Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 9. Nr. März 2001 Editorial


RAF auf der Bühne. Inszenierung und Selbstinszenierung der deutschen Terroristen

Henrik Pedersen (Oslo)

Am 9. November 1999 als ganz Deutschland feierte, dass die Berliner Mauer vor 10 Jahren geöffnet und damit der Prozeß der Wiedervereinigung in Gang gesetzt wurde, als die Heavy-Metal-Gruppe "The Scorpions" im offiziellen Programm am Brandenburger Tor "Wind of Change" mit Cello-Begleitmusik herrlich pathetisch vorführte, und Gorbatjow, Kohl und Bush Geschichte wiederholten und Hände schüttelten, lud die Volksbühne in Berlin-Ost zu einer Gegenveranstaltung ein. Es sollte der Versuch einer ganz anderen Form der nationalen Geschichtsschreibung sein.

Es ist den meisten bekannt, dass der 9. November für die Deutschen ein geschichtsträchtiges Datum ist (die Stichwörter sind: Fall der Mauer 1989, Reichskristallnacht 1938, "Bierstubenputsch" 1923 und die Proklamation der Berliner Räterepublik 1918). Aber wer wusste schon, dass auch Holger Meins, der erste Märtyrer der RAF, gerade an diesem Tag - vor 25 Jahren - starb? Meins starb 1974 als Folge eines Hungerstreiks, den er gegen seine Isolationshaft antrat. Dieser Einsatzbereitschaft entsprechend trug die Gedenkveranstaltung der Volksbühne den Titel: "Die Waffe Mensch". Um den Terroristen Holger Meins ging es aber dabei nur im begrenzten Maße, es sollte dem Publikum in erster Linie ein Bild von dem Menschen Holger Meins, dem Künstler und Filmemacher vermittelt werden.

Bei dieser Gedenk-Veranstaltung wurde ein von über 40 Theaterleuten und Intendanten unterzeichneter Aufruf zur Freilassung der noch inhaftierten RAF-Mitglieder bekannt gemacht. Dieser bemerkenswerte Aufruf ist es, der mich zu den folgenden Reflexionen veranlasst hat. Denn warum geht ein Aufruf zur Freilassung der RAF-Inhaftierten ausgerechnet von Theatermachern aus? War das ein Zufall? Oder gibt es in Deutschland eine besondere Beziehung zwischen dem Theater und den Terroristen? Und welche Rolle spielt in dieser Verbindung die uralte Verwandtschaft von Drama und Terror? Ich hoffe, dass man einer kleinen Antwort auf diese großen Fragen näher kommen kann, indem man sich einerseits die jüngsten Beschäftigungen mit dem deutschen Terrorismus auf der Bühne anschaut und sich andererseits die ursprüngliche Dramaturgie dieser Terroristen vergegenwärtigt. Die erstere Antwort ist eine theatergeschichtliche, da sie sich in kursorischer Analyse einer kleinen Welle von RAF-Stücken aus den 90er Jahren widmet. Letztere könnte man eine psycho-politische nennen, weil sie über die politische Dramaturgie reflektiert, die bewußt oder unbewußt den Terroraktionen zu Grunde liegt.

Die Geschichte der RAF lässt sich aus dieser Perspektive als die Geschichte einer doppelten Inszenierung beschreiben. Zuerst ist die Rede von Terroristen, die sich ausgiebig der Mittel des Theaters bedienen, dann vom Theater, das über die Terroristen herfällt, weil Terror mittlerweile ein sowohl populärer wie kontroversieller Stoff geworden ist.

Terror ist Theater

Gibt es - wie die letzten Kulturkritiker behaupten - eine generelle Tendenz zur Ästhetisierung der Gewalt in unserer heutigen Kultur, dann scheint diese nun auch endgültig den Terrorismus der 70er und 80er Jahre erreicht zu haben. Der Inbegriff des deutschen Terrorismus, die "Rote Armee Fraktion" erlebte nämlich in den 90er Jahren, was man eine kleine Renaissance nennen könnte. Nicht nur in den Schlagzeilen der Medien oder in abgelegenen linksradikalen Subkulturen, sondern vor allem auf den Bühnen des deutschen Regietheaters wurde um die Geschichtsschreibung gekämpft. Nicht weniger als zehn Stücke aus dieser Periode habe ich gefunden, in denen RAF-Mitglieder oder Texte von ihnen eine zentrale Rolle spielen. Bevor ich aber auf diese kleine Chronik der Rote-Armee-Fraktion-Inszenierungen zu sprechen komme, die den zweiten Teil dieses Artikels ausmacht, versuche ich kurz wichtige theatralische Aspekte des deutschen Terrorismus aufzudecken.

Nachdem die Massenmedien auch für Terroristen eine immer wichtigere Rolle spielten, ist es in der sogenannten Terrorismus-Forschung üblich geworden, den Terrorismus im Rahmen einer allgemeinen Kommunikationstheorie zu verstehen. Die Terroristen benutzen - wie man sagt - eine "Sprache der Gewalt". Dass Terror auch im Selbstverständnis der Terroristen als "speech act" zu identifizieren ist, sozusagen eine Fortsetzung der Diskussion mit anderen Mitteln darstellt, dafür gibt es mit dem RAF-Mitglied und der ehemaligen Rhetorikstudentin, Gudrun Ennslin, ein treffendes Beispiel. "Begriffe sind Aktionen. Aktionen sind Begriffe"(1), schreibt sie.

Grundsätzlich unterscheidet sich der Terrorist vom gewöhnlichen Kriminellen dadurch, dass er sich nicht als Krimineller versteht. Seine Handlungen sind immer auch etwas "Mehr", sie weisen über sich hinaus, müssen vor irgendeinem religiösen, politischen oder ideologischen Hintergrund verstanden werden. Ein terroristischer Mord ist selbstverständlich ein Mord, aber nie nur ein Mord, er hat zudem eine weitere Bedeutung, ist als Signal oder Symbol zu verstehen. Es kennzeichnet mit anderen Worten die terroristische Handlung, dass sie nicht nur interpretiert werden kann, sie verlangt sogar, interpretiert zu werden, dass über dieses "Mehr" reflektiert wird. Bekanntlich hängt es dann vom Interpreten ab, inwieweit man einen Terroristen oder einen Widerstandskämpfer, einen Schurken oder einen Helden erblickt.

Das Wort "Terror" kommt aus dem französischen: "la terreur", das Schrecken oder Angst bedeutet, und damit wird schon angedeutet, dass für den Terroristen die Wirkung wichtiger als die Tat selbst ist. Betrachtet man den Terrorismus als einen symbolischen Akt, lassen sich die distinkten Komponenten des klassischen Kommunikationsmodells identifizieren: Hinter dem durch Gewaltaktionen erzeugten Schrecken steckt eine Botschaft, die einen Sender hat (den Terroristen) und einen Empfänger (nämlich ein gemischtes Publikum von Feinden und Freunden). Bemerkenswert oft wird in der Forschung zu diesem Thema das Theater als eine erkenntnisleitende Metapher für das Wirken der modernen Terroristen verwendet.(2)

In seinem Artikel "Terrorismus und Performance" macht Arthur J. Sabatini eine wichtige Präzisierung dieser Analogie. Er meint, dass

die Materialien und Strukturen, die in der Performance Verwendung finden, viel mehr auf die Erscheinungsformen des Terrorismus zurückgreifen als auf diejenigen des Theaters.(3)

Performance wie Terrorismus arbeiten in der realen Zeit, nicht in dramatischer Zeit. Weder der Performancekünstler noch der Terrorist spielen, sie sind. Für beide ist das Ich und dessen symbolische Bedeutung untrennbar miteinander verbunden; Leben und Performance ist verschmolzen. Die Hungerstreiks der RAF illustrieren vielleicht diese These am Besten, denn im Hungerstreik wird Leben und Handlung mit äußerster Konsequenz synthetisiert. Der Einsatz des Körpers als politische Ressource kann im Endefffekt - das zeigt uns der Fall Holger Meins - den Tod zur Folge haben.(4)

Ob man nun Performance oder Theater für die ergiebigste Analyseperspektive hält, so meine Pointe im folgenden jedenfalls, dass man die RAF zunächst dramaturgisch begreifen soll, wenn man die tiefere Faszination, die dieses Phänomen ausübt, verstehen will. Vieles deutet darauf hin, dass die Mitglieder der RAF sich von Anfang an der verschwommenen Grenze zwischen Theater und Terror bewußt waren und ihre Auftritte entsprechend über die Bühne gebracht haben. Das Konzept Stadtguerilla des Brasilianers Carlos Marighella hat die RAF z. B. als Lehrstück, als didaktisches Rollenspiel inszenieren wollen, in dem eine möglichst entpersonalisierte Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft angestrebt wurde. Es kennzeichnet diesen Terrorismus, dass es keine persönliche Beziehung zwischen Opfer und Täter gibt. Das Opfer wird nicht als Mensch, sondern als Objekt und Funktionsträger der Gesellschaft gesehen. Der Täter handelt auch nicht als Person, sondern als Beauftragter, als Kämpfer einer geschichtlichen Bewegung und ist durch Gruppenzwang und Einsicht in die Notwendigkeit der Geschichte zur Tat bestimmt. Auf beiden Seiten gibt es so gesehen nur Rollenträger, Marionetten eines geschichtlichen Dramas. Dieser Fatalismus, das Gefühl, vorprogrammiert zu sein, scheint nicht nur die besondere Brutalität der RAF gefördert zu haben, er macht auch - ganz im Geiste der Tragödie - den Tod zum omnipräsenten Fixpunkt für die Taten und Gedanken der Gruppe. Dies wird sehr beeindruckend in "Wolken. Heim" von Elfriede Jelinek demonstriert, wenn in diesem Stück das Todespathos der RAF kühn mit ähnlichen Aussagen von Repräsentanten des Deutschen Idealismus zusammengestellt wird.

Die politische Strategie der RAF war eine Dramaturgie auf höchster gesellschaftlicher Ebene: Durch den Terror der militanten Avantgarde sollte der deutsche Staat gezwungen werden, seine faschistische Fratze zu zeigen. Auf die Faschismusprobe gestellt, sollte die Macht des Staates provoziert werden, es würde zu einem Höhepunkt staatlicher Gewalt kommen, der die Massen endgültig überzeugen sollte, dass der Staat genauso schlimm, genauso faschistisch und unterdrückend vorgeht, wie die kritische Avantgarde immer behauptet hatte. Es ging darum, einem faschistischen System seine liberale Maske abzureißen, wie es mit einer damals beliebten dramatischen Metapher oft formuliert wurde. Aber zu diesem dramatischen Wendepunkt ist es in Deutschland nie gekommen: der RAF ist es nicht gelungen, eine Krise in der kapitalistischen Tragödie herbeizuschaffen: Als klassisches Trauerspiel betrachtet blieb das Projekt RAF ein permanenter, blutiger Anlauf gegen die Klimax, die sogenannte Peripeti des dritten Aktes. Der 'deus ex machina' der Revolution ist nie auf der Bühne erschienen.

Bekanntlich hat die Gruppe anfangs eher gegen den Krieg in Vietnam als für die Revolution in Westdeutschland gekämpft. Aber auch dieser Kampf war von einer dramaturgischen Strategie geprägt. Wie kann man sonst den Wunsch beschreiben, den Kolonialkrieg der Amerikaner in die Metropolen ihrer Alliierten tragen zu wollen? Das entspricht einem Raumverständnis, das es sonst nur auf der Bühne gibt: Der Raum ist da um überwunden zu werden. "Brüssel wird Hanoi" heißt es in der legendären Broschüre "burn ware-house, burn!", die das Berliner Künstlerkollektiv "Kommune 1" nach einem Kaufhausbrand in der belgischen Hauptstadt verteilt. "Berlin ist Vietnam" lautet eine andere beliebte Parole aus dieser Zeit. Durch solche Hinweise, die von der RAF buchstäblich verstanden wurden, wird einerseits die Illusion erzeugt, es herrsche in Westdeutschland in der Realität schon Krieg, was die eigene Gewaltanwendung legitimiert, andererseits sprengt man dadurch den rein deutschen Rahmen, indem man sich auf eine Arena des internationalen Klassenkampfs katapultiert. Wie ernst dies nicht nur von den RAF-Mitgliedern genommen wurde, zeigt z.B. die Tatsache, dass in Stammheim ihre Rechtsanwälte - darunter Otto Schily, der heutige Innenminister Deutschlands - eine sogenannte "politische Verteidigung" führen wollten. Die RAF-Gefangenen haben sich nicht nur als politische Gefangene betrachtet, sondern als Kriegsgefangene, denen folglich ein Recht auf Behandlung in Übereinstimmung mit der Genfer-Konvention zusteht. Die Gewaltanwendeung der Stadtguerilla sollte mit Hinweis auf den ungerechten Kolonialkrieg der Amerikaner legitimiert werden. Aus diesem Grund hat man z.B. Richard Nixon als Zeugen geladen - jedoch ohne Erfolg.

Bemerkenswert ist es in dieser Verbindung auch, welche zentrale Rolle das Wort "Inszenierung" in der Diskussion über die letzten Ereignisse in Stammheim spielt. Freilich ist viel darüber gestritten worden, wie Ennslin, Raspe und Baader 1977 ums Leben kamen, aber es herrscht Einigkeit darüber, dass es sich um Inszenierungen handelt. Entweder - und das ist die offizielle Erklärung - sind drei Selbstmorde zu Hinrichtungen stilisiert worden: Als letzte dramaturgische Ressource haben die RAF-Führer ihre Leben eingesetzt, ihre Körper der Produktion von Märtyrern geopfert. Oder es ging in Stammheim - so eine immer kleiner werdende Gruppe von Kritikern - um einen noch perfideren Akt der Inszenierung, nämlich darum, dass staatlich verordnete Mordakte als Selbstmorde ins Szene gesetzt wurden.

Überhaupt fällt es auf, dass die RAF immer ein Publikum vor Auge gehabt hat und so agierte, als wäre der Blick der Welt auf sie gerichtet. Traditionell geschlossene Räume, wie das Gefängnis und den Gerichtssaal, haben sie durch Hungerstreiks und den Anspruch auf die Rechte von Kriegsgefangenen in Bühnen einer Weltrevolution verwandelt. Aus ihrem Selbstverständnis als ausserparlamentarischer Avantgarde ergibt sich das Bedürfnis, wiederholt um Zustimmung, Verständnis und Anhänger zu werben. Unzählige 'Aktionsberichte' wurden geliefert, in Programmschriften wurden Kommandos begründet und gerechtfertigt.(5) Und dennoch ist die RAF bald eine Avantgarde ohne Basis geworden: Das Publikum versteht ihr absurdes Agieren auf der Bühne nicht. Obwohl man sie nach 1972 als politisch isoliert betrachten muss, wird das blutige Schauspiel fortgeführt und das Publikum unbeirrt mit Lesehilfe beliefert. Sogar die Auflösungserklärung von 1998 ist nicht weniger als 10 Seiten lang.(6)

Weiter muss man sich fragen, inwieweit es sich hier um ein Phänomen handelt, in dem sich Fiktion und Non-Fiktion verhängnisvoll verquickt. Es ist einfach erstaunlich zu lesen, wie häufig in den einzelnen Biographien der RAF-Mitglieder gerade Erfahrungen mit Theater, Film, Drehbuchschreiben oder Schauspielerei vorkommen. Ist es z. B. Zufall, dass Holger Meins erst Filme über die Herstellung von Molotow-Cocktails, über revolutionäre Raubüberfälle und Entführungen von Menschen dreht und dann später das alles in Wirklichkeit umzusetzen versucht? Rhetorisch gefragt: Wie weit ist eigentlich der Weg vom Aktionstheater zur Terroraktion?

Wem diese Frage als eine unzulässige Vermanschung von Politik und Kunst erscheint, der/die sei daran erinnert, dass eine Aufhebung der Trennung dieser beiden Sphären Ende der 60er Jahre allseitig gefordert wurde. Es liegt jedenfalls auf der Hand, dass man den Übergang zum terroristischen Konzept Stadtguerilla vor dem Hintergrund einer situationistischen und aktionistischen Entwicklung in Literatur und Theater dieser Periode sieht.(7) In genealogischer Hinsicht kann man die Stadtguerilla als eine radikalisierte oder - sagen wir - mutierte Form des damals beliebten Straßentheaters verstehen. Ein politisches Happening, das außer Kontrolle geriet. Ich behaupte, dass die Zweideutigkeit des Happenings den Kern dieser Geschichte bildet, denn das Happening ist einerseits eine genuin künstlerische Äußerung, andererseits ist es aber wegen seiner an Mißbrauch grenzenden Verwendung des Schock-Effekts immer wieder als kriminelle Handling gebrandmarkt worden.(8)

Die innere Dynamik ist so gesehen eine weitere "tertium comparationis" zwischen avantgardistischem Theater und avantgardistischem Terror. Laut dieser Dynamik, die man schlechthin die ästhetische Logik der Moderne nennen könnte, muß der Künstler zu immer stärkeren Ausdrucksmitteln greifen, wenn er das Publikum im Griff behalten will. Schon das erste Vorbild der deutschen Stadtguerilla, die revolutionären uruguayanischen Tupamaros nahmen etwas von dieser Entwicklung ("happening out of control") vorweg. Sie hatten mit populären Robin Hood-ähnlichen Aktionen begonnen, gingen aber bald und erfolglos zu einem bewaffneten Kampf über, in dem auch unschuldige Opfer in Kauf genommen wurden.

In Berlin gab es 1967 noch keine Stadtguerilla, aber schon eine sogenannte Spaßguerilla, einen surrealistisch inspirerten Situationismus, der die spielerische Destruktivität als gesellschaftliche Produktivkraft betrachtete.(9) Es war eine Zeit der Go-Ins, Sit-Ins und anderer innovativer Demonstrationsformen. Das Theater begab sich auf die Straße, und bei manchen dieser Aktionen ließen sich Theater und politische Demonstration einfach nicht trennen. Auch nicht für die Berliner Polizei: Zum Beispiel wurden nicht weniger als 11 Personen verhaftet, als Mitglieder des legendären Großkollektivs Kommune 1 ein sogenanntes Pudding-Attentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey verüben wollten.

Will man die These von einer Verbindungslinie zwischen Spaß- und Stadtguerilla belegen, lohnt sich ein Blick auf die revolutionäre Gruppierung "Bewegung 2. Juni", die den spontaneistischen Happening-Charakter der Stadtguerilla am spektakulärsten illustriert. Diese Bewegung entstand in Berlin aus einem Zusammenschluß mit dem ironischen und harmlos anmutenden Titel: "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen". Während die RAF eine tragische Dramaturgie benutzt, hat die "Bewegung 2. Juni" konsequent die Revolution als anarchistisches Lustspiel inszeniert; so haben ihre Mitglieder z.B. bei einem Banküberfall "revolutionäre Negerküsse" an Kunden und Angestellte verteilt. Das ist ein Gimmick in bester V-Effekt-Tradition: das Bekannte wird fremd gemacht, um dadurch als veränderlich zu erscheinen. Der simple Diebstahl wird anhand von Kostproben kommender Genüsse zur revolutionären Situation. Dieser Aufwand an Humor hat jedoch nicht verhindern können, dass bei ihren Aktionen (es handelt sich um Entführungen von Politikern, Banküberfälle und Bombenanschläge) mehrere Menschen ums Leben gebracht wurden.

Auch die Vorgeschichte der RAF entbehrt nicht einer gewissen Unschuld. Der erste Anschlag, die Brandstiftungen in zwei Frankfurter Kaufhäusern, wurden von vier jungen Menschen verübt, die Freunden gegenüber behaupteten, dass sie gerade dabei waren einen Film zu drehen. Der Prozeß gegen die vier - darunter Andreas Baader und Gudrun Ennslin - entwickelte sich zu einem absurden Justiz-Happening, weil die Angeklagten im Gerichtsaal eine sehr geeignete Bühne entdeckten, auf der sie ihr revolutionäres Engagement selbstbewusst inszenieren konnte. Für Tumulte im Gerichtssaal war u.a. der französische Studentenführer Daniel Cohn-Bendit verantwortlich, der die Angeklagten vor ein eigenes Studentengericht stellen wollte. Im Gerichtssaal wurde die Internationale gesungen, und der dritte Angeklagte, Thorwald Proll war als Bertolt Brecht verkleidet mit Mao-Fibel und Zigarre. Vielleicht ist es bezeichnend für diesen ganzen Auftritt, dass der vierte Angeklagte, Horst Söhnlein, Leiter eines "Action-Theater" in München war. Rainer Werner Faßbinder, der zu dieser Zeit zu dem Kreis um Söhnlein gehörte, schrieb später über seinen Terroristen-Film "Die dritte Generation": "Ich schmeiße keine Bomben. Ich mache Filme".(10)

Bombe oder Film? Interessant ist zu beobachten, wie sehr die RAF von der Unwirklichkeit ihres Vorhabens profitiert hat. Mit den zwei Ebenen der menschlichen Kognition, Fiktion und Non-Fiktion (Film oder Bombe?), hat man geschickt gespielt. Dass eine kleine Gruppe von Revolutionären dem westdeutschen Staat einfach den Krieg erklären könnte, erscheint den meisten Menschen als schier unwirklich. So gelang es ihr, das Material und die Sprengstoffbehälter für ihre erste Terrorwelle als Requisiten für einen Film herstellen zu lassen. Als Titel des Filmes gab sie an: "Revolutions-Fiction". Spielort: Südamerika.

Dramatisch ist aber die Geschichte der Rote Armee Fraktion vor allem in der Bedeutung aufregend und spannend. Sie enthält fast alle Merkmale eines fesselnden Dramas. Es gibt den Konflikt zwischen einer kleinen idealistischen Gruppe und der tauben Masse. Dramatisch gesehen war das ein nicht zu übertreffender Non-Fiction-Krimi mit Originalbesetzung. Die Schauspieler waren an allen Grenzen Deutschlands auf den charakteristischen Fahndungsplakaten zu sehen, und Kopfgeld in der Höhe von 50.000 DM verleiht der Geschichte eine gewisse Western-Qualität. Die Protagonisten sind klar konturiert: Es gibt die gesellschaftskritische Edelfeder Ulrike Meinhof mit dem high-society Background, den unangepaßten Gaunertyp Andreas Baader, ein Marlon Brando der linken Berliner Szene, Gudrun Ennslin, die Pfarrerstochter mit dem Universitätsstudium und einem absoluten Sinn für Gerechtigkeit und einen Horst Mahler, der sich damals als Che Guevara der Deutschen ausstaffierte. Das Motiv ihrer Handlungen ist eindeutig: Den Boden für die Revolution zu bereiten. Nach Kaufhausbrandstiftungen, einem absurden Gerichtsprozeß und der Gefangenenbefreiung Baaders ist die Gruppe auf der Flucht, sie bekommt Waffen-Training in der Jordanischen Wüste, kehrt nach Deutschland zurück und erklärt dem Staat einfach den Krieg. Was folgt, sind Banküberfälle, Bombenanschläge, Geiselnahmen und Erpressungen, Großfahndungen über ganz Europa, Inhaftierungen, Hungerstreiks und Selbstmord. Die Stationen einer modernen politischen Tragödie.

Tragisch ist diese Geschichte vor allem wegen der quasi schicksalshaften Notwendigkeit, mit der die Handlung vorangetrieben wird. Wie kann eine relativ unschuldige Bombe in einem verlassenen Kaufhaus eine Lawine von Gewalt auslösen und im Laufe von wenigen Jahren die zivile Gesellschaft Westdeutschlands radikal verändern?

Auf dem psychologischen Plan besteht die Tragik in der Diskrepanz zwischen Intention und Handlung. Der Soziologe Norbert Elias macht auf einen Aspekt aufmerksam, den die rechten Kritiker der RAF nie richtig anerkannt haben, nämlich den, dass es immer auch eine menschliche Tragödie ist, wenn ursprünglich uneigennützige Idealisten zum unmenschlichen Mördern werden.(11) Der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit könnte kaum größer sein. Es gehört weiter zur Ironie dieser Geschichte, dass die RAF tatsächlich selber jenen Polizei- und Überwachungsstaat auf den Plan ruft, den sie bekämpfen wollte.

Theater über Terror

Ich habe zu zeigen versucht, dass Theater im weitesten Sinne des Wortes eine analytisch ergiebige Metapher für das Agieren der RAF liefern kann. Terror in dieser Form ist Totaltheater. Deswegen scheint das dramaturgische Potential der RAF irgendwie schon erschöpft zu sein. Zu fragen bleibt: Wie und warum hat sich dann die deutsche Bühne in den 90er Jahren mit dieser Bewegung beschäftigt? Lassen sich Dramaturgen des Politischen unproblematisch auf die Bühne bringen? Eine Anwort auf diese Frage wird angedeutet, indem ich summarisch-kommentierend die Chronik dieser RAF-Inszenierungen darstelle und darauf einige ihrer gemeinsamen Nenner zusammen zufassen versuche.

1988

1) wird Elfriede Jelineks: "Wolken. Heim" in Bonn aufgeführt. Die RAF ist hier in eine ungewöhnliche Gesellschaft geraten: Neben Zitaten aus Werken von Kleist, Hölderlin, Fichte, Hegel und Heidegger sollen ausgerechnet Texte der Terroristen den Geist des deutschen Idealismus veranschaulichen. Die Rote Armee Fraktion als Beispiel einer besonders deutschen Denkweise. Hier wird Ideologiekritik durch Sprachmontage betrieben. Das Pathos des Stückes ist eindeutig ironisch. Ironisch ist auch die Tatsache, dass das Stück nach der deutschen Wiedervereinigung erneut auf Interesse stößt; es ist angeblich zu neuer Aktualität gelangt, als in diesen Jahren die bange Rede von einem Großdeutschland noch einmal die Runde macht.

1990

2) Premiere von Johan Kresniks Tanztheater "Ulrike Meinhof" in Bremen. Drei Lebensstationen Meinhofs sind als politisches Ballett oder choreographisches Theater gestaltet. Das Leben dieser wortmächtigen Frau nicht mit Wörtern, sondern mit Bildern und Musik zu begleiten, ist eine kühne Idee. Auffallend ist noch einmal die These, dass Ulrike Meinhof als intellektuelle Frau und Terroristin sowohl die absolute Außenseiterin, als auch ein sehr deutsches Schicksal verkörpert. Der Schlagerartist Heino singt am Ende die nicht offiziell zur Nationalhymne gehörende und deswegen politisch kontroversielle erste Strophe des Deutschlandslieds, in der bekanntlich "Deutsche Frauen" und "Deutsche Treue" im selben Atemzug zelebreiert werden. Die RAF als Verkörperung der deutschen Vorliebe für Konsequenz.
Die Rede im Winter 1990 von Wiedervereingung und "Deutschland einig Vaterland" hat laut Kresnik Meinhofs Kritik am "Modell Deutschland" zur neuen Aktualität verholfen.

1991

3) "Ein Denkmal für Gudrun Ensslin" - eine Textmontage von Ennslinmonologen wird 1991 in Münster uraufgeführt. Mit minimalistischen Mitteln wird die fortschreitende Auflösung einer Persönlichkeit gezeigt. "Wie in einer Peep-Show" - so der Regisseur - soll ein neutrales Psychogramm der schwäbischen Pfarrerstochter gezeichnet werden.

1993

4) Dea Lohers "Leviathan" wird im Niedersächsischen Staatstheater uraufgeführt. In diesem Stück wird die Geschichte der Ulrike Meinhof und der RAF für das Theater aufbereitet. In 16 Stationen werden besonders die politisch-philosophischen Dimensionen des Stoffes behandelt.

1995

5) Im Theater am Halleschen Ufer in Berlin wird ein neues cooles RAF-Stück gespielt. Der Titel "Baader, Remix 95" gibt an, dass der Name RAF heute vor allem ein provokante Zeichenfunktion hat. Das Stück "remixt" d.h. collagiert Texte von Thomas Bernhard, William Borroughs, Rainald Goetz und der RAF. Es wird mit Rebellenattitüde, mit Mode und Sex gespielt. "[G]arantiert ohne politische Haltung", schreibt ein Kritiker. Dieses Stück ist wahrscheinlich das erste Beispiel dafür, dass die von Knut Ove Arntzen beschreibenen Tendenzen zu "Ambient Theatre and Clubbing" auch das Thema RAF erreicht haben.(12)

1997

6) 20 Jahre nach dem Deutschen Herbst ist die RAF hipper als jemals zuvor. Die Bewegung ist zwar tot, aber das Pathos der RAF verkauft sich gut. "Heißer Herbst" heißt ein Stück des Jungen Theaters in Bremen, in dem die Geschichte der RAF durch Improvisationen, Textcollagen, dramatische Fragmente und Clownereien noch einmal erzählt wird. David Bowies "Heroes" unterstreicht zum Schluß die Neigung des Stückes zur unkritischen Ikonografie.

7) In Berlin inspiriert RAF den Spielplan der Berliner Ensemble. Als man Bertolt Brechts "Die Massnahme" nach mehr als 60 Jahren Spielverbot wieder auf die Bühne bringt, wird explizit auf die Schlüsselfunktion dieses Textes für die RAF hingewiesen. Denn die terroristischen Züge der Parteidisziplin, die bei Brecht parabelhaft dargestellt werden, waren auch innerhalb der RAF aktiv. "Projekt RAF" heißt eine weitere Inszenierung dieser Saison, die sich anhand von Textsplittern aus Briefen von RAF-Gefangenen auf die Suche nach den Spuren des utopischen Projekts RAF begibt. Eine neue Generation bemächtigt sich jetzt des Materials: Der Regisseur Paul Plamper ist nur 25 Jahre alt.

1998

8) Am 20. April (Hitlers Geburtstag!) wird die Auflösungserklärung der RAF veröffentlicht. In Berlin gibt es die Vorstellung "Don't look now II". Hans-Werner Kroesinger ist bekannt als Dekonstrukteur des Dokumentargenres. Sein multimediales und ironisches Dokumentartheater bedient sich auch aus dem RAF-Archiv und schafft frostige, "Deutscher Herbst"-Atmosphären. Entlarven, Enthüllen oder sogar Erzählen sind nicht mehr die Aufgabe dieses Theaters, stattdessen wird durch Videos, Musik, Dias und Dialoge eher ein Art Stimmungsterrorismus betrieben.

1999

9) Am Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober, hat Christoph Schlingensief, Performance-Wunderkind und enfant terrible der Volksbühne, für ein kleines Skandälchen gesorgt, als er in Hamburg Horst Mahler als Hauptattraktion auf die Bühne im Deutschen Schauspielhaus einlud.(13) Indem Horst Mahler bloß als geschichtliches Requisit vorgeführt wird, bestätigt sich auch die Tendenz, die in anderen RAF-Inszenierungen zu verzeichnen war, nämlich, dass die einmal so tragische RAF heute auf der Bühne wahrscheinlich nur als Farce und Unterhaltung weiterleben kann.

10) Am 9. November findet "Die Waffe Mensch", die schon erwähnte Gegenveranstaltung der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz statt. An diesem Abend steht die Erinnerung an Holger Meins im Zentrum: in der Tradition des Dokumentartheaters werden auf den Bühnen des Hauses Briefe der Gefangenen, Akten der Stammheimprozesse oder z.B. Leserbriefe aus den damaligen Zeitungsdebatten.

Die Inszenierung der RAF

Schaut man sich diese 10 Aufführungen und Spektakel als eine Einheit an, heben sich meiner Meinung nach zwei Bearbeitungsformen hervor: Dekonstruktion und Personalisierung.

1. Zum Ersten: Textmontage, Dokumentation und Zitat-Collage sind die vorherrschenden Techniken in den eben erwähnten Stücken. Mit Kresniks Tanztheater als Ausnahme wird die RAF als ein zu deutender Text vorgestellt, den man zwischen den Zeilen lesen muß; ein Text, dem man durch kühne Lesarten und subjektive Perspektiven einen neuen Sinn abzugewinnen versucht. Das Material für diese Dekonstruktion liefert in den meisten Fällen eine Textsammlung, die erst 1987 herausgegeben wurde. "das info - briefe von gefangenen aus der raf"(14) heißt sie, und sie verdient wegen ihrer zentralen Stellung in vielen Stücken einen Kommentar. In dem Bestreben, sich auch sprachlich zu isolieren und jegliche Bürgerlichkeit abzustreifen, hat sich die Baader-Meinhof-Gruppe untereinander eines politisierten Gossen-Jargons bedient. Das macht die Briefe schwer zu lesen. Die Texte aus dem Gefängnis sind sogenannte Kassiber, d.h. geheime oder kodierte Mitteilungen, was ihnen sprachlich gesehen eine modernistisch-lyrische, geraffte Qualität verleiht. Aus ihrem Kontext genommen und für das Theater aufbereitet können diese Texte ungeheuer wirkungsvoll sein. Besonders das "Projekt RAF" der Berliner Ensemble (1997) veranschaulicht das, indem hier ein "Slam-Poetry" oder RAF-rap entsteht, die/die allein von zwei Schlagzeugern begleitet wird.

Der Reiz dieser Texte besteht selbstverständlich auch darin, dass die RAF gewissermaßen ein Tabu ist. Die RAF-Briefsammlung wurde bei der Erscheinung im Jahre 1987 von den deutschen Staatsschutzbehörden verdächtigt, Werbung für eine terroristischen Vereinigung zu sein und als solche sofort verboten. 3000 Exemplare wurden beschlagnahmt, während Verlage, Setzereien und Auslieferungsstellen des Buchs durchsucht wurden.

Es liegt in der Natur modernistischer Kunst solche Tabus zu brechen. Das Dokumentardrama der 60er Jahre hat die ganz großen Tabus dieser Periode behandelt: Die Atombombe, Auschwitz, den Holocaust und - in dieser Verbindung - die eventuelle Mitverantwortung des Papstes. In den permissiven postmodernen 90er Jahren bietet die RAF vielleicht eine dieser letzten Möglichkeiten zu einem echten Tabubruch an. Nicht von ungefähr gehört gerade das Regietheater heute zu den wenigen Kunstformen, die sich allen Ernstes mit einer gewissen Aura der Avantgarde umgeben.

Als Avantgarde ist man schon irgendwie mit der RAF verwandt. In den hier erwähnten Stücken fungiert die Dekonstruktion der RAF weitgehend als eine Art Trauerarbeit der Avantgarde. Walter Benjamin hat von "linker Melancholie" gesprochen. Die scheint hier am Werk zu sein, wenn die heutige ästhetische Avantgarde versucht, dem Publikum eine ehemalige politische Avantgarde erfahrbar zu machen.

2. Eine zweite Tendenz der Bearbeitung dieses Stoffes habe ich Personalisierung genannt. Man bewältigt das Phänomen RAF von innen, aus der Perspektive eines einzigen Mitgliedes, dessen persönliche Tragödie oft als Prisma der politischen Lebensfragen einer ganzen Generation dient. Es geht deswegen kaum um die RAF als Gruppe, sondern um den Einzelnen und seine Entwicklung, um Ulrike Meinhof, um Gudrun Ennslin, um Holger Meins, Andreas Baader oder sogar auch um den höchst lebendigen Horst Mahler. Den Menschen hinter dem Terroristen zu suchen, heißt in diesem Zusammenhang - und das mag auf der Bühne paradoxal erscheinen -, dass man den Schauspieler hinter dem revolutionären Rollenträger in Fokus rückt, dass man die Selbstinszenierung der RAF, ihre bewußt aufgestellte politische Ikonographie zu durchbrechen versucht.

Es liegt auf der Hand, dass dies eine fast unlösbare Aufgabe darstellt, denn wenn eines der RAF tatsächlich gelungen ist, scheint es eben ihre gezielte Mythenbildung zu sein, die sogenannte "Produktion von Märtyrern", wie es in ihrem Jargon heißt. Daraus haben die jüngsten RAF-Inszenierungen scheinbar die Konsequenzen gezogen: sie stellen nicht die Festigkeit der Mythen in Frage, sondern sie spielen mit ihr: In Stücken wie "Heißer Herbst", "Baader, Remix 95" und "Don't look now II" werden diese Ikonen mit ihrer teils nostalgischen, teils provokanten Magie aufs Neue als dramaturgische Ressourcen auf der Bühne eingesetzt.

Ich sehe aber einige sehr problematische Aspekte einer solchen unreflektierten Adaption dieses Stoffes. Terrorismus ist - wie es aus dem ersten Teil des Artikels hervorgehen sollte - im Ausgangspunkt inszenierter Terror, d.h. Terror ohne den Bezug zum reellen Schmerz. Ein Regisseur, der in seiner Handhabe des RAF-Materials bei dieser Selbstinszenierung stehen bleibt, läuft selber Gefahr, die grundlegende Unmenschlichkeit der Terroristen zu wiederholen, indem er - bewußt oder unbewußt - die terroristische Verleugnung der Realität des Schmerzes reproduziert. Doch dieser Schmerz kann und darf nie zum bloßen Zeichen reduziert werden.

Insgesamt bewirken die hier erwähnten Tendenzen, Dekonstruktion und Personalisierung, dass ein ursprünglich hochpolitisches Thema, die bewaffnete Revolution in den westlichen Industriestaaten, im Großen und Ganzen entpolitisiert wird. Die Geschichte der RAF erscheint als Lehrstück ohne Lehre. Statt einer politischen Archäologie wird eine Archäologie des Politischen betrieben. Das entspricht einer generellen Tendenz im heutigen postdramatischen Theater: Statt Politik auf der Bühne wird heute ein politisch grundierter Stoff bearbeitet. Die "Linke Melancholie", von der Walter Benjamin sprach, und die man in den meisten Fällen als Triebkraft hinter der Beschäftigung mit diesem Stoff vermuten darf, ist nicht selten zu Zynismus und politischer Illusionslosigkeit mutiert: Ohne Zweifel spürt man da den Einfluß Heiner Müllers auf das deutsche Regietheater dieser Periode. Ich schließe mit einem kuriosen Zitat von ihm aus dem Jahr 1977. Mit seiner klammheimlichen, anti-humanistischen Bewunderung für die nackte Tatkraft nimmt das Zitat etwas von der im vorigen beschriebenen Entwicklung vorweg. Es lautet: "Der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor, der MolotowCocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis".(15)

© Henrik Pedersen (Oslo)

TRANSINST        table of contents: No.9


Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde auf Wunsch des Autors am 17.7.2002 in einem Detail inhaltlich verändert. Die Fassung des Beitrages zum Datum der Erstpublikation in TRANS (März 2001) befindet sich im Archiv des INST.


Anmerkungen

Literatur

(1) Zitat aus dem Programmheft PROJEKT RAF, Berliner Ensemble 1997.

(2) Vgl. u.a. Weimann et al. "The Theater of Terror", Kubiak: "Stages of Terror".

(3) Arthur J. Sabatini: "Terrorismus und Performance", in: Kunstforum International, nr. 117 (1992) S. 147.

(4) Wenn im deutschen Kontext die Rede von Performance ist, darf Joseph Beuys, Inbegriff des modernen Aktionskünstlers, nicht unerwähnt bleiben. Beuys hat immer wieder den tätigen Mensch als Kunstwerk an sich propagiert. 1977 präsentiert er auf der Documenta-Ausstellung eine Installation mit dem Titel "Dürer, ich führe persönlich Baader und Meinhof durch die documenta V". Das Werk war eindeutig als kollegiale Solidaritätskundgebung zu verstehen.

