieht, daß der alte Ethnozentrismus durch einen Logozentrismus ersetzt werde, der als Verbindendes hinter dem Eigenen und dem Fremden einen einheitsstiftenden Logos vermutet. Diese Form des Eurozentrismus diagnostiziert Waldenfels als die gefährlichste, "denn die Sprache des Ganzen nimmt dem Gegner jeden Einwand aus dem Mund und macht ihn mundtot".(11) Dieses Mundtotmachen kann, wie die Beispiele, die Veena Das anführt, einerseits und die Beispiele der dialogischen Ethnographie, wie etwa Crapanzanos Tuhami andererseits zeigen, mehr oder weniger subtile Formen annehmen. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie zeigen, daß also auch im Bereich der Ethnologie, trotz guten Willens, der Eurozentrismus erhalten bleibt.

"Warum geht Crapanzano nicht weiter?", fragt Neumann und gibt selbst die Antwort: Weil er sonst seine Identität als Ethnologe und jede Aussicht auf Karriere als solcher verlöre. Eine Lösung für das Dilemma hat Neumann natürlich nicht, doch er fordert, wie andere auch, als Zwischenlösung die Ethnologie selbst zum Gegenstand ethnologischer Forschung zu machen.(12) Radikal in Frage gestellt kann eine Wissenschaft nur von einer Außenseiterposition aus, entweder von jemandem, der noch nicht drin ist und nicht weiß, ob er es jemals sein wird, wie Neumann selbst, oder von jemandem, der schon Karriere gemacht hat, aber von der etablierten Wissenschaft oder vom Staat ausgegrenzt wird. Wie sieht es aber mit einem Außenseiter aus, der nicht unter dem Druck des Faches und der universitären Institutionen steht, der keine Angst um seine akademische Karriere haben muß, weil er sowieso keine Chance hat, eine zu machen?

II. Was man von Hubert Fichte lernen kann

Ein solcher Außenseiter war Hubert Fichte. Dementsprechend scharf greift er die Wissenschaft an. In seinen Ketzerischen Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen(13) entwickelt Fichte aus einer Kritik der Humanwissenschaften, vor allem aus der Kritik der Sprache der Wissenschaften, einerseits eine Wissenschaftsethik und andererseits ein poetisches Konzept einer "neuen Wissenschaft vom Menschen". Er geht aus von einer These über den Zusammenhang von Sprache und Verhalten: "Worte sind Verhaltensweisen". Die Humanwissenschaften beschäftigen sich mit Verhaltensweisen, und sie stellen sie mit sprachlichen Mitteln dar.(14) Ausgangspunkt von Fichtes Wissenschaftskritik ist folgerichtig eine Sprachkritik.

Im "wissenschaftlichen Jargon" erblickt Fichte den Ausdruck von Unmenschlichkeit und Neokolonialismus, er verhülle Zusammenhänge mehr als er sie aufdecke, verdränge seine "ideologischen Reflexe" und entmündige den Menschen.(15) Der Grund bestehe darin, daß die wissenschaftliche Sprache auf der Informationstheorie basiere: Lügen, Über-/Untertreibung, Andeutung, Ironie, Metaphern, Tropen haben dort keinen Platz, das Unbewußte und das Unterbewußte werden ausgegrenzt. Die menschliche Information setze sich aber fast nur aus diesen Komponenten zusammen.(16) Das führe zu einer Verschleierung des Psychischen, zur "Auslieferung des 'Krankenguts', der 'Versuchsperson' an den Wissenschaftler". (Petersilie, 360)

Fichte leitet daraus zum einen einen erkenntnis- und zum anderen auch einen zivilisationstheoretischen Pessimismus ab. Der Fortschritt der Wissenschaft bestehe nicht darin, der Realität immer mehr gerecht zu werden, sondern umgekehrt in der immer stärkeren Anpassung der Realität an das wissenschaftliche Modell. So konnte die Wissenschaft auch keinen zivilisatorischen/moralischen Fortschritt bringen.

Dieser von ihm "statisch" genannten Wissenschaft stellt er eine "dynamischere" gegenüber: Sie soll nicht nur das Dargestellte präsentieren, sondern auch die "Entwicklung des Darstellenden", sie soll ihre Voraussetzungen - warum wer was erforscht - und ihre Finanzierung offenlegen, und schließlich sollen Forscher nicht länger ihren "Flirt mit totalitären Gedanken" verschleiern, sondern im Lauf ihrer Entwicklung analysieren.(17) Unter einer dynamischen Wissenschaft ist also eine selbstreflektierende und selbstkritische Wissenschaft zu verstehen.

Die "neue Wissenschaft vom Menschen" bedarf neben dieser Ethik aber noch einer weiteren Komponente: die Antinomie von Beschreibung und Beschriebenem darf nicht verschleiert, sie soll ausgedrückt werden. Hier kommt nun der literarische Bereich ins Spiel, denn: "Antinomien können nur poetisch ausgedrückt werden". (Petersilie, 359) Dabei geht Fichte von einer bestimmten Auffassung von der Funktion der Form eines Textes aus. Form ist "positive Information". Die Einführung der poetischen Sprache in die Wissenschaft könnte so die Antinomie von Beschreibung und Beschriebenem ausdrücken, indem sie die Sprache der Wissenschaft vieldimensional macht:

Die Welt würde nicht länger aufgefaßt als ein Supermarket, aus dem man in Halbpfundspaketen einsammelt, sie teilte sich nicht länger in Beschreiber und Beschriebene, Gebrandmarkte.
Ethnologische Forschung würde ein dialektischer Vorgang, eine sprachliche Correspondance. (Petersilie, 363f.)

