Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Mai 2002

Wechselbeziehungen zwischen Vielsprachigkeit und Transnationalität

Fulvio Tomizza und Alain Bosquet

Gertrude Durusoy (Izmir)
[BIO]

 

In diesem Beitrag beabsichtige ich nicht, theoretische Erwägungen zu den immer aktueller werdenden Begriffe Vielsprachigkeit und Transnationalität zu bringen, denn im Laufe der Konferenz wird es in unserer Sektion öfters der Fall sein. Deshalb habe ich vor, ganz konkret einen Blick auf und in die Literatur des ausgehenden 20.Jahrhunderts bzw. auf die letzten fünfundzwanzig Jahre zu werfen und - im zeitlichen Rahmen eines Referats - nur zwei Werke herauszugreifen, die das Vielsprachige sowie das Transnationale dem Anschein nach "spontan" eingesetzt haben. Es handelt sich dabei um Romane aus zwei verschiedenen Ländern. Zufällig sind sie ziemlich gleichzeitig entstanden, denn Fulvio Tomizzas La miglior vita erschien 1977 in Italien und Alain Bosquets Une mère russe 1978 in Frankreich. Die Zitate aus den Romanen werden jeweils in der Originalsprache angeführt, denn auch die Wissenschaftler sollten meiner Meinung nach in einem gewissen Ausmaß die Vielsprachigkeit anwenden, wenn sie schon die Schriftsteller in ihr Werk einbauen.

Warum diese beiden Autoren und nicht andere aus der europäischen Literaturszene? Nach langem Forschen schienen mir Fulvio Tomizza und Alain Bosquet deshalb geeignet, weil der eine das Istrien seiner Kindheit und Jugend, dessen geographische Namen heutzutage auf drei Länder (Slowenien, Kroatien, Italien) verteilt sind, in vielen seiner Romane zum eigentlichen Stoff des Werkes ausgebaut hat und der andere vom gebürtigen Odessa in die weite Welt bis San Francisco herumgereist ist und mindestens fünf Sprachen beherrschte, die es ihm ermöglichten, transnational zu handeln und zu schreiben.

Sehr kurz möchte ich das Schaffen der beiden zeitgenössischen Autoren skizzieren, bevor ich die oben erwähnten Romane in Bezug auf die Wechselbeziehungen von Vielsprachigkeit und Transnationalität untersuche. Fulvio Tomizza (1935-1999), gebürtig aus einem Dorf bei Materada in Istrien, zieht 1955 nach Triest, das italienisch blieb. Seine istrische Trilogie Materada (1960), La ragazza di Petroira (1963) und Il bosco di caccia (1966) bedeutete ihm Durchbruch und literarische Preise. Dem Leser wird die Problematik der Entwurzelung von Bevölkerungen geboten, die ihre Heimat verlassen und in das Nachbarland auswandern müssen. Dabei wird das Anderssein, das mehr oder weniger friedliche Zusammenleben geschildert. Seine zweite Trilogie, bestehend aus La quinta stagione (1965), L'albero dei sogni (1967) und La città di Miriam (1972), behandelt die Entwurzelung des Hauptprotagonisten mit seinen inneren Konflikten, die auf die Spannungen eines Lebens zwischen zwei Kulturen zurückzuführen sind. Der hier untersuchte und 1977 erschienene Roman La miglior vita brachte dem Autor im selben Jahr den Strega Preis und zwei Jahre später den in Oesterreich vergebenen Europäischen Preis für Literatur. Die zwei letzten, La visitatrice und La casa col mandorlo, unter den dreissig Romanen Tomizzas sind im Jahre 2000 posthum erschienen.

Wenden wir uns nun kurz auch Alain Bosquet (1919-1998) zu. Als französischer Lyriker und Romancier bekannt, hieß er eigentlich Anatole Bisk. Sein Vater stammte aus einer elsässisch-belgischen Familie, die sich im 19.Jahrhundert in der Ukraine anlässlich des Eisenbahnbaus niederließ. Er wurde Industrieller und war ein anerkannter Lyriker, dem man die erste russische Uebersetzung von Rilkes Lyrik zu verdanken hat. Zu den Sprachkenntnissen des Vaters schreibt Bosquet in Une mère russe (1) wie folgt: "Mon père, outre le russe et le français, avait appris plusieurs langues: l'allemand, l'italien, le norvégien; il avait commis l'erreur de dédaigner l'anglais, qu'il considérait comme vil et bon pour les marchandages..." (p.230.) Seine Mutter, die Heldin des hier untersuchten Romans Une mère russe stammt aus Odessa, wo ihr Vater Pelzhändler war. Alain Bosquet, der mit seinen Eltern erst im bulgarischen, dann belgischen und französischen Exil gelebt hatte, diente 1940 in der belgischen, dann in der französischen und als seine Eltern endgültig in die USA auswanderten 1942 in der amerikanischen Armee; 1944 wird er nach London, dann von 1945-1948 nach Berlin als Beamte des Kontrollrates der Allierten geschickt.(2) In der Biographie Bosquets lässt sich feststellen, wie Vielsprachigkeit zu Transnationalität geführt hat. Sein Kommentar zum eigenen Lebenslauf ist in dieser Hinsicht aufschlussreich:

Naître en Russie, grandir en Belgique, fuir aux Etats-Unis, apprendre la paix en Allemagne, vivre en France: cela ne fait pas sérieux. Tour à tour j'en ai honte et me dis que cela peut avoir autant d'importance qu'une virgule dans un poème; pas plus.(3)

Seit 1951 bis zu seinem Tode 1998 lebte er in Paris; die französische Staatsangehörigkeit erwarb er sehr spät, 1980. Unter seinen Romanen sind besonders folgende hervorzuheben: La grande éclipse (1952), La confession mexicaine (1965), L'amour à deux têtes (1970), Une mère russe (1978), mit dem er im selben Jahr den Grand Prix du Roman de l'Académie Française erhielt, Lettre à mon père qui aurait eu cent ans (1987) und Le métier d'otage (1990) u.a. Hier wollen wir nicht die vielen Lyrikbände erwähnen, die ihn weltberühmt gemacht haben, aber wir müssen betonen, dass Alain Bosquet es gewesen ist, der 1996 in Luxembourg die Académie Européenne de Poésie gegründet hatte.

Textimmanent wollen wir uns nun der Problematik der Vielsprachigkeit und ihrer Beziehung zur Transnationalität zuwenden. La miglior vita (4) ist ein Roman, der mit dem 20. Jahrhundert mitgelebt hat und zwar aus der Perspektive des Erzählers, der der kroatische Küster der einzigen Pfarrei in einem Dorf Istriens ist. Denn die Ereignisse strecken sich seit dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie über eine italienische Zugehörigkeit der Gemeinde und ihre endgültige Abgabe an Jugoslawien 1955 bis kurz vor dem Tode des Martin Crusich, 1975. Tomizza selbst, der in dieser geographischen und kulturellen Landschaft aufwuchs, betrachtet diese Tatsache als eine Bereicherung aber im Roman zeigt er auch wie die Einwirkung der Politik zum Teil Keime der kulturellen Intoleranz mit sich bringt. Die Zwei- bzw. Vielsprachigkeit auf dem geographischen Raum Istrien bleibt kein Sprachproblem, sie führt zu einer Identitätsfrage besonders in dem Augenblick, wo erst Trieste und Italien, dann Tito im Namen Jugoslawiens auf das Gebiet Anspruch erheben. Dieser Roman kann schon mit seinem Motto auf der ersten Seite "Ciò che ho visto e vissuto" als ein Zeugnis der Zeitgeschichte betrachtet werden, "Una testimonianza", wie es zwanzig Jahre später Antonio Tabucchi als Untertitel seines Romans Sostiene Pereira im Zusammenhang mit der Salazarzeit angibt.(5)

Ein Satz wie : "'Digli che l'ho confessata la settimana scorsa'", tuonò Don Kuzma nelle loro lingua polacca..." (S.21) bezeugt nicht nur, dass der Pfarrer Pole ist, sondern dass es polnische Dörfler gibt, die für die im Sterben liegende Mutter den Priester holen wollten. Derselbe Pfarrer bemüht sich mit Spenden einen Kirchturm errichten zu lassen, und sprachlich ist der Niederschlag während der zur Arbeit auffordernden Predigt äußerst relevant; es heißt im Text: "In una lingua che compendiava ogni idioma slavo parlato nell'Impero, furono chiamati dall'altare..." (S.24). Sein Nachfolger, Don Michele Ribari, (eigentlich Ribarich, S.35) war Kroate; er war viel mehr um die Sünden des Fleisches als um die ihn umgebende multikulturelle Gesellschaft besorgt. Dadurch widmet ihm der Erzähler im Roman wenig Achtung und konzentrierrt sich ausführlicher auf den nächsten jungen kroatischen Pfarrer, Don Stipe. Der Küster bewundert sofort seine Sprache: "La voce si levò sommessa nel croato più limpido che avessi udito [:..]" (S.42) noch bevor er ihn auch als Mensch und Priester schätzt, was er folgenderweise ausdrückt: "[...] una speranza, prosperata sulle delusioni ancora indecise a pronunciarsi, che questo fosse come mi ero immaginato dovessero essere i sacerdoti."(S.44.)

Das Neue bei Don Stipe ist seine Aufmerksamkeit für die Vergangenheit des Dorfes. Schon am ersten Morgen ist er mit der ersten Stufe am Eingang des Pfarrhauses begeistert; er kann es kaum fassen: "È una pietra tombale dei contadini croati del millecinquecento." (S.42.) Die Inschrift auf einem Grabstein in der Kirche bedeutet ihm sehr viel, seine Freude kennt keine Grenzen: "'Caccia grossa' [ein guter Fang] mi salutò alzandosi; 'un glagolitico assai interessante, che mi servirà per la tesi di laurea [...] vi lesse la data 1524'" (S.24). Später erklärt er dem Küster, dass er an einer Dissertation über die slawische Liturgie in Istrien (S.52) arbeitet. Damit erfährt der damals noch junge Martin Crusich, dass sein Dorf über eine uralte Geschichte verfