Eugen-Maria Schulak
(Wien)
[BIO]
Die heilsame Kraft des Philosophierens, die Lust an konzentrierter Rede und Gegenrede, stand schon in der Antike hoch im Kurs. Bereits damals suchten die Erfolgreichen, Vornehmen und Gebildeten nach geistiger Erfrischung, so auch in den sprudelnden Quellen der Dialektik. Und indem sie in die kühle Flut des Allgemeinen tauchten, blieb die Hitze der tagtäglichen Geschäfte weit zurück. Während die Einfaltspinsel sich den Inhalt ihrer Becher stumpf und kunstlos in die Gurgel leerten, saß man spöttisch und mondän mit Gleichgesinnten beim Gelage und betrank sich mit Methode.
"Wer jung ist", schreibt Epikur, "soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern". Wahrhaft zu philosophieren bedeutete das Führen eines offenen Gesprächs. Jedes andere Denken, vor allem jenes, das darauf aus war, die Gedanken zu fixieren, war bestenfalls Wissenschaft, also Arbeit, und somit zweitrangig.
Später dann verflog die Leichtigkeit des Seins. Das mediterrane Element trat in den Hintergrund. Die Philosophen wurden Streber, wollten von den Nöten einer darbenden, verstimmten Seele nichts mehr wissen, verstrickten sich in himmelhohe Abstraktionen und verloren so das rechte Maß. Die Zeit der Muße war vorbei. Die Tugend der Gelassenheit wich den Zwängen semitischer Religiosität. Die Bedürfnisse jener, die sich nach geistiger Erfrischung sehnten, blieben ungestillt. Das Geschäft der Seelsorge übergab man kampflos der priesterlichen Konkurrenz. Die Erfolgreichen, Vornehmen und Gebildeten saßen philosophisch auf dem Trockenen.
Ab dem Zeitalter des Humanismus und der Aufklärung waren die Philosophen zwar an praktischen Fragen wiederum interessiert, doch gleichzeitig und exakt im Gegenzug zum Verlust ihrer Religiosität - wurden sie Künstler, d.h. Egozentriker. Verbissen strebten sie für sich alleine, nach absoluter Sicherheit, nach logischer Strenge, wollten "das Ganze" in den Griff bekommen, Welt und Mensch von Grund auf reformieren, hatten hochgesteckte, eitle Ziele.
Von einer wohltuenden, ja heilsamen Wirkung des Philosophierens war selten nur die Rede. Die Denker dachten um die Wette, und jene Laien, die ihre Lust am Allgemeinen stillen wollten - und zwar in Bezug auf wirklich Wesentliches, auf ihr eigenes Leben - , konnten kaum noch profitieren, da eine allzu kunstvoll gewordene Sprache den Zugriff auf die Inhalte erschwerte. In dem Maße, in dem die Philosophen ihre Nasen erhoben, fielen die Kinnladen ihres Publikums ins Bodenlose.
Heute, im Zeitalter billiger Medien, kollektiver Einsamkeit und massenhafter Onanie, in einer Welt des unverblümten Materialismus und der vollendeten Gottlosigkeit, sind selbst die Begabtesten zum Leben an der Oberfläche verdammt. Da hilft auch das unentwegte Lesen alter Bücher oder das verzweifelte Besuchen von Ausstellungen und Museen nichts. Niemals war die Kommunikation derart gestört wie im Zeitalter der Kommunikation. Doch indem sich der totale Nihilismus seiner Vollendung naht, keimt unversehens neue Hoffnung auf. Denn vielen, vornehmlich den Besten, ist das Vakuum, in dem sie sich befinden, schmerzlich bewußt. So macht sich unter den Erfolgreichen, Vornehmen und Gebildeten große Sehnsucht breit. Und was sollte diese Sehnsucht nach Inhalten und Werten nicht besser befriedigen können als ein philosophisches Gespräch?
Der soziale Sinn der Philosophie - von der Selbstverwirklichung ihrer Produzenten und dem literarischen Genuß ihrer Rezipienten einmal abgesehen - ist ihre Praxis im Gespräch. Erst beim Reden springt das Denken frei von Mensch zu Mensch. Erst auf den Lippen hat Gedankengut Gestalt und auch Gewicht. Der Anlaß von Gesprächen kann ein konkretes Alltagsproblem, die Ergründung des eigenen Lebenskonzeptes, eine philosophische Fragestellung oder auch bloß Neugier sein. Wie auch immer: Philosophie ist Lebensbegleitung. Zur Wissenschaft taugt sie nur bedingt, außer sie begnügt sich damit, bloß Philologie zu sein. Gerade heute, da uns Religion und Politik abhanden gekommen sind, da die Vereinsamung, die geistige Verwirrung und Verzweiflung zunehmen, braucht es "Seelsorger", "Geistliche", außerhalb der Universitäten, auf jeden Fall Gesprächspartner.