Fichte spricht hier zwei Probleme an, die aus der Ethnologiediskussion bekannt sind: (1) die Auffassung der Kultur/Welt als "store of knowledge" in der traditionellen Ethnologie und (2) das repressive Wissenschaftler-Informant-Verhältnis. Wie soll aber nun diese andere, poetische Sprache aussehen?

Was diese andere Sprache ausmachen soll, das wird schon im Versuch über die Pubertät angedeutet:

Allmählich entwickelt sich in mir die Freiheit, das Diskrepante zu schreiben, das ich früher in der Lokstedter Einheitlichkeit sorgsam wegstrich; meine Niederlagen fixieren, Sprünge, Widersprüche, das Unzusammenhängende nicht kitten, sondern Teile unverbunden nebeneinander bestehen lassen, mit zwei falschen, übertriebenen Aussagen die Tatsachen anpeilen. (Pubertät, 294)

Widersprüche stehenlassen, das Unzusammenhängende nicht kitten, genau diese Freiheit hatte, wie wir gesehen haben, Crapanzano nicht. Er konnte es sich nicht erlauben, oder glaubte es sich nicht erlauben zu können, Tuhamis Rede mitsamt ihren Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen stehen zu lassen. Er hatte jene andere Sprache nicht zur Verfügung. Aber auch für Fichte stellt sich diese andere Sprache als nicht so leicht zu verwirklichen heraus, wie es im Enthusiasmus des Aufbruchs zunächst scheint, denn eine solche Sprache erweist sich als eine erst noch zu schaffende. Alle herkömmlichen Sprachen sind nämlich zerstörerisch, weil sie der Produktion von Macht dienen. Im Haiti-Kapitel von Xango (119) zählt Fichte die menschlichen Tätigkeiten auf, mit denen die Wirklichkeit "besiegt" wird: die Naturwissenschaften (die Physik), die Kulturwissenschaften (die Ethnologie), die Kunst (die Malerei), die Literatur (der Roman), die Literaturkritik (die Rezension), auch die Avantgarde siegt und sogar das Gespräch besiegt Sujet und Gesprächspartner. Da Fichte einen Zusammenhang mit dem Kolonialismus herstellt, scheint zunächst klar, wer hier die "Sieger" und wer die "Besiegten" sind. Doch sind nicht einfach die Vertreter der eigenen Kultur die Sieger und die der "Dritten Welt" die Besiegten, sondern auch innerhalb der eigenen Kultur gibt es solche Machtverhältnisse: "unsere Wörter sind die Franzosen, die die Spanier und die Indianer niedermetzeln." (Xango, 119), heißt es nämlich mit historischem Bezug auf Haiti. Zugleich wird das Problem hier als ein sprachliches gekennzeichnet. Unmittelbar nach diesem Satz wechselt Fichte vom Wir zum Ich:

Ich gehe aus Haiti nicht als Sieger hervor.
Meine Aufzeichnungen sind die Aufzeichnungen von Irrtümern, Fehlschlüssen, Kurzschlußhandlungen. (Xango, 119)

Um der zerstörerischen Wirkung der Sprache der eigenen Kultur zu entgehen, greift Fichte also zur Technik der Umkehrung. Die Sprache des Sieges wird umgekehrt in eine Sprache der Niederlage. Aber wo ist diese Sprache zu finden, wenn sie denn schon irgendwo existieren sollte? Auch hier begegnet uns die Technik der Umkehrung: wenn nicht bei den Siegern, dann also bei den Besiegten. Doch in diesem Zusammenhang macht Fichte eine deutliche Einschränkung, denn von dieser anderen Sprache, die bei den Besiegten zu suchen sei, spricht er im Konjunktiv:

Gäbe es zwischen dem Wittgenstein´schen Schweigen und der Sprache unsrer Siegeranalysen und Siegersynthesen eine Sprache, in der die Bewegung sich abwechselnder und widersprechender Ansichten deutlich werden könnte, das Dilemma von Empfindlichkeit und Anpassung, Verzweifeln und Praxis - ich würde sie benützen.
Es wäre eine wesentlich andre Sprache.
Vielleicht verfügten die Indianer und die Afrikaner über weniger kolonisierende Ausdrucksweisen. (Xango, 119)

Hier nimmt Fichte eigentlich seine wenige Zeilen vorher gemachte Feststellung, er gehe aus Haiti nicht als Sieger hervor, zurück, jedenfalls relativiert er ihre zunächst außer Zweifel stehende Gültigkeit. Ganz unrettbar ist die Utopie der anderen Sprache aber nicht, denn zumindest läßt sich ihr Ort angeben. Dieser Ort der anderen Sprache ist im Zwischen angesiedelt, zwischen Schweigen und Siegersprache. Wie das zu verstehen ist, wird klarer, wenn man sich die einzige Ausnahme innerhalb der siegreichen eigenen Kultur, die Fichte erwähnt, vor Augen hält: "(Nur Cézanne verzichtete zuletzt auf Siege und ließ weiße Flecken als Niederlagen auf der Leinwand zurück.)" (Xango, 119), hält Fichte in Klammern der siegreichen Malerei entgegen. Man muß das wohl, wie Weinberg es tut(18), auch auf Fichtes Schreibweise beziehen. Auch in Fichtes Texten gibt es - schon auf den ersten Blick ins Auge springend - diese weißen Flecken zwischen den einzelnen Abschnitten, in denen er seine Irrtümer ausbreitet und die anderer (z. B. in Interviews, die oft ohne die Fragen wiedergegeben werden), und in denen er auch die Besiegten, die Vertreter der "Dritten Welt" und die Außenseiter der eigenen Kultur zu Wort kommen läßt. Doch erst diese weißen Flecken, dieses Schweigen zwischen den Abschnitten, schafft den nötigen Raum für dieses Zuwortkommenlassen und ermöglicht es, die Irrtümer in Beziehung zueinander zu setzen.(19)

Wie kommt es aber zu dieser Freiheit, von der Fichte spricht? Diese Frage hängt eng mit der Frage zusammen, warum sich jemand überhaupt mit fremden Kulturen oder mit der eigenen Kultur als einer fremden auseinandersetzt. Man kann wohl davon ausgehen, daß man, um sich forschend mit ihr zu beschäftigen, die eigene Kultur als problematisch empfinden muß. Das gleiche gilt für die forschende Beschäftigung mit fremden Kulturen, das gleiche aber nicht nur in dem Sinn, daß einem die fremde Kultur als problematisch erscheint - das ist ja durch ihre Fremdheit schon gegeben -, sondern auch in dem Sinn, daß auch in diesem Fall die eigene Kultur nicht mehr selbstverständlich erscheint. Zum einen liegt das daran, daß durch die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen auch ein Blick auf die eigene Kultur von außen ermöglicht wird. Zum anderen aber scheint eine Problematisierung der eigenen Kultur geradezu eine Voraussetzung für die Ethnologie zu sein. Exemplarisch läßt sich das sowohl bei Lévi-Strauss als auch bei Fichte beobachten.

Immer wieder übt Lévi-Strauss Kritik an seiner eigenen Gesellschaft, die für ihn eine überkomplexe "Globalgesellschaft" darstellt, in der Anonymität und Entfremdung herrschten. Menschlichkeit dagegen "besteht überall in erster Linie in den Beziehungen zwischen Personen, die sich gegenseitig kennen."(20) So werden sein Gegenstand die "primitiven" Gesellschaften, in denen solche authentischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern noch möglich sind. Der modernen Gesellschaft, an der er leidet, hält der Rousseau-Interpret als Utopie die Idee einer "brüderlichen Menschheit"(21) entgegen. Was Lévi-Strauss in den Tropen sucht, ist nichts anderes als seine Version des contrat social im Naturzustand, in dem Selbsterhaltungstrieb und die Tugend des Mitleids noch in einem harmonischen Verhältnis miteinander seien.(22) Genau diesen Zustand glaubt er bei den Nambikwara zu finden, die sogar harmonisch mit den Tieren wie mit Menschen zusammenlebten.(23) Doch diese "edlen Wilden" verhalten sich nicht immer so, wie Lévi-Strauss sich das wünschen würde. Das führt dann zu den Stellen in Traurige Tropen, an denen Lévi-Strauss abfällig über die realen "Wilden" spricht, jene Stellen, die auch Fichte beobachtet und in Land des Lächelns polemisch angehäuft hat. Von Rousseau glaubt Lévi-Strauss gelernt zu haben, daß es darum gehe, "das Ursprüngliche vom Künstlichen in der heutigen Natur des Menschen zu trennen", um den "natürlichen Menschen" kennenzulernen. Das sei nur möglich mit Hilfe der Ethnologie, weil man nur durch die Kenntnis fremder Gesellschaften die Mittel in die Hand bekomme, sich von der eigenen zu lösen. Nur wenn man zur eigenen Gesellschaft Distanz gewinne,

wird es uns möglich sein [...], unsere Kenntnis fremder Gesellschaften zur Herausbildung jener Prinzipien des sozialen Lebens zu verwenden, die uns erlauben, unsere eigenen Sitten und Gebräuche [...] zu reformieren. (TT, 362f.)

