Andrea Rosenauer (Wien)
[BIO]
"Poetry", befindet Loss Pequeño Glazier (1) im "Special Hypertext Issue" der (elektronischen) Zeitschrift Postmodern Culture "has entered the electronic landscape". Er beschreibt nicht nur das Schreiben am Computer und für elektronische Übertragung im Vergleich mit gedruckter Dichtung, er setzt sich auch mit Annäherungsverfahren zu theoretischen Bestimmungen, die das Schreiben am Bildschirm, die Verbreitung und Rezeption des Geschriebenen berücksichtigen, auseinander. Seine Schlußbemerkung gilt mithin auch der "elektronischen Poetik" und der "elektronischen Dichtung":
An electronic poetics is a poetics. Like any other poetics which recognizes system -- be it breath, a controversy of texts, or a nexus of interests -- system is a determining factor. A poetics also involves a particular engagement, or set of engagements, with its issuing "authority" and its technology. The public life of a poetics has, perhaps, been nowhere more visible, with its incessant transmission, than in the electronic poetries. An electronic poetry is a public word, projected across a public world, across systems, itself as system.(2)
Glazier faßt Dichtung als System auf, und betont das System - und zwar unabhängig vom Medium als determinierenden Faktor.
Hypertext und Literaturtheorie
Die Beziehungen zwischen literaturtheoretischen Beschäftigungen mit Text und anderen Hypertexttheorien werden von George P. Landow dargestellt. Er zeigt auf, daß beispielsweise Roland Barthes und Michel Foucault Texte als Netzwerke und Verbindungsstrukturen aus Textteilen beschreiben, daß ihre Beschreibungen erstaunliche Parallelen zu den Theorien von Theodor Nelson besitzen, der in den 60er Jahren zum ersten Mal den Begriff "Hypertext" verwendete.(3)
Hypertext als signifikantestes Charakteristikum des Internet-Dienstes World Wide Web erlaubt neben der Integration von Grafiken, Bildern, Audio- und Videosequenzen die Verknüpfung von Texten oder Textteilen und aller genannten Elemente miteinander mittels Hyperlinks. Diese Verknüpfungen vernetzen Texte - unabhängig davon, auf welchem Server sie sich befinden - miteinander und ermöglichen so die Bildung eines weltweiten Netzwerks aus Publikationen. Um mit Landow zu sprechen:
Electronic links connect lexias "external" to a work -- say, commentary on it by another author or parallel or contrasting texts -- as well as within it and thereby create text that is experienced as nonlinear, or, more properly, as multilinear or multisequential. Although conventional reading habits apply within each lexia, once one leaves the shadowy bounds of any text unit, new rules and new experience apply. (4)
Vannevar Bush, dessen Ideen zu "Memex", einer Art Maschine, die Denkstrukturen abbildet, erstmals 1945 in "As we may think"(5) festgehalten worden waren, wollte ebenfalls die Methode linearer Rezeption durchbrechen. Wieder mit Landow kann nun "Memex" auch als "Poetic Machine" gesehen werden, ausgehend von der Annahme, daß Wissenschaft und Dichtung prinzipiell in der gleichen Weise funktionieren.(6)
Gedruckte und elektronische Hypertexte
Auch der literarische Hypertext selbst ist für LiteraturwissenschafterInnen nichts Neues. Wurden und werden doch Texte wie Döblins "Berlin Alexanderplatz" oder Joyces "Ulysses" immer wieder als solche interpretiert, existieren Texte wie Cortázars "Rayuela" und Queneaus "Cent Mille Milliards de poèmes", die die LeserInnen auffordern, die lineare Lesestruktur zu durchbrechen.
Auf ein weiteres Bespiel soll etwas näher eingegangen werden: Andreas Okopenkos "Lexikonroman", der in gedruckter(7) und elektronischer Version(8) vorliegt, ermöglicht Vergleiche zwischen beiden Realisierungsformen, die erstmals und noch vor Veröffentlichung des ELEX (des ELektroinschen LEXikonromans) im Rahmen einer Diplomarbeit von Sigrid Fromm angestellt wurden.(9) Sieht diese bereits die gedruckte Version als eine "Vorwegnahme elektronischer Medien"(10) an, stellt sie doch fest, daß Buch und Computer "einen unterschiedlichen Zugang zum Lexikon-Roman"(11) schaffen. Neben der Unterschiedlichkeit des Lesens gedruckter und elektronischer Texte, stellt sie auch Unterschiede in Inhalt und Form fest: Wenngleich die CD-ROM den gleichen Text enthält wie die Druckausgabe, ist neben der Handhabung auch die Navigation zwischen den Textteilen unterschiedlich. Dazu Fromm:
Beim Lexikon-Roman muß man mehr blättern als gewöhnlich. Im Elexikon hingegen blättert man nur virtuell, man klickt. Dabei wird, wenn man vom "Blättern" in einem Hypertext spricht, die Bewegung im Medium Buch auf den Computer übertragen. Blättern am Computer ist keine Beschreibung der Fortbewegung mehr, sondern eine Metapher [...] denn in einem Hypertext "blättert" man nicht, sondern springt zu einer Stelle, von einem Informationsteil [...] zu einem anderen. Die Verbindung ist direkt, dazwischen ist nichts, was zu "überblättern" wäre. Ein Klick auf "Grottenolm" führt im Hypertext nur nach Grottenolm und nicht wie im Buch zufällig zu den alphabetisch vorgereihten "Geschäftsbeziehungen" [...] (12)
Ferner ist im ELEX eine Funktionserweiterung gegeben, da die Benutzenden nicht nur LeserInnen, sondern auch Betrachtende, Hörende, (und in verstärktem Ausmaß) Notierende, Mit-Schreibende sind.(13)
Diese Beobachtungen Fromms sind ebenso auf im World Wide Web angebotene Hypertexte anwendbar. Interessanterweise fand jedoch bisher - zumindest laut den Nachschlagewerken "Germanistik" und "MLA-Bibliography" - im deutschsprachigen philologischen Bereich kaum eine Auseinandersetzung mit Texten im diesem neuen Medium statt. Wenn sich LiteraturwissenschafterInnen zu Wort melden, geschieht dies offensichtlich zur Zeit nicht im Rahmen von Publikationen, die als literaturwissenschaftliche Publikationen (aus)gewertet werden.(14)
Hypertext-Literatur im World Wide Web
Welch faszinierende Welten die wissenschaftliche Beschäftigung mit und die Interpretationen von Hypertexten aus dem WWW eröffnen können, zeigt unter anderem die Lyrikmaschine Martin Auers.(15) Der Autor hat darin 50 Gedichte zu einem lyrischen Netzwerk verknüpft, das je nach Startpunkt und Lesereihenfolge eine Reihe verschiedener Assoziationen auslöst und verschiedenartige Interpretationen anregt. Da ich auf dieses Werk an anderer Stelle(16) bereits ausführlicher eingegangen bin, sollen hier drei anderen Beispiele für Literatur im World Wide Web gegeben werden:
Jana A. Czipin und Alfons Neubauer: Kuku-Elegie(17)
Die "Kuku-Elegie" von Jana A.Czipin(18) wurde in ihrem Beitrag zum "Pegasus 1998", einen von der "Zeit" gemeinsam mit "IBM" veranstalteten Internet-Literaturwettbewerb, aufgenommen. Der Beitrag, der den Titel "Dicht.kunst - Dichte Kunst - DichterInnen-Kunst" trägt und von der Autorin in Zusammenarbeit mit Alfons Neubauer gestaltet wurde, besteht aus einem Kleinkosmos an Werkteilen: Einer Aphorismus-Datenbank, einigen Texten wie der "Anleitung für SelbstmörderInnen", Gedichten, deren lyrisches Ich weiblich ist, wie jenes von "Die große Reise" oder von "Märchen" und einem Gedicht, das zum Mit- und Weiterschreiben einlädt. Das Werk ist ein multimedialer Raum aus Bildern, Ton und Texten. Festgehalten wird dies auch im "Statement", das nicht nur dem Werk einen theoretischen Unterbau verleiht, sondern Links von einzelnen Buchstaben aufweist, denen Eigenschaften attribuiert wurden.