(5) Man stellte sich als Publikum ein nicht-intellektuelles Proletariat, eine unterdrückte revolutionäre Masse vor. Stilistisch gesehen sind die Strategiepapiere traktathaft, theoretisch überfrachtet, phrasenhaft, unverständlich und voll Avantgarde-Arroganz. Joanne Wright (Terrorist Propaganda, London 1995, S. 77ff) stellt fest, dass die Propaganda der RAF misslungen ist in bezug auf zwei Adressengruppen: die 'unbeteiligt-gleichgültigen' und die 'sympatisierenden', nur die 'aktiv-beteiligten' wurden erfolgreich erreicht. Rolf Bachem ("Sprache der Terroristen. Analyse eines offenen Briefes", in: Der Deutschunterricht 30/V, S.61-79) spricht von einer "Sprachbarriere" zwischen RAF-Bekennerbrief zum Buback-Mord und den Verstehenserwartungen eines bürgerlichen Durchschnittslesers.

(6) Wer diesen eigenartigen Text liest, in dem die RAF zum ersten Mal Selbstkritik übt, gewinnt einen faszinierenden Einblick in die kommunikative Intimsphäre zwischen einer selbsternannten revolutionären Terror-Truppe und deren Publikum.

(7) Das Dokumentardrama, das Anfang der 60er Jahre eine neue Form der geschichtlichen Gesellschaftskritik auf die Bühne bringt, war schon ein Anrennen gegen die Grenzen des bürgerlichen Theater, aber man blieb im Rahmen des Institutionellen. Ende der 60er Jahre wird in Stücken von Peter Weiss, Rolf Hochhuth, Tankred Dorst und Günter Grass die Frage nach der Legitimität revolutionärer Gewalt diskutiert. Als Fortsetzung dieser Politisierung versuchen immer mehr Revolutionäre die institutionellen Schranken der Literatur- und Kunstformen zu überwinden, um dadurch ein neues Publikum für die revolutionäre Botschaft zu gewinnen. Das Theater begibt sich auf die Straße und wird Anti-Theater.

(8) Die Frage, ob ein Happening eine künstlerische Äußerung oder eine kriminelle Handlung ist, ist oft ungeheuer schwierig zu entscheiden. Und dennoch werden die beiden gemeinhin als Gegensätze empfunden: Wenn etwas Kunst ist, kann es kein Verbrechen sein - und vice versa. Ein interessantes Beispiel liefert der Prozeß in Berlin gegen die "Kommune 1", die wegen ihrer schon erwähnten Broschüre "burn ware-house, burn!" der Anstiftung zum Brand angeklagt wurde. Nicht von ungefähr brauchte es einen Peter Szondi, Literaturprofessor und Theoretiker des deutschen Dramas, um das Kollektiv von dieser Anklage freizusprechen. Vor dem Richter gelang es Szondi, den Text zu neutralisieren, indem er die Broschüre als Beispiel der literarischen Gattung Satire interpretierte.

(9) Vgl. Briegleb, S. 28.

(10) Aust, S. 26.

(11) Vgl. Elias, S. 434.

(12) Siehe: http://www.inst.at/trans/9Nr/arntzen9.htm

(13) Wer die bizarre Geschichte Horst Mahlers nicht kennt, braucht nur zu wissen, dass dieser ehemalige Mitbegründer der RAF, der 10 Jahre im Gefängnis gesessen hat, inzwischen zu einem Rechtsradikalen mutiert ist, der bei den Wahlen für die NPD, die Nationale Partei Deutschlands, Werbung macht.

(14) Bakker Shut, Pieter H. (Hrsg.): "das info, aus der diskussion 73-77, briefe der gefangenen aus der raf", Kiel 1987.

(15) Heiner Müller: "Verabschiedung des Lehrstücks", S. 40.

Literatur:

Aust, Stefan: Der Baader Meinhof Komplex, erw. und aktualisierte Ausg., Hamburg 1997 (1985).

Bakker Shut, Pieter H. (Hrsg.): "das info, aus der diskussion 73-77, briefe der gefangenen aus der raf", Kiel 1987.

Briegleb, Klaus: Literatur in der Revolte - Revolte in der Literatur, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jhr. bis zur Gegenwart, Bd. 12 Gegenwartsliteratur seit 1968, Hrsg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, München 1992, S. 21-72.

Elias, Norbert: Der bundesdeutsche Terrorismus - Ausdruck eines sozialen Generationskonflikts, in: Studien über die Deutschen, Frankfurt a.M. 1989, S. 300-389.

Kubiak, Anthony: Stages of Terror: Terrorism, Ideology, and Coercion as Theater History, Bloomington 1991.

Müller, Heiner: "Verabschiedung des Lehrstücks", in: Heiner Müller Material: Texte und Kommentare, hrsg. von Frank Hörnigk, Göttingen 1989.

Musolff, Andreas: Krieg gegen die Öffentlichkeit: Terrorismus und politischer Sprachgebrauch, Opladen 1996.

Peters, Butz: RAF: Terrrorismus in Deutschland, Stuttgart 1991.

Sabatini, Arthur J.: Terrorismus und Performance, in: Kunstforum International, nr. 117 (1992) s.147-151.

Theweleit, Klaus: Ghosts. Drei Leicht inkorrekte Vorträge, Fr.a.M 1998.

Weimann, Gabriel und Conrad Winn: The Theater of Terror: Mass Media and International Terrorism, New York 1994.

Im Internet:

Arntzen, Knut Ove: Ambient Theatre and Clubbing. Urban Post-Mainstream. [2001] In: TRANS Nr.9/2000ff - WWW: http://www.inst.at/trans/9Nr/arntzen9.htm

Aufruf zur Freilassung der letzten Gefangenen aus der RAF. Eine Erklärung zum 9. November 1999. [http://www.volksbuehne-ost.de/ROST/rost.html]

Auflösungserklärung der RAF, veröffentlicht am 20. April 1998.
[http://www.volksbuehne-ost.de/KOST/OSTKOST/Damonen/Auflosung/auflosung.html]


TRANS     Webmeisterin: Angelika Czipin     last change: 18.07.2002     INST