Die Ethnologie soll demnach das theoretische Modell zur Veränderung der eigenen Gesellschaft liefern. Das Ziel dieser Veränderung, meint Lévi-Strauss, Rousseau zitierend, soll "die rechte Mitte zwischen der Trägheit des primitiven Zustands und der ungestümen Aktivität der Eigenliebe" (TT, 387) sein. Das ist das Modell, das er außerhalb von Zeit und Raum situiert, denn keine Gesellschaft habe es je ganz verwirklicht. Im Rückblick erhalten so alle in den Tropen besuchten Gesellschaften den gleichen Status: Gemessen an der rousseauistischen Utopie sind sie mehr oder weniger gelungene Versuche der Realisierung ein und desselben Ziels. Obwohl dieses Ziel ein außerhalb der Geschichte angesiedeltes theoretisches Modell sein soll, scheint Lévi-Strauss doch zu glauben, daß die "authentischen" Gesellschaften ihm näher seien als die Gesellschaft der "mechanisierten Zivilisation" (TT, 362). Da diese Zivilisation die "authentischen" Gesellschaften zerstört hat, ist sie schuldig geworden. Daher spricht Lévi-Strauss von der Ethnologie als einem "Symbol der Sühne" (TT, 364). Das verweist uns auch darauf, was diese Idealisierung der fremden und Verachtung der eigenen Kultur, was dieser umgekehrte Eurozentrismus letztlich bedeutet. In Fink-Eitels Worten: "Idealisierung und Verachtung sind eine unbewußte Distanzierung von der eigenen Schuld."(24)

Diese eben beschriebene Entfremdung von der eigenen und Flucht in die Idealisierung der fremden Kultur führt Fink-Eitel auf das Phänomen der Melancholie, verstanden nicht im streng pathologischen Sinn, sondern als "existentielle Erfahrung vor dem Hintergrund bestimmter soziokultureller Konstellationen"(25), zurück. Tellenbach(26) folgend unterscheidet er vier Merkmale der Melancholie:

  1. Inkludenz: Der Melancholiker fühlt sich eingeschlossen in die sozialen Bräuche und Institutionen einer unwandelbaren Gesellschaft.
  2. Der Melancholiker ist festgelegt auf Ordentlichkeit und Leistung. Aus (2) zusammen mit (1) ergibt sich:
  3. Remanenz: Der Melancholiker kann die Grenzen, in die er eingeschlossen ist, durch Leistung nicht überschreiten, bleibt also ständig hinter den eigenen, überhöhten Anforderungen zurück. Dies führt schließlich zu einer Fluchtbewegung:
  4. Transzendenz: Diese Fluchtbewegung hat die Struktur der Umkehrung. Die Überidentifikation mit den Normen der eigenen Gesellschaft führt so zur Loslösung von der eigenen, verachteten Gesellschaft.

Eben diese Melancholie, von der ja auch Lévi-Strauss selbst immer wieder sprach, führe bei Lévi-Strauss zu jenem umgekehrten Eurozentrismus.

Auch bei Hubert Fichte sind Indizien für die Verlockung der Idealisierung der fremden gegenüber der verachteten eigenen Kultur zu finden. Am deutlichsten wird das in seiner Idee eines Zusammenhangs von repressionsfrei lebbarer Bisexualität und Bikontinentalität in der afroamerikanischen Kultur. Die Unhaltbarkeit dieser These gesteht er aber selbst ein, als er erkennt, daß es sich dabei um eine Idealisierung handelt.(27) Wie konnte aber Fichte im Gegensatz zu Lévi-Strauss dieser Verlockung des Exotismus entgehen, wie konnte er im Gegensatz zu Crapanzano jene Freiheit gewinnen, von der oben die Rede war. Sind seine Voraussetzungen andere?

Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus. Denn kann man bei Fichte von Inkludenz sprechen? Müßte man bei Fichte denn nicht eher von Exkludenz sprechen? War Fichte nicht eher ein von Anfang an aus seiner Gesellschaft Ausgeschlossener denn ein in ihre Normen Eingeschlossener? Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, begegnet immer wieder in Fichtes Werk. Ausgeschlossen ist er schon als Kind im Nationalsozialismus als "Halb-Jude", ausgeschlossen ist er als Homosexueller, weil er als solcher nicht den Normen seiner Gesellschaft entspricht.(28) Daß er aber dennoch den Normen dieser Gesellschaft entsprechen zu müssen glaubt, zeigt sich einerseits im von Reinhold Werner diagnostizierten Rechtfertigungszwang gegenüber der zur All-Mutter-Projektion vergrößerten Mutter.(29) Doch auch Fichte selbst erkennt, daß der Ausgeschlossene in einer paradoxen Umkehrung dennoch in die Normen der Gesellschaft eingeschlossen ist:

Nun muß ich brillant sein.
Unwiderruflich.
Ich habe nur eine Chance: Verstellung und Brillanz.
Der Homosexuelle hat nur eine Chance - die Brillanz, und er wird wegen ihrer gehaßt; ist er nicht brillant, wird er verachtet. (Pubertät, 224f.)

Der Melancholiker ist festgelegt auf Ordnung und Leistung, lautete oben die zweite Bestimmung der Melancholie. Er identifiziert sich übermäßig mit den Normen seiner Gesellschaft, das führt zur Einschließung. Auch Fichte, der Ausgeschlossene, möchte von seiner Gesellschaft nicht verachtet werden. Verachtet wird er von seiner Gesellschaft, weil er bestimmte ihrer Normen nicht erfüllt. Die einzige Möglichkeit, der Verachtung zu entgehen, besteht darin, bestimmte Nomen der Gesellschaft überzuerfüllen, eine übergroße Leistung zu erbringen, brillant zu sein. Doch selbst wenn er das schafft, wird er nicht wieder aufgenommen, sondern bleibt ein Ausgeschlossener: Verachtung verwandelt sich in Haß. Dieser ist aber immer noch erträglicher als die Verachtung, denn er enthält immerhin - wenn auch negativ - die Anerkennung der Leistung. "Das heißt: Ich sublimiere und werde von den Normalen als wertvoll erachtet." (Pubertät, 237), heißt es später. So erweist sich der Homosexuelle als Ausgeschlossener und Eingeschlossener zugleich.

Daß dieses Syndrom der Melancholie bei Fichte nicht wie bei Rousseau und seinem Schüler Lévi-Strauss zur Projektion des edlen Wilden führt, mag in Fichtes Selbstaufklärung begründet sein. Dabei erkennt Fichte, daß der Homosexuelle besonders anfällig für die Verlockung der Exotik ist.(30) Daß er dieser Verlockung dennoch nicht erliegt, ist aber wohl auch darin begründet, daß die Eingeschlossenheit des Ausgeschlossenen noch nicht alles ist. Auch Fichte selbst hat erkannt, daß er nicht einfach nur ein Ausgeschlossener aus seiner Gesellschaft war, sondern unter einem doppelten Ausschluß litt: "Bisexualität war 49 nicht im Schwange und wurde von beiden 100prozentigen Lagern verachtet." (Pubertät, 51) Diese Stelle steht in einem Kontext, in dem es um Fichtes Fluchtbewegung aus der eigenen Gesellschaft, seinen Wunsch, einfach nur wegzugehen, da hier kein Platz für ihn sei, geht. Dieser Versuch der Flucht wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, daß er offensichtlich nicht einmal unter den aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen Platz hatte. Dieser doppelte Ausschluß führt aber nicht einfach noch weiter in die Peripherie der Gesellschaft, sondern in ein Zwischen. Dieser Ort des Zwischen ist aber keineswegs ein angenehmerer als es die äußerste Peripherie wäre, denn dieses Zwischen bedeutet eben keine halbe Anerkennung durch beide Lager, sondern eher ein Zwischen im Sinne eines Zwischen-allen-Stühlen-Sitzens. Dieses Zwischen bedeutet genau das, was Fichte durch Brillanz überwinden will: Verachtung, eine Verachtung vor der aber auch die Flucht in die andere Kultur nicht bewahrt, denn auch dort gilt: "Der Neger ist primitiv, aber der Mulatte verachtenswert." (Pubertät, 51) "Ich bin Mischling ersten Grades, ein uneheliches Kind und nun auch noch schwul - das ist übertrieben." (Pubertät, 36), war die Reaktion auf Pozzis Enthüllung seiner Bisexualität, genauer müßte man aber im Lichte des obigen Zitats sagen: Mischling und auch noch bisexuell.

So wie Fichte die Umkehrung des Sieges, die Niederlage, und die Umkehrung der Wahrheit, den Irrtum, ins Positive umkehrte und aufwertete, so wertet er auch das verachtete Unreine, das Gemischte auf: "Für die Mischung von Kulten, [...] Für die Mischung des Mischlings, [...] für den bisexuellen Gott Xango, dem die Gilletteklingen geweiht sind." (Pubertät, 146) Dieses aufgewertete Zwischen findet Fichte im Synkretismus der afroamerikanischen Religionen, bei verachteten Schriftstellern, die er aufwertet, bei Herodot, der zum Freund wird. Nicht nur das Reise-Begehren, die Faszination des schwarzen Mannes, die Empfindlichkeit im Gegensatz zur "Geschichte der Unempfindlichkeit" (HuL I, 396), die in Europa nach Herodot begonnen habe, findet er bei Herodot, sondern auch jenes Zwischen. In seinem Herodot-Essay spricht Fichte von "Herodots Stellung zwischen Magie und Säkularisation" (HuL I, 409) Wie sich herausstellt, ist damit keine zeitliches Zwischen, keine Entwicklung von einem Zustand der Magie zu einem Zustand der Säkularisation, gemeint, sondern ein Schwanken zwischen "Logik des magischen Weltbildes und Logik des Weltbildes der Naturwissenschaften" (HuL I, 402), eine Ambivalenz, die Fichte auch noch für die moderne Gesellschaft feststellt, wo sie allerdings ins Unbewußte verdrängt wird.(31) Für Herodot dagegen sei das Verhältnis zum Magischen/Religiösen gar nicht selbstverständlich, denn wenn er über Götter spricht, macht er "Anmerkungen, die einen Zweifel ausdrücken, Schwanken, Zögern." (HuL I, 402) Dieses Schwanken zwischen Offenheit und Verbergen, Glauben und Säkularisation, Magie und Wissenschaft, das bei Herodot aber nicht verdrängt oder als Aufklärung bloß verkleidet, sondern im Text mit ausgedrückt werde, führe zu einem Wissensbegriff, der Zweifel und Widersprüche mit einschließe: "Eine solche X-Spältigkeit macht wohl Wissen aus und Aufklärung." (HuL I, 409f.) Eine solche Aufklärung ist eine stets gefährdete, so auch bei Herodot:

Herodots Werk endet im Grauen, in Riten des Sadismus, ganz pessimistisch.
Doch - auch das darf nicht verschwiegen werden - es enthält nie eine Verteidigung des Rassismus, es ist nie auf seiten derer, die in das Sexualverhalten anderer eingreifen wollen, es verteidigt nie Menschenraub und Sklaverei, wie die Bibel, der elegante Aristoteles und die New York Times.
Herodot als der erste Schriftsteller protestiert immer gegen Unmenschlichkeit, wie noch jene grauhaarigen Jünglinge, die der Times einen Prozeß wegen Rassismus anhängen. (HuL I, 406f.)

Diese Beschreibung Herodots erinnert derart an Fichte selbst, daß sich die Frage stellt, ob es sich hier nicht mehr um eine Projektion als eine tatsächliche Beschreibung handelt. Doch da es hier um Fichte geht und nicht um Herodot, ist diese Frage eigentlich unerheblich. Wichtig ist dagegen, daß sich über den Herodot-Essay auch wieder ein Bezug zum Wahrheitsbegriff Fichtes herstellt, denn über Herodot heißt es, daß er "die Welt in Wörtern neu erstellte und verstellte". (HuL I, 410) Aus der Stellung des Zwischen erweist sich die Wahrheit erst recht als etwas erst Herzustellendes, als ein durch Sprache Gemachtes. So wird erst die Freiheit möglich, die Fichte sich nehmen kann, und die Crapanzano fehlte.

Aber vor noch etwas hat Fichte möglicherweise gerade das Erleben des Zwischen bewahrt. Fichte erliegt nämlich nicht der Versuchung, entweder den edlen Wilden oder den bösen in den ursprünglichen Naturzustand zurückzuprojizieren. Denn dieser Urzustand ist für Fichte selbst schon ein Gemischter:

Les Eyzics. Lascaux. 700 Millionen Jahre alte Malereien. Im Anfang war also nicht das Grobe, das Simple, sondern [...] Rehe und Büffel von jagenden Watteaus und zaubernden Ingres´. (Pubertät, 221)

Genauso wenig wie es den reinen säkularisierten Menschen gibt, weil "sekundäre Riten" sich einstellen, genauso wenig gibt es einen reinen magischen Anfang. Es gibt keinen Naturzustand am Anfang, denn schon am Anfang waren Natur und Kultur, Magie und Säkularisation. So bleibt Fichte auch vom umgekehrten Eurozentrismus eines Lévi-Strauss verschont.

Fichtes Beispiel zeigt, daß der Eurozentrismus also doch nicht unüberwindlich ist. Was bei seiner Überwindung allerdings auf der Strecke bleibt, ist viel. Die Vorstellung, es habe jemals Reinheit gegeben, oder es könnte sie jemals geben, muß aufgegeben werden zugunsten einer Vorstellung der Mischung schon von allem Anfang an. Damit ist auch der Begriff der Wahrheit, der von Wahrheit als einem Gegebenen, das nur gesucht werden muß, unrettbar. An seine Stelle muß ein anderer Wahrheitsbegriff treten: Wahrheit ist immer ein durch Sprache erst Hergestelltes, doch jede dieser Wahrheiten - der Plural ist hier schon bezeichnend - ist auch wieder ein Irrtum, sodaß so etwas wie "Wahrheit" überhaupt nur zwischen diesen Irrtümern aufleuchten kann.(32) Nur so und um diesen Preis kann man der Gefahr des Eurozentrismus als Logozentrismus entgehen.

III. Zu übertriebenem Optimismus besteht dennoch kein Grund

Um aber zu erkennen, daß wir noch lange nicht so weit sind, ist es gar nicht nötig, sich auf das Feld der Ethnologie oder das der Literatur über fremde Kulturen zu begeben. Wir können ruhig in Europa bleiben, um einen immer noch blühenden Erozentrismus mitsamt seiner Verdrängungen und Idealisierungen festzustellen. Ein lehrreiches Beispiel dafür ist der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. In der Berichterstattung der Medien waren zwei komplementäre Tendenzen zu beobachten, die Mario Erdheim die "entfremdende Tendenz" und die "idealisierende Tendenz" nennt.(33) Die entfremdende Tendenz ist folgendermaßen zu charakterisieren: Eigene Probleme werden auf das Objekt projiziert, dieses erscheint irrational und muß daher beherrscht werden. Diese Tendenz findet sich in der Vorstellung vom "bösen Wilden", die sich exemplarisch bereits bei Fernández de Oviedo findet, der die Indianer als mitleidlose Bestien und Sexmonster beschreibt. Was anderes als eine Ausgrenzung der Serben aus Europa und ihre Entfremdung zu wilden Bestien lieferten uns die Medien während des Jugoslawienkonflikts? Wurden nicht umgekehrt die Bosnier idealisiert und alles ausgeschlossen und verschwiegen, was nicht in dieses idealisierte Bild paßte? Doch auch die idealisierende Tendenz im engeren Sinn, wie sie Erdheim beschreibt, begegnet uns, diesmal nicht in den Medien, sondern beim Schriftsteller Peter Handke.(34) Die idealisierende Tendenz besteht darin, die eigene Kultur abzuwerten und die fremde spiegelbildlich zu idealisieren, wobei alles ausgeschlossen bleibt, was nicht in dieses Bild paßt. Was anderes begegnet uns bei Handke, der Serbien zum "nebendraußen" gelegenen Land seiner Träume wegidealisiert und alles, was nicht diesem Bild entspricht, der bösen, verachtenswerten modernen Mediengesellschaft als Lügen in die Schuhe schiebt? All diesen Sichtweisen ist aber eines gemeinsam, daß nämlich der Konflikt als einer der anderen behandelt wird, in den Europa je nach politischer Positionierung des Kommentators entweder ordnend eingreifen oder sich heraushalten soll, eine Einstellung, die in der Äußerung der liberalen Journalistin Marion Gräfin Dönhoff gipfelt: "Aber wenn sie denn ihren serbokroatischen Haß unbedingt ausleben wollen, dann sollte man sie eben lassen."(35) Die Verwendung der Pronomen "sie" und "man" ist dabei bezeichnend. So wird verschleiert, was in Wahrheit dahintersteckt, die Ansicht nämlich, die Serben litten an einer Krankheit, von der Europa - aus dem Jugoslawien ausgeschlossen wird - glaubt, sie schon längst hinter sich gelassen zu haben, die Krankheit des Nationalismus. Doch diese "Orientierung an einer einzigen Weltenuhr gehört zu den eurozentrischen Relikten."(36) Das eigene Verdrängte wird in die fremde Kultur projiziert, auch wenn diese erst durch Ausschluß aus der eigenen zur fremden gemacht werden muß. Aber genau das eben ist Teil dieser Verdrängung, die den Eurozentrismus ausmacht. Dieser erweist sich als hartnäckiger Feind, den es auch weiterhin mit Hartnäckigkeit und Genauigkeit zu bekämpfen gilt.

© Karl Katschthaler (Debrecen)

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Zur Zitierweise der Werke Hubert Fichtes: Die Abkürzungen

Pubertät Versuch über die Pubertät, Frankfurt/M. 1982 (1974) (= FiTb. 5402)
Xango Xango. Die afroamerikanischen Religionen. Bahia, Haiti, Trinidad, Frankfurt/M. 21981 (1976)
Petersilie Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen. Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada, Frankfurt/M. 1980
HuL I Homosexualität und Literatur Bd. I (Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena Bd. I), Frankfurt/M. 1987

Anmerkungen:

(1) So Lützeler in seiner Einleitung zu Paul Michael Lützeler (Hg.), Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, Frankfurt/M. 1997 (= es 2024), S. 29.

(2) Uwe Timm, Das Nahe, das Ferne. Schreiben über fremde Welten. In: Lützeler (Hg.), a. a. O., S. 34-48, Zitat S.42.

(3) Vgl. Bodo Kirchhoff, Zeichen und Wunder. In: Michael Rutschky (Hg.), Errungenschaften. Eine Kasuistik, Frankfurt/M. 1982, S. 185-194.

(4) Günter Grass, Zum Beispiel Calcutta. In: Lützeler (Hg.), a.a.O., S. 234-243, Zitat S. 243.

(5) Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/M. 1993 (=stw 1051).

(6) Vgl. dazu ebenfalls den erwähnte Sammelband von Berg und Fuchs und George E. Marcus and Michael M. J. Fischer, Anthropology as Cultural Critique: An Experimental Moment in the Human Sciences, Chicago 1986.

(7) Vgl. Stephen A. Tyler, The Unspeakable: Discourse, Dialogue, and Rhetoric in the Postmodern World, Madison 1987, S. 66.

(8) Vincent Crapanzano, Tuhami: Portrait of a Moroccan, Chicago 1980.

(9) Vgl. Klaus Neumann, Hubert Fichte und experimentelle Ethnographie, oder: Auch in Amerika sind die Möglichkeiten universitärer Anthropologie nicht unbegrenzt. In: Hartmut Böhme, Klaus Tiling (Hg.), Medium und Maske. Die Literatur Hubert Fichtes zwischen den Kulturen, Stuttgart 1995, S. 213-243.

(10) Veena Das, Der anthropologische Diskurs über Indien. Die Vernunft und ihr Anderes. In: Berg, Fuchs (Hg.), a.a.O., S. 402-425, Zitat S. 410.

(11) Vgl. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M. 1997 (= stw 1320), S. 85ff., Zitat S. 88.

(12) Vgl. Neumann, a.a.O., S. 240f.

(13) Fichte, Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen, in: ders., Petersilie, 1984, S. 359-365; es handelt sich dabei um einen Vortrag, gehalten in der Frobenius-Gesellschaft, Frankfurt a. M., am 12. 1. 1971.

(14) ebd., S. 359.

(15) In polemisch äußerst zugespitzter Form findet sich diese Kritik auch in Das Land des Lächelns. Polemische Anmerkungen zu "Traurige Tropen" von Claude Lévi-Strauss. In: HuL I, S. 319-351, ein in vielem ungerechte, geradezu blasphemischer Angriff auf Lévi-Strauss und den Struktrualismus, der in dieser Form nur von einem Außenseiter denkbar ist.

(16) ebd., S.360ff.

(17) ebd., S.362f.

(18) Vgl. Manfred Weinberg, Akut. Geschichte. Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung, Bielefeld 1993, S. 219f.

(19) An anderer Stelle habe ich das als die Konstruiertheit des Textes bezeichnet und exemplarisch an mehreren Stellen aus Xango, unter anderen an jener gezeigt, wo Fichte herablassende bis rassistische "Aussprüche meiner Landsleute" unkommentiert mit den einfachen Aussagen eines Maurers zu seiner Lebenssituation gegenschneidet. Das Schweigen des Autors zu beiden Kompilationen, greifbar im weißen Fleck zwischen den beiden Abschnitten, ist kein Verstummen, sondern ein vielsagendes Schweigen, das die beiden Abschnitte in Beziehung zueinander setzt. Die Aussagen des "besiegten" Maurers wenden sich in diesem Zwischen polemisch gegen die der "siegreichen" Landsleute. Gleichzeitig vermeidet es Fichte, selbst im Kommentar zum Sieger über beide zu werden. Vgl. Xango, 10f. und Karl Katschthaler, Reiseliteratur oder Ethnographie? Hubert Fichtes 'poetische Anthropologie'. In: Tamás Lichtmann (Hg.), Zwischen Erfahrung und Erfindung. Reiseliteratur einst und heute, Debrecen 1996 (= Arbeiten zur Deutschen Philologie XXIII), S.65-84, vor allem S. 79-81.

(20) So Lévi-Strauss in einer Radiosendung; zitiert nach Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994, S. 35.

(21) Vgl. Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978, S. 389. Im folgenden im Text als TT.

(22) Bei Rousseau ist das nicht der erste, der Naturzustand, sondern schon der dritte, also ein Kulturzustand, doch Lévi-Strauss interpretiert ihn zum ersten, natürlichen Zustand um.

(23) Vgl. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, a.a.O., S.278.

(24) Fink-Eitel, a.a.O., S. 73.

(25) Fink-Eitel, a.a.O., S. 58

(26) Hubertus Tellenbach, Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, Berlin, Heidelberg u. a. 61983.

(27) Vgl. dazu meine eigene Arbeit Reiseliteratur oder Ethnographie? Hubert Fichtes 'poetische Anthropologie'. In: Tamás Lichtmann (Hg.), Zwischen Erfahrung und Erfindung. Reiseliteratur einst und heute, Debrecen 1996 (= Arbeiten zur Deutschen Philologie XXIII) und vor allem Manfred Weinberg, "Die stupende und bisher noch wenig reflektierte Idee von Bikontinentalität und Bisexualität in der afroamerikanischen Kultur". Zu Struktur und Funktion des "Zwischen" bei Hubert Fichte. In: Böhme/Tiling (Hg.), a.a.O., S. 171ff. Die von Weinberg an anderer Stelle (Weinberg, a.a.O., S. 353) verfochtene These, die afroamerikanischen Kulturen hätten Fichte nur einen "angemessenen thematischen Vorwand" für seine Suche nach der anderen Sprache geliefert, scheint mir über das Ziel hinauszuschießen, denn sie unterschlägt die durch das Begehren getragene Faszination Fichtes durch diese Kulturen. Die exotische Verlockung hat es aber eben doch gegeben.

(28) Hellsichtig führt Fichte den Ausschluß des Homosexuellen auf die Tatsache zurück, daß er die Fortpflanzugskette durchbricht: "Mit mir geht der Familienname zugrunde. Ich werde keine Kinder haben. Wenn sie wüßten, wer ich bin, würden sie mich mit einem überlangen Schweigen aus ihren Gesprächen aussparen." (Pubertät, 86)

(29) Vgl. Reinhold Werner, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer (Auto-)Biographie. In: Hartmut Böhme/Nikolaus Tiling (Hg.), Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Studien zum Werk Hubert Fichtes, Frankfurt/M. 1991 (= FiTb. 10831), S. 169. Vgl. dazu auch das Kapitel Die Geschichte der Nanã in: Hartmut Böhme, a.a.O., S. 335ff.

(30)"Vielleicht ist dem Päderasten die Flucht ins Exotische weniger notwendig als dem Homosexuellen, der Gleichaltrige liebt. / Er weiß, daß die holde Möglichkeit hier nicht und dort nicht besteht." Fichte selbst kannte diese Verlockung - wie schon gezeigt - durchaus.

(31)Vgl. HuL I, 402: "Er glaubt an allgemein göttlich-moralische Einflüsse, wie sie Bundespräsident Carstens in der Paulskirche, Präsident Carter beim Tischgebet im Fernsehen, ohne als Narren vor der Welt zu erscheinen, äußern können, wie sie in der New York Times nachgedruckt werden, ohne einen einschränkenden Kommentar."

(32)Dieser Wahrheitsbegriff, der Fichtes Werk zugrunde gelegt werden kann, wurde bereits von Nietzsche präformiert. Zu dieser Nähe zu Nietzsche vgl. den Exkurs zur Wahrheit der Wahr-Nehmung (Nietzsche) in: Weinberg, a.a.O., S.261-267.

(33)Vgl. Mario Erdheim, Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur, Frankfurt/M. 1988, S. 16ff.

(34)Vgl. Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt/M. 1996.

(35)Zitiert nach Dunja Melcic, Der Bankrott der kritischen Intellektuellen. In: Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, Frankfurt/M. 1992, S. 44.

(36)Waldenfels, a.a.O., S.161.


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