Endre Kiss (Budapest)
[BIO]
Fragt man nach den genuin kulturellen Dimensionen des postsozialistischen Systemwechsels, bzw. des postsozialistischen Phänomens, so erscheint das Schema eines Wechsels von einer sogenannten "sozialistischen" zu einer "amerikanisierten" Kultur leicht und spontan. Die Spontaneität dieses Gegensatzes ist mehr als verständlich, denn die Vision und die Realität einer "sozialistischen" Kultur gehörte ebenso zu den großen Gesamtvisionen der Zeit wie es mit der "amerikanischen" oder "amerikanisierten" Kultur der Fall gewesen ist. Es läßt sich unter keinen Umständen leugnen, daß diese Gegenüberstellung ein deutliches Stück Wahrheitsgehalt aufweist. Es ist jedoch ebenso wahr, daß sie in vielen Punkten nur auf der Oberfläche bleibt. Die kulturelle Dimension des postsozialistischen Phänomens ist tatsächlich eine große Wende. Es ist aber nicht eine Wende von einer "reinen" sozialistischen in eine "reine" amerikanisierte Kultur, vielmehr eine Wende auf der Basis eines sehr komplex und vielschichtig aufgebauten kulturellen Feldes.
Das hier in Frage kommende kulturelle Feld läßt sich durch seine Konstitution in den sechziger Jahren zurückverfolgen. Der triumphierende Siegesmarsch der Konsumwerte, der sich zuspitzende Gegensatz der Establishments gegen intellektuelle Gebilde und Gruppen, der ab Mitte der siebziger Jahre langsam aufkommende und sich selber für "anti-ideologisch" deklarierende Neukonservativismus, aber auch die im Alltag und in der Lebenswelt Fuß fassenden lebensreformatorischen Errungenschaften der neuen Linken trugen alle das Ihrige zur Verwandlung der Kulturlandschaft bei.
All diese Prozesse modifizierten den bisherigen Inhalt und Begriff der Kultur und veränderten ihre AURA. Selbst einige relevante Entwicklungen früherer Perioden vermischten sich mit diesen Veränderungen. So läßt sich die sog. "Zwei-Kulturen-Diskussion" erwähnen, in denen der Gegensatz und die Differenz von Natur- und Humanwissenschaften artikuliert worden ist. Man vergißt heute leicht, was für Veränderungen die neuen empirischen Sozialwissenschaften gerade in den sechziger Jahren durchmachten und wie gewaltige Versprechen sie für die ganze intellektuelle Öffentlichkeit darstellten, womit auch eine Front zwischen den "alten" und den "neuen" Human- und Sozialwissenschaften eröffnet wurde.
All diese Motive und Impulse hoben die Kultur aus der AURA, aus jenem natürlichen und traditionellen Umfeld heraus, welches wie eine Ewigkeit mit der Kultur identisch schien. Die Größenordnung dieser Verschiebungen und Modifizierungen läßt sich kaum mit anderen Prozessen vergleichen. Ohne einen detaillierten Vergleich kann man freilich nicht improvisierte Feststellungen formulieren, die anvisierten Forschungen werden jedoch vielleicht einmal ausweisen, daß die Größenordnung dieser kulturellen Veränderungen selbst diejenigen der totalitären Systeme überragt.
Diese vielfachen Veränderungen waren von den Veränderungen im Rollenbewußtsein der Intellektuellen nicht nur nicht trennbar, es waren vielmehr auch die Intellektuellen, die durch ihre Experimente und soziologische Mutationen die besprochenen Veränderungen in großem Ausmaß zuwege brachten.
Denn die Veränderungen im Rollenverständnis der Intellektuellen spielten in den Veränderungen der einzelnen kulturellen Phänomene und Inhalte eine entscheidende Rolle. Diese Veränderungen sprengten etwa einen bis dahin noch einheitlich zu nennenden Begriff der Kultur. Die Intellektuellen des Jahres 1968 konnten nämlich das Dilemma des Jahres 1968 weder für sich noch für die Gesellschaft oder die Kultur auflösen. Einerseits brachten sie es nicht zuwege, sich aus der rasanten Dynamik der politischen Prozesse herauszuhalten und ihre intellektuelle Innovation und Kritik von der allseitigen politischen Herausforderung des Jahres 1968 unabhängig zu halten, indem sie ihre Monopolstellung und ihre entwachsende Macht in der Artikulation der gesellschaftlichen Kommunikation nicht aufgaben. Andererseits war von Anfang an klar, daß diese Attitüde eine unaufhebare Dualität aufwies, und die intellektuelle und die politische Innovation (wenn nicht eben "Revolution") sich nicht in einer homogenen Attitüde sich vereinen ließen. Aber unter anderen Aspekten zerbröckelte der Intellektuellenstand und die moderne Kultur. Die Konsequenzen des Jahres 1968 haben langfristig in allen Formen der intellektuellen Artikulation und in jeder relevanten Kunst und Wissenschaft Verunsicherungsphänomene mit sich gebracht. In soziologischer, aber auch politischer Sicht wurde diese Situation sogar durch ein allerdings erst langsam bewußt werdendes offenen Paradoxon charakterisiert. Gleichzeitig wurde die Intellektuellenschicht in diesen Jahren (was viele vom Westen mit Verwunderung zur Kenntnis nahmen: auch im "Osten") zu einer wirklichen neuen Klasse, zu einer ausgedehnten und die Öffentlichkeit bestimmenden sozialen Großgruppe, die in dieser äußerst komplizierten Lage ihre Identität und Interessen definieren mußte, und in der gleichen Zeit konnte und wollte sich diese in Entstehung begriffene neue Schicht der von ihr kritisch und intellektuell mobilisierten Gesellschaft nicht an die Spitze stellen und begriff nicht (und hier greifen wir Daniel Bells etwas abkürzendes, nichtsdestoweniger jedoch treffendes Begriffspaar der "kulturellen" und der "gesellschaftlichen" Modernisierung auf), daß ihre Modernisierungsversuche auf das breit verstandene Gebiet der Kultur beschränkt blieben und als Herausforderungen gelten werden, deren Beantwortungen als Schritte der gesellschaftlichen (oder technokratischen) Modernisierung nicht ausstehen werden. Während im "Westen" diese neue Intellektuellenschicht von konservativen Denkern vom Schlage Arnold Gehlens als "Mundwerkburschen" attackiert worden ist, versuchte das realsozialistische Establishment die Tatsache der Entstehung dieser Schicht zu verstecken, indem es die Intellektuellen in der traditionellen Triade von "Arbeitern, Bauern und Intellektuellen" auf ihre frühere und nicht mehr existente Identität hin kategorisierte (und sich gleichzeitig anschickte, die für sie assimilierbaren Charakterzüge der neuen Intellektuellenschicht zu assimilieren).
Wir können in dieser Arbeit die Analyse dieses ganzen breiten Hintergrundes die Auflösung des bis dahin als einheitlich geltenden Begriffs der Kultur nicht weiter ausbauen. Wesentlich ist, daß bis in die Mitte der siebziger Jahre "Kultur" eine selbstverständliche und dynamische Einheit von drei großen kulturellen Subsysteme bedeutete. Es existierte zunächst eine Kultur der Bildung, eine Protokollkultur oder eine Kultur der Tradition, die als institutionell geschützte und institutionell vermittelte Kultur mit einem engeren Begriff der Kultur identisch war. Diese Kultur umfaßte die Werte der Vergangenheit, dehnte sich aber in gewissem Rhythmus stufenweise auch auf moderne Phänomene aus, die man sukzessive in diesen "ewigen" Bereich der Bildung aufnahm. Zum umfassenden und dynamischen Begriff der Kultur gehörte, zweitens, die jeweilige avantgardistische Kultur, die in Interpretation und Vorstellung sich Schritt für Schritt in intellektuelle Subkulturen verwandelte. Und drittens existierte innerhalb des großen und umfassenden Kulturbegriffes eine deutlich wahrnehmbare Massenkultur, deren begriffliche Beschreibung keine größeren intellektuellen Schwierigkeiten bedeutete und deren kategoriale Beschreibung und Aufnahme in die möglichen Gegenstände der Kulturwissenschaften gerade eine Errungenschaft der neuen intellektuellen Klasse gewesen ist.
Die wichtigste These ist, daß diese drei Kulturen zwar in relativer Unabhängigkeit nebeneinander existierten, trotzdem aber nicht nur eine formale, sondern auch eine praktische und dynamische Einheit ausmachten. Und diese Einheit der Bildungskultur, der avantgardistischen Kultur und der Massenkultur war bis in diese Zeit hinein nicht nur eine lebendige, sondern auch eine produktive, man könnte sogar sagen, diese Einheit war DAS Produktive in der Kulturentwicklung der Moderne.
Die Bildungskultur rekrutierte sich stets sowohl aus der jeweiligen Avantgarde (deren Errungenschaften sie in ihre Inhalte fortwährend einbaute) , sie rekrutierte sich aber ebenso kontinuierlich aus den Inhalten der jeweiligen Massenkultur. Dasselbe bezieht sich aber auch auf die beiden anderen großen Kulturen. Die Massenkultur war stets erneuert und befruchtet worden durch die in ihren Kreis gelangenden Elemente der Bildungskultur (die unter anderen durch das institutionalisierte Schulwesen oder früher durch die Institution der Kirche in sie in engerem Sinne des Wortes hinein missioniert worden ist). Aber nach großen historischen Erschütterungen, nach 1945 aber schon auch ohne sie, waren auch die Massenkultur und die avantgardistische Kultur miteinander vielschichtig verbunden. Elemente der Massenkultur kamen etwa in der Form des Jazz oder der Pop-Art direkt ins Zentrum der Avantgarde, aber auch umgekehrt, neue Errungenschaften der Avantgarde kommen durch entsprechende Vermittlungen in die Massenkultur (ein neues Beispiel stellen die sogenannten "Klips" dar, die auch das Bildmaterial der Avantgarde in den Dienst der Massenkultur stellen). Es ist also keine theoretisch motivierte Verallgemeinerung, vielmehr die simple Beschreibung der Daseinsweise der Kultur bis in die Mitte der siebziger Jahre, wenn man über einen eindeutig einheitlichen Begriff der Kultur spricht, die sich aus der dynamischen und produktiv-funktionalen Einheit dieser drei Kulturen problemlos zusammentut. Mehr noch, wir haben nahegelegt: DIE Kultur, sowohl als ein Feld der ständigen Innovation und ein ihren Definition entsprechendes Subsystem der Gesellschaft war mit dieser produktiven und dynamischen Einheit identisch. Diese Einheit war im wesentlichen die Kultur.
Diese Einheit und mit ihr der bis in die Mitte der siebziger Jahre bestimmende Begriff der Kultur verschwand nach den großen Umwälzungen der sechziger Jahre. Diese Änderung vollzog sich sowohl im "Westen" wie auch im "Osten", und zwar auf eine auf der Hand liegende Weise größtenteils aufgrund ähnlicher Motivationen und Ursachen. Es existiert eine äußerst breite neue Massenkultur, die sowohl durch ihren Umfang wie auch durch ihre Aggressivität oder mit ihrer restlosen Einbettung in das wirtschaftliche Leben seit dieser Wende geradezu einen Triumphzug beschrieben hat. Das Ende der zweigeteilten Welt verstärkte nur dieses Vordringen der in ihren Formen und Elementen rasant sich ändernden und sich extrem produktiv medialisierenden neuen Massenkultur.
Es existiert ab Mitte der siebziger Jahre ferner eine kaum mehr erkenntliche Bildungskultur. Aus einem noch lebendigen und integrationsfähigen Begriff der Bildung ist mehr oder weniger eine Kultur der staatlichen und institutionalisierten Repräsentanz geworden, wobei anzunehmen ist, daß für viele in dieser neuen Kultur der Repräsentanz noch zahlreiche aufrichtige Vorstellungen gegenüber der alten Bildungskultur lebendig sind. Dieser veränderten Position trugen die kulturellen Modernisierungswellen der neuen Intellektuellenschicht in den sechziger Jahren maßgeblich bei, denn sie erblickten in der Bildungskultur vor allem eine "Ideologie", von der man sich im Interesse der Befreiung vor der Macht der "Verdinglichung" loslösen sollte. In diesem Sinne gab es inmitten dieser Prozesse eine tatsächliche "kulturelle" Revolution, die sich vor allem gegen die "Bildungskultur" gerichtet hatte.