Auf Grund verschärfter Arbeitsbedingungen, vor allem in den höheren Einkommensschichten, kommt heute jede Form der Muße zwangsläufig zu kurz. Im Unterschied zur Freizeit ist sie jene Zeit, in der wir es zu einer Stille der Gedanken bringen, in uns ruhen und uns versammeln. Sie ist der Luxus, den die Seele zur Gesundung braucht. Freilich kann ein Praktiker der Philosophie die Muße nicht zurückerstatten. Doch wird er stets bemüht sein, den versäumten Reflexionen neue Kraft zu geben.
Ein Praktiker der Philosophie wird weder Monologe halten, noch Lehren verbreiten. Im Gegenteil: Er wird zuhören, um sich der Einstellungen, Werthaltungen und Weltbilder seiner Gesprächspartner bewußt zu werden. Er wird sie vorbehaltlos ernst nehmen. Denn in der Folge wird es nicht darum gehen, etwas besser zu wissen oder gar vorzugeben, im Besitz von objektiver Wahrheit zu sein, sondern der einen subjektiven Betrachtungsweise andere Betrachtungsweisen hinzu zu stellen. Dazu werden auch umfangreiche Recherchen notwendig sein. Und an Materialien wird es angesichts der langen philosophischen Tradition gewiß nicht fehlen.
Stets wird es wichtig sein, zu jedem vorgebrachten Thema ein breites Spektrum möglicher Sichtweisen ins Spiel zu bringen. Diese Fülle an Argumenten gilt es dann zu diskutieren, in ihrer existentiellen Dramatik zu verstehen und jedes dieser Argumente einzeln gegeneinander abzuwägen. Doch geht es dabei keinesfalls um Wahrheitsfindung, sondern immer nur um eines: die Gesprächspartner in eine nachdenkliche Stimmung zu versetzen, um sie dazu zu befähigen, ihren ureigensten Anliegen eigenständig nachgehen zu können.
Für Gerd Achenbach, jenen Deutschen, der 1981 die erste Philosophische Praxis eröffnete, sind die geistige Belebung und das "Dephlegmatisieren" seiner Klienten die wesentlichsten Ziele. Im Zuge philosophischer Gespräche soll dem Besucher sein eigenes Leben wieder interessant und damit lebenswert gemacht werden. Derartige Vorsätze sind einleuchtend, steckt doch nahezu in jedem Philosophen die tiefe Überzeugung, daß sein Denken nicht bloß vernünftig, sondern vor allem sinnvoll und auch heilsam ist. Denn schließlich weiß ein Philosoph auf Grund der eigenen Erfahrung, daß sein Denken Wirkung hat. War die Erfahrung positiv, so wird er die Begeisterung, so gut es geht, auch übertragen wollen.
Im Gegensatz zum wissenschaftlichen oder theoretischen Philosophen kann ein Praktiker der Philosophie genau beobachten, von welchem Menschen ein Gedankengang aus welchen Gründen angenommen oder abgelehnt wird. Er wird sehen, ob und inwiefern das Denken dem konkreten Leben in die Arme greift. Er selbst wird sich der Stellungnahme keineswegs enthalten. Doch hat er stets die Rolle des Vermittlers, bietet an, breitet die Vielfalt aus. Und die Erfolgreichen, Vornehmen und Gebildeten brauchen diese Vielfalt. Was könnte den vom Schicksal ohnehin Verwöhnten sonst noch fehlen? Erst als Philosophierende, als Navigatoren im Dickicht des Denkbaren, stehen sie im Zentrum. Das wissen sie, und allemal: Genau das wollen sie auch.
Daß sich ein Thema von verschiedenen Standpunkten aus betrachten läßt, scheint unmittelbar klar zu sein. Doch daß die Vielfalt zu Bewußtsein kommt und dann der Einfalt auf die Sprünge hilft, ist selten. In der Regel klammern wir uns, Ertrinkenden gleich, an jenem Stückchen Wahrheit fest, das uns durch allerlei Zufall zuteil geworden ist. Wir meinen, daß unser Selbst an diesem Stückchen seine Wurzeln hat. Ganz bewußt verdichten wir das Denken um gewisse Regionen, fördern deren Durchblutung und nehmen in Kauf, daß uns der Rest der Welt verloren geht.
So konzentrieren wir uns. Wir wählen und entscheiden, und indem wir uns für etwas entscheiden, entscheiden wir uns in einem Zug auch gegen das, was diesem einen dann entgegensteht. Wir sollten deshalb alles Perspektivische in unserem Denken sehen und begreifen lernen, sowie die intellektuelle Einbuße, mit der sich jedes Für und jedes Wider bezahlt macht. Dann wird uns zu Bewußtsein kommen, daß es nicht eine Wahrheit, einen Sinn, sondern "unendliche Sinne" zu entdecken gilt, und daß sie niemals Tatsachen sind, denn, so Nietzsche: "Gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen".
Andererseits führen permanentes Lesen, der Besuch von Vorträgen, Seminaren, Theaterstücken und Vernissagen bei einem Mangel an das Denken erst versammelnden Prozessen zwangsläufig ebenso zur geistigen Isolation. Ohne Einfalt, ohne Standpunkt, hat die Vielfalt halb verdauter Interpretationen wenig Sinn. Meist tritt angesichts der Üppigkeit des Konsumierten bloß geistige Verstopfung ein. Denn das Genießen von Kultur, so bildend es auch ist, ist letztlich nur ein passives Sich-Fügen in die Gedankenwelt der anderen, selbst wenn man stets zu glauben geneigt ist, "dabei zu sein" und "mitzutun". Nur wenn das Denken sich im Anschluß fragend versammelt, kann kulturelles Chaos auch privaten Sinn und Nutzen finden. Erst im Prozeß des Philosophierens findet das Denken zu sich.
Ein Praktiker der Philosophie ermöglicht seinen Gesprächspartnern wesentliche Themen vielschichtig und ausführlich zu diskutieren. Von einem Psychotherapeuten ist er insofern zu unterscheiden, als es ihm nicht um Heilung psychischer Leiden geht, sondern um die Befähigung zu einer sinnvollen Existenz. Was dann als sinnvoll gilt und welcher Weg beschritten werden soll, bleibt den Besuchern freilich selbst überlassen. Darüber hinaus ist der praktizierende Philosoph - im Unterschied zum Psychotherapeuten - keinesfalls gewillt, die speziellen Probleme des Einzelnen im Lichte einer allgemeinen Theorie zu sehen. Jeder Gesprächspartner ist prinzipiell ein Unikat, und was zu tun ist, muß von Fall zu Fall entschieden werden. Methodenvielfalt und ein hohes Maß an Flexibilität sind hier die einzigen Prinzipien.
So wird ein Philosoph kaum in der Lage sein, über typische, ja "klassische" Fälle aus seiner Praxis zu berichten. Denn unter den Besuchern finden sich Menschen aus den verschiedensten Berufssparten, mit den verschiedensten Weltbildern, Vorstellungen und Sorgen, und es gibt keine Theorie, nach der sie zu verbinden wären. Fast scheint es, als ob jene Manager, Ärzte, Computerfachleute, Journalisten, Psychologen und Künstler nicht in der selben Welt und Zeit lebten, als ob jeder ein Universum für sich wäre, einzig verbunden durch den Willen und die Fähigkeit, sich sprachlich zu artikulieren.
Die Themen kreisen um Freiheit und Notwendigkeit, Chaos und Ordnung, Angst und Erotik, Ehe und Familie, Sparsamkeit und Verschwendung; um die Vielfalt ethischen Handelns und um die Frage nach der Wirklichkeit; um Nihilismus, Religion, Arbeit, den Zeitgeist und um vieles mehr. Inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt es kaum. Doch wird die Art und Weise des Gesprächs stets philosophisch sein, das allgemein Menschliche ins Zentrum rücken.
"Philosophisch" heißt, daß sich die Dinge stets auch noch anders betrachten lassen, als sie sich uns zeigen, und daß die Vielfalt dieses "Anderen" der Wirklichkeit schon etwas näher kommt. "Philosophisch" heißt, das Selbstverständliche in Frage zu stellen sowie das Fragliche nicht unbedingt gleich zu beantworten. Und wie auch immer ein Gespräch verläuft: Ist es im Fluß und rückt das Wesentliche näher, wird der Besucher gedanklich nicht mehr einsam sein. Er wird Verbindungen bemerken, sein privates Universum entriegeln und seine Welt mit anderen Augen sehen.
Für die Erfolgreichen, Vornehmen und Gebildeten liegt die Verbindung im Gespräch. Soll sie nicht abreißen, muß das Gespräch sich wiederholen, immer wieder und wieder, in unendlichen Variationen. Das Denken lebt in der Bewegung. Das Wesentliche ist der Prozeß selbst.
In einer Zeit zunehmender Spezialisierung, wird sich ein praktizierender Philosoph verstärkt dem Allgemeinen widmen. Sein Spezialistentum ist stets aufs Ganze aus. In der Zerstreuung wird er sich sammeln, inmitten zunehmender Kompliziertheit immer einfacher und klarer werden. Gleich einer Spinne wird er im Zentrum sein und jede Schwingung jedes Fädchens registrieren. Freilich würde dies, im Idealfall, nahezu übermenschliche Begabung und Konzentration erfordern. Deshalb kann er auch niemals von sich sagen, Philosoph zu sein, ohne sich wenigstens ein bißchen für seine Anmaßung zu schämen: zu vieles, was dieser Titel impliziert. - Doch wird er redlich sich bemühen.
© Eugen-Maria Schulak (Wien)
* Dieser Beitrag ist am 11. September 1998 in der Wiener Zeitung erschienen.
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