In diesem Rahmen nun findet sich die Kuku-Elegie, auf die ich hier als eines der Beispiele für Möglichkeiten, Texte in einem elektronischen Medium darzustellen, näher eingehen möchte.
Die Startseite des Gedichtes erscheint nach dem Anklicken von "DichtE Kunst" (die Begriffe tauchen auf, wenn der Mauszeiger über die drei Dichterinnen fährt) auf dem Bildschirm. Sie besteht aus einem Bild, in das der Schriftzug kuku-ELEGIE eingearbeitet ist. Fährt der Mauszeiger über das Wort kuku, erscheint die Aufforderung "klick mich", die Aufforderung zum "Einstieg" in die "Elegie", der kein metrisches Schema zugrundegelegt ist. Der Text beginnt mit einem Bild. Als Navigationshilfen werden Hände angeboten, deren Zeigefinger nach links und rechts zeigen und damit die Vor- und Rückbewegung ermöglichen. Ferner gibt es die Möglichkeit, auf die Hauptseite des gesamten Werks (Home) zurückzukehren, die Aphorismendatenbank zu besuchen, oder - via E-Mail - die GestalterInnen zu kontaktieren. Die übliche Navigationsleiste des Browsers ist von der Startseite an verschwunden. Bewegt sich der Mauszeiger von der durch die AutorInnen angebotenen "Navigationsleiste" zum Scrollbalken, um durch "Rollen" des Bildschirmausschnitts den restlichen Text sichtbar zu machen, ist es (fast) unumgänglich, daß er das Bild, das den gekippten König eines Schachspiels zeigt, berührt. Dieses wird dadurch "weggehoben", sodaß nun ein weiterer Textteil erscheint:
In Rauchschwaden
vom Barhocker
den König gekippt.
Er stand sowieso schon
schachmatt.
Dieses Bild aus Worten unter dem Bild gibt bereits die Grundstimmung und den Ort des Gedichtes wieder. Rauchschwaden, Barhocker: Wir befinden uns in einem Lokal. Die Stimmung ist alles andere als überschäumend, das zeigt nicht nur die gekippte Schachfigur (auf dem Bild und auf dem Bild unter dem Bild), sondern auch das resignierende, fatalistische: "er stand sowieso schon / schachmatt". Der weitere Text dieser Bildschirmseite zeichnet weiter an dieser Grundstimmung, beschreibt das Lokal als "nur für die Nacht" geschaffenen Ort, als Kellerlokal. Die folgende Seite beschreibt es als Platz, an dem sich vor allem Stammgäste treffen. Auf der 6. Bildschirmseite wird auch die Mischung dieser Gäste beschrieben:
Ein bunt gemischter Haufen,
die Klosprüche zeigen,
daß sie sich wenigstens in der grundlegenden
politischen Richtung einig sind.
Da diese "grundlegende politische Richtung" in der Folge noch näher
beschrieben wird, ergibt sich auch eine weitere Interpretationsmöglichkeit für den
gekippten König als Symbol einer Macht, die in dieser Nacht außer Kraft gesetzt wird,
die in diesem Lokal ohnehin schon "schachmatt" gesetzt worden war.
Die Reise der ProtagonistInnen durch die Nacht wird beschrieben; auf der 15.
Bildschirmseite ist es bereits 4 Uhr früh. Die BetrachterInnen der
"Kuku-Elegie" starren in ein gefülltes Glas, unter dem sie lesen können:
Schwarzer Whisky,
eingeklemmt
zwischen Eiswürfeln,
denkt auch nicht daran,
mich zum Lachen zu bringen.
Es ist der Ort und die Zeit, da Träume zu Scherben werden, die Nacht neigt sich dem Ende zu. Und so endet auch das Gedicht auf der 16. Bildschirmseite mit dem "Zahlen der Zeche", dem Verlassen des Lokals in einen anbrechenden Morgen hinein. Es endet mit einem Bild, das ein fratzenhaftes Gesicht zeigt, einem Bild, unter dem die Schachmetapher als Rahmen des Gedichts wieder aufgenommen wird:
In Rauchschwaden
die Dame
unterm Barhocker
gefunden.
Sie siegt
oder stirbt einen ehrenvollen Tod.
Die Ambivalenz dieser "Strophe" läßt allerdings verschiedenartige Interpretationen zu. Da mein Beitrag nur Beispiele für Präsenz von Literatur im WWW geben will, wird in diesem Rahmen keine vollständige Interpretation angestrebt. Hingewiesen werden soll allerdings auf die folgenden medienspezifischen Elemente:
Judy Malloy ist mit einer Reihe von Werken on-line zu finden.(20) Gemeinsam mit Sonya Rapoport hat sie "Objective Connections" für "Generations: The Lineage of Influence in Bay Area Art. A celebration of the Richmond Art Center's 60th Anniversary"(21) gestaltet. Das Werk beginnt mit Rapoports Darstellung von "Objects on my dresser" und der "Anweisung":
Readers (called players in this environment) enter the story when they enter the room. The story unfolds as they discover and examine the output and input devices that are contained in objects in Brown House Kitchen.
Wenngleich die Anweisung suggeriert, daß die BetrachterInnen eine interaktive Welt betreten, die eine Art von Spiel mit den Texten ermöglicht, finden auch bei diesem Netzwerk aus Texten und grafischen Objekten die Spiele in erster Linie im Kopf statt. Ebenso wie in der Kuku-Elegie ist ein "freies Herumschweifen" zwar innerhalb der Textteile möglich, zwischen diesen aber nur in der Art, wie die AutorInnen dies gestatten.
Mit dem Klick auf das Wort "house" erhält die/der BetrachterIn den Grundriß eines Hauses. Auf diesen klickend, kann es "betreten" werden. Der folgende Text erscheint auf den Bildschirm:
blue shirt..........Mining my memories
soft fur.......like a miner crouched by Cripple Creek
warm milk..........or a 15 year old boy
the sound of water....seeking images of underdressed women
rain..............in cyberspace
cold water............ while Mom and Dad lie sleeping
blood stains.........and the other computers in the house
brown grass on the hills... silently charge their batteries.
a flowered dress......... a glass of beer...........
sleep................. background noise......... low flying
planes.......... intermittent pain............ the smell of green
grass.... warm sun................. a red front door........ cold
cereal................ a white shirt............... the children
laughing........ potato soup..............
footprints.................. the pine trees overhead......
while Mom and Dad lie sleeping
Auf die "Unterschrift" des Textes, in dem neben einer Abfolge von
Gedankenbildern ein Gedicht (die fettgedruckten Teile des Textes) eingewoben ist,
klickend, erhalte ich wieder jenes Bild, durch das ich "eingestiegen" bin,
diesmal allerdings ohne die Möglichkeit, es anzuklicken. Darunter befindet sich ein Teil
des eben gelesenen Textes und ein Verweis nach "underdressed" - als dem Text
entnommenes Wort oder Verweis auf Kommendes: ein Klick darauf wird es zeigen. Durch 10
Objekte und Texte geht so die Reise, die Konstruktion bleibt gleich: ein anklickbares Bild
führt zu einem Text, dessen Unterschrift auf eine Text-Bild-Kombination verweist. Die
dort zu findende Unterschrift führt zum nächsten Bild. Das Werk bietet ein Spektrum der
Auseinandersetzung mit Computern, Geschlechterbeziehungen, Forschung und Universität und
Objekten, die anhand von Bild- und Textobjekten zu "Objective Connections"
vernetzt werden. Ausstiege aus dem Werk sind zu den jeweiligen Einzelbeiträgen von Malloy
und Rapoport möglich, aus denen Objekte für die "Objective Connections"
entnommen worden waren. Das "Ende" (der Text "Small Things" und ein
Detail des Objekts "Biorythm") ist mit dem Anfang ("objects")
verknüpft und verwandelt den Text so in eine Endlosschleife, aus der nur zu den bereits
genannten Plätzen gesprungen werden kann.
Die Betrachtenden haben allerdings - wie bei jeder Lektüre im WWW - jederzeit auch die
Möglichkeit, das "Browsing", das Stöbern im Text, mit Hilfe ihres Browsers
durch Schließen dieses Programms zu beenden, oder durch die manuelle Eingabe einer
anderen WWW-Adresse zu einer anderen Web-Seite zu wechseln.
Würde ich für diese Eingabe die WWW-Adresse (URL) http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html verwenden, erschiene am Bildschirm ein Projekt von Heiko Idensen: "Die Imaginäre Bibliothek".(22) Sie enthält literarische Experimente, elektronische Essays, Dokumentationen von PooL-Processing und kommentierte Navigationshilfen zu Literatur-, Kunst- und Theorieprojekten im WWW.(23) Zu diesem (Netz-)Werk sind nicht nur verschiedenste Zugänge möglich (da das Projekt einen hohen Bekanntheitsgrad aufweist, zeigen verschiedene Links von "außen" auf verschiedene Seiten), es bietet auch durch seine Links nach außen und seine starke interne Vernetzung einen ganzen Kosmos von Aus-, Zu- und Übergängen. Auch im Falle der "Imaginären Bibliothek" wird ein Text-Bild-Archiv inszeniert, allerdings in diesem Fall als "Fortsetzung des reinen 'Informations-Processing' mit anderen Mitteln":
hypertextuelle Navigationsprozesse werden mit poetischen Bruchstücken der Buchkultur aufgeladen. Der Lesende als Reisender/Navigator/User wird zum neuen Helden, der gegen die stupide Vorherrschaft designter Bild-Schirm-Medien einen aussichtslosen einsamen Kampf führt. [...] Es wäre wirklich wunderbar, könnte man im Weben einer Hypertextstruktur der Entstehung der Gedanken beiwohnen - und das auch noch als gemeinschaftliches - kooperatives - Bild-Schirm-Denken. (24)
Die Konsequenzen interaktiver Literatur für die Literaturwissenschaft
Gerade das letzte Bespiel stellt allerdings besondere Anforderungen an InterpretInnen und Interpretation durch den hier vollzogenen Bruch mit der Linearität, werden doch nicht nur eine Reihe unterschiedlicher Lesarten ermöglicht. Zusätzlich wird auch - ein bei Literatur im WWW häufig eingesetztes "Mittel" - der kreative Umgang der LeserInnen/NavigatorInnen mit dem Text gefordert. Ein Umgang, dessen mögliche Varianten bei einer (literatur-)wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Text mitzuberücksichtigen wären.
Ist es diese Herausforderung, der sich die Literaturwissenschaften nicht stellen wollen? Gerade das Forschungsfeld des elektronischen literarischen Hypertexts, zu dem noch weniger Sekundär- als Primärliteratur existiert, bietet nicht nur ein breites Betätigungsfeld für InterpretInnen, sondern bedeutet auch eine Beschäftigung mit jener Art von Literatur, die von Menschen rezipiert wird, für die der Griff zum Buch häufig keine Gewohnheit bedeutet, die sich mit größerer Sicherheit zwischen Programmen und Web-Seiten bewegen als zwischen den Regalen einer Bibliothek. LeserInnen, die Literatur nicht zwischen Buchdeckeln finden und rezipieren, sondern innerhalb eines "Netzes aus Verweisen".(25)
Sind es die "praktischen" Probleme, die vor einer Beschäftigung mit Texten aus dem WWW abhalten? Das Fehlen anerkannter Zitierregeln, das ungeklärte Problem der Archivierung, die daraus folgende mögliche "Flüchtigkeit" und Veränderbarkeit der Texte und und damit eine potentielle Gefährdung der Nachvollziehbarkeit wissenschaftlicher Arbeit?
Oder erscheint die Evaluierung des Kontexts, der Zugangsmöglichkeiten, die eine wichtige Rezeptionsvorprägung darstellen können, als eine nicht leistbare Größe?
Thomas Wagenbäur formuliert:
Die Konsequenzen des Hypertexts für die Literaturwissenschaft liegen auf der Hand. Den Literaturtheoretikern, die die Aufgabe zentraler Kategorien wie Ereignislogik und Zeit-/Raumkontinuität favorisierten, wird durch die Praxis des Hypertexts Recht gegeben, die stattdessen den Text durch Knoten und Netzwerke zu konstituieren hilft.(26)
Verhilft also der Hypertext "radikalen Rezeptionsästheten" zur Durchsetzung ihrer Theorien? Haben nicht doch vielleicht auch Hypertextnetzwerke oder Teile davon eine "intentio operis"?(27) Wenn sie sie nicht haben, und daraus eine Beliebigkeit der Interpretation folgt, welche Probleme können durch die "Unverbindlichkeit" von Texten und die Beliebigkeit ihrer "Verwendung" (bei Zitierungen etc.) für Lesende und Schreibende, für unsere Gesellschaft entstehen?
Ob die "Öffnung der Literaturwissenschaft auf 'Medien' hin" und die "damit verbundene Methoden- und Medienreflexion" auf breiterer Basis stattfindet und - wie Markus Heilmann und Thomas Wagenbäur es sehen - "die in der Literaturwissenschaft ja immer schon angelegte Tendenz zu einer Kulturwissenschaft" (28) verstärkt, kann auf der im nächsten Jahr stattfindenden Konferenz des INST zum Thema "International Cultural Studies" vielleicht ausführlicher diskutiert werden.
Der Aufforderung von Heilmann und Wagenbäur, daß bei einer "Annäherung inner-und außerakademischer Diskurse"
eine kulturwissenschaftliche Philologie oder philologische Kulturwissenschaft ihrerseits gefordert [sei], ihre wissenschaftliche Kompetenz über den traditionellen Horizont einer Text-Hermeneutik hinaus zu legitimieren (29)
kann ich mich zum Abschluß dieses Vortrages nur anschließen.
© Andrea Rosenauer (Wien)
Anmerkungen:
(1) (1) Loss Pequeno Glazier: Jumping to Occlusions. In: Postmodern Culture. Special hypertext issue 5/97. WWW: http://jefferson.village.virginia.edu/pmc/issue.597/glazier/index.html. Zugriff am 1998-09-20.
(2) Ebd.
(3) George P. Landow: The Definition of Hypertext and Its History as a Concept. (Seiten 3-4 der Printversion von: Hypertext. The convergence of contemporary critical theory & technology). WWW: http://www.stg.brown.edu/projects/hypertext/landow/ht/history.html und Folgeseiten. Zugriff am 1998-09-20.
(4) Ebd. Landow benutzt hier den von Roland Barthes verwendeten Begriff "lexia" für "blocks of text", Textteile, innerhalb derer konventionelle Lesegewohnheiten gültig sind.
(5) Vannevar Bush: As we may think. HTML-Version von Denys Duchier. WWW: http://www.ps.uni-sb.de/~duchier/pub/vbush/vbush.shtml ff. Zugriff am 1998-09-20. (Das Original erschien in der Juliausgabe des Jahres 1945 von "The Atlantic Monthly".)
(6) Landow: Bush´s Memex as Poetic Machine (Seiten 17-18 der Printversion von Hypertext. a.a.O.). WWW: http://www.stg.brown.edu/projects/hypertext/landow/ht/bush.html. Zugriff am 1998-09-20.
(7) Andreas Okopenko: Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen nach Druden. Roman. Wien: Deuticke, 1996 (= eine Bibliothek der österreichischen zeitgenössischen Literatur).
(8) Andreas Okopenko/Libraries of the Mind: ELEX .- auf CD-ROM für Apple Macintosh Computer.- Wien: Mediendesign, 1998. Informationen zur elektronischen Ausgabe sowie Verweise auf weitere Literatur sind der ELEX-Homepage (http://www.essl.at/bibliogr/elex.html) zu entnehmen.
(9) Sigrid Fromm: Lexikon und Elexikon. Ein Vergleich des Lexikon-Romans von Andreas Okopenko mit seiner Umsetzung als Hypertext. Wien: Diplomarbeit, 1996.
(10) Ebd., S. 65ff.
(11) Ebd., S. 80ff.
(12) Ebd., S. 83f.
(13) Ebd., S. 85.
(14) In der MLA-Datenbank werden als Ergebnis einer Suche nach Hypertext und verwandten Begriffen bei einer Gesamttreffermenge von 159 Zitaten genannt :
Nicht gefunden wurden in dieser Datenbank unter anderem folgende Werke, die Beiträge zu Hypertext-Literatur enthalten:
Aus dem MLA-Suchergebnis ist, englischsprachige Werke betreffend, neben den Werken Landows und Beiträgen in "Postmodern Culture" insbesondere erwähnenswert:
(15) Martin Auer: Lyrikmaschine. WWW: http://ourworld.compuserve.com/homepages/Poetry_Machine/_start.htm. Zugriff am 1998-09-09.
(16) Andrea Rosenauer: Österreichische Literatur im World Wide Web. Beitrag zur Konferenz: Modern Austrian Literature in Transition. New Authors - New Themes - New Trends, University of California at Riverside, 16.-18. April 1998. Vorgesehen zur Publikation in: Modern Austrian Literature. Vgl. auch: Andrea Rosenauer: Literatur per Mausklick. Lesereisen in elektronischen Netzwerken. In: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7.Jg./1998, H.1. S. 3-6, hier: S. 5f.
(17) Jana A.Czipin und Alfons Neubauer: Dicht.Kunst. WWW: http://w3.smc.univie.ac.at/janaczipin/dichtkunst/Default.html. Zugriff am 1998-09-21.
(18) Jana A. Czipin: Homepage Jana A. Czipin. WWW: http://mailbox.univie.ac.at/Angelika.Czipin/. Zugriff am 1998-09-09.
(19) Im Ggs. dazu: Jana A. Czipin. E-Mail vom 1998-09-22:
Die strenge Führung ist relativ. Man/frau kann jeder Zeit aussteigen
(mit home oder close) oder aus den drei Hauptbereichen (dicht.kunst,
dichte.kunst und DicherInnenkunst) zu den Aphorismen oder
den Selbstmordtexten gehen. In den einzelnen Bereichen ist die Führung
streng.
Die sinnliche Qualität wird auch durch die Hörbarkeit der Gedicht erhöht.
Im Statement wird ja darauf extra Bezug genommen und darum sind auch dort
die Buchstaben mit sinnlicher Wahrnehmung "verziert" Mir ist die Hörbarkeit
sehr wichtig [...]
(20) Judy Malloy: [Collected InternetWorks]. WWW: http://www.well.com/user/jmalloy/awquilt.html. Zugriff am 1998-09-21.
(21) Judy Malloy und Sonya Rapoport: Objective Connections. WWW: http://www.artswire.org/~jmalloy/richmond/srapoport.html. Zugriff am 1998-09-21.
(22) [Heiko Idensen / PooL Processing]: Die imaginäre Bibliothek. WWW: http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html. Zugriff am 1998-09-21.
(23) Heiko Idensen: Die Poesie soll von allen gemacht werden! Von literarischen Hypertexten zu virtuellen Schreibräumen der Netzwerkkultur. In: Matejowski/Kittler (Hgg.): Literatur im Informationszeitalter. a.a.O. S. [143]-184. Hier: S.167.
(24) Ebd., S. 156f.
(25) Vgl. Uwe Wirth: Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert´s, wer liest? In: Münker/Roesler: Mythos Internet. a.a.O. S.319-[337]. Hier: S.319. Zum Zugangsverhalten vgl. Agata Skowron-Nalborczyk: Polnische Literatur im Internet. In: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 7.Jg/1998, H.1. S.7-8. Hier: S.8.
(26) Thomas Wagenbäur: "Schreiben wie Film". Joyce, Döblin und die Anfänge interaktiver Literatur im Hypertext. In: Heilmann/Wagenbäur: Macht Text Geschichte. a.a.O. S. [128]-142. Hier S. 137.
(27) Umberto Eco: Überzogene Textinterpetation. In: ders. Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. - Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini. - München:dtv, 1996. S.52-74. Hier: S. 71ff.
(28) Markus Heilmann und Thomas Wagenbäur: Literaturwissenschaft als (Des-)Orientierungswissenschaft. Ein optimistischer Prospekt. In: dies. (Hgg.): Macht Text Geschichte. a.a.O. S.[7]-16. Hier: S. 10.
(29) Ebd.
Webmeister: Angelika Czipin
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