Die wichtigsten Eigenschaften der avantgardistischen oder der intellektuellen Subkultur werden ab Mitte der siebziger Jahre ebenfalls anders. Eine ausführliche Beschreibung dieser Veränderungen ist aber in diesem Kontext nicht erforderlich. Es ist vor allem deshalb so, weil kraft so gewaltiger Veränderungen im Bereich der Bildungskultur und der Massenkultur die ganze Position der avantgardistischen Kultur entscheidend anders geworden ist. Es geht vor allem darum, daß jede Avantgarde sich gegenüber den herrschenden Inhalten der Bildungskultur definiert. Ihre Revolte ist eine Revolte gegenüber der jeweiligen konkreten Form der Bildungskultur. Verliert jedoch die Bildungskultur ihre Konturen, verliert damit auch die avantgardistische Kultur ihre Vergleichsbasis und die Möglichkeit ihrer Positionsbestimmung. Ohne diese Orientationspunkte verliert die avantgardistische Kultur in einem gewissen Sinne des Wortes ihren Sinn. Es ist durchaus charakteristisch, daß dieser Umstand lange nicht wahrgenommen worden ist. Die neue Intellektuellenklasse betrachtete die Avantgardekultur zunächst als ihre eigene Kultur, sozusagen auch in diesem neu entstehenden luftleeren Raum.
Die neue Situation besteht in der Auflösung der anfangs beschriebenen dynamischen und produktiven Einheit der drei großen Kulturen. Ihr produktives Ineinander ist im wesentlichen heute schon unvorstellbar (deshalb sprechen wir darüber in der Kategorie des "im wesentlichen", weil es vor allem in technischen Zusammenhängen ein Transfer unter den drei großen Kulturen auch noch möglich scheint).
Es scheint heute völlig unvorstellbar, daß Hollywood aus einem Material der experimentierenden Avantgarde eine Produktion startet. Es ist ebenso unvorstellbar, daß Produkte der modernen Massenkultur Elemente der früheren Bildungskultur in sich aufnehmen würden. Es ist letztlich ebenso unvorstellbar, daß die sich auf ihre Repräsentationsfunktion beschränkende und reduzierende Bildungskultur viele Übernahmen aus dem Kreis der aktuellen avantgardistischen Kultur durchführen würde (mit Ausnahme von tatsächlich existierenden dekonstruktiven politischen Establishments, die mit Vorliebe ihre postmoderne Einstellung gerade durch den Ersatz der traditionellen Bildungskultur durch avantgardistische Produktionen zur Schau stellen).
Diese neue Realität der miteinander nicht mehr in dynamischen und produktiven Wechselverhältnissen stehenden drei Kulturen führt zu ästhetisch-inhaltlichen, aber auch soziologischen, sozialen, sogar politischen Konsequenzen. Was die ästhetisch-inhaltlichen Folgen anlangt, so führen diese in unserer Beurteilung zu durchaus negativen Konsequenzen. Die einzelnen Kulturen verlieren in dieser neuen Situation nicht nur ihre Motivationen und Reserven, sondern in vielem auch ihren eigenen Sinn und ihre eigene Mission. Ohne diese ständigen Wechselwirkungen schließen sich die einzelnen Gebiete in sich ein, geben die Kommunikation nicht nur mit den anderen beiden Kulturen, sondern auch mit weiteren sozialen Sphären auf, sie unterwerfen sich nicht der Beurteilung von wirklichen sozialen Gruppen, sondern stellen ihre eigenen Normen und Werte auf. Dies führt zu neuen und geschlossenen Machtverhältnissen, die für "insider" sehr positiv und für "outsider" sehr negativ ausfallen. Noch viel wichtiger scheint, daß durch die Aufgabe der dynamischen Wechselwirkungen die Orientationen der nunmehr in sich geschlossenen Kulturen für andere einfach uninteressant werden, die einzelnen kulturellen Gebiete entwickeln sich in der Richtung einzelner Branchen, in denen man ohne Vorkenntnisse und expertenhaftes Wissen man nicht mehr auskommen kann. Die Innovationen in dem einen Bereich können nicht in andere Bereiche hinübergehen. Spontaneität, geschweige denn "Revolutioinen" sind so gut wie ganz ausgeschlossen. Die Tendenz der Selbstreferentialität wächst (wie es des öfteren auch tatsächlich der Fall gewesen ist), was ihrerseits den Charakter der Belanglosigkeit für andere deutlich weiter erhöht.
Nicht weniger problematisch, wenn eben nicht negativ sind aber die soziologische, die sozialen und die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung. In dieser Singularität werden alle drei Kulturen sozial schwächer. Sie werden einzeln den herrschenden ökonomischen und politischen Umständen unterworfen. Durch die wachsende Belanglosigkeit büßen sie an sozialer Legitimation ein und können ihre Grundwerte nicht erfolgreich verteidigen.
Jede Kultur baut ihre eigene, partikuläre Logik unter immer schwieriger werdenden Umständen aus. Die die Repräsentation in den Mittelpunkt stellende ehemalige Bildungskultur wird auf diesem Wege immer politischer. Die Massenkultur geht auch auf der Linie ihrer inneren Logik weiter ("immer brutaler, immer nackter"). Die allein gelassene avantgardistische Kultur wird immer ihrerseits weltabgewandter und immer partikulärer und muß sich jeden Tag ihrer eigenen wachsenden Belanglosigkeit ins Auge schauen, die ja das gerade Gegenteil der ursprünglichen Zielsetzungen einer innovativen und avantgardistischen kulturellen Aktivität sein sollte. Zu diesem Komplex gehört es noch, daß die Reflexion diese Auflösung des einheitlichen und funktionsfähigen Kulturbegriffes als Sieg des Pluralismus feiert.
Und an dieser Stelle kommen wir wieder zum Anfang, zum postsozialistischen Phänomen zurück. Um die kulturellen Konditionen der postsozialistischen Phänomens zu verstehen, braucht man also nicht zum Klischee des Überganges aus der "sozialistischen" in die "amerikanisierte" Kultur zu greifen. Das postsozialistische Phänomen kann am optimalsten durch eine hier nur angedeutete Analyse der drei unabhängig gewordenen "Kulturen" erschließen.
Was die Bildungskultur anlangt, so muß man auf die merkwürdige Realität hinweisen, in der die Bildungskultur im realen Sozialismus gelebt hatte. Einerseits war sie aus ideologischen Gründen verfemt und mit Verdacht gesehen. Andererseits erwies sich das System des realen Sozialismus manchmal sehr unerwartet gegenüber der Bildungskultur als sehr großzügig. Nach der auch im Realsozialismus erfolgten Auflösung des einst einheitlichen Kulturbegriffs wurden die Positionen der traditionellen Bildungskultur durchaus geschwächt, abgetrennt von der avantgardistischen und der neuen Massenkultur, büßte sie an Relevanz in großem Ausmaß ein. Ab Mitte der siebziger Jahre verselbständigte sich auch die Massenkultur aus dem einst einheitlichen Kulturbegriff, was dann zu dem sehr spezifischen Ergebnis führte, daß diese verselbständigte "östliche" Massenkultur gerade im Zuge ihres Sieges ihren Platz der "westlichen" Massenkultur schon in den konsolidierten Jahren des Realsozialismus zumindest in Ungarn übergeben mußte. Die sich aus dem einst einheitlichen Kulturbegriff auslösende avantgardistische Kultur erlebte auch im Realsozialismus ein einmaliges Schicksal. In der ersten Phase der Verselbständigung wurde sie vom Realsozialismus hart verfolgt, bis einige Jahre später die politische Macht die avantgardistische Kultur im Zuge der repressiven Toleranz ins System integrierte und integrieren konnte.
Auf diese Weise kann man schon die kulturelle Ausgangssituation des postsozialistischen Phänomens mit genügender Exaktheit beschreiben. In der postsozialistischen Hemisphäre vollzog sich auch die Auflösung des einst einheitlichen dynamischen und produktiven Kulturbegriffs, allerdings im Kontext und bei aktiver Mitwirkung der realsozialistischen Politik. Das führte auch in der postsozialistischen Welt dazu, daß man auch keine klaren Begriffe mehr von der Kultur hatte; die soziale Diskussion über Kunst trug die gleiche Desorientation wie es im "Westen" der Fall gewesen ist. In diesem Zusammenhang verfügte die postsozialistische Welt über eine abgeschwächte, eklektische und in der Demokratie kaum mehr brauchbare Vorstellung über die Bildungskultur, die auch hier in eine Kultur der Repräsentation mit veränderten Rahmenbedingungen verwandelt worden ist. Nicht viel besser steht es mit der Massenkultur, in deren Zusammenhang die postsozialistische Welt schon zur Zeit des Realsozialismus zu einem Markt der "westlichen" Massenkultur geworden ist, ohne die Chance, eine "eigene" ihren Lebensbedingungen entwachsende Massenkultur auf die Beine zu stellen. Im Bereich der avantgardistischen Subkulturen ist die Lage der westlichen Situation sehr ähnlich, es läßt sich nur fragen, ob solche Subkulturen zu einem demokratischen Aufbau die entsprechende Unterstützung liefern könnten oder nicht.
©Endre Kiss (Budapest)
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last change 25.11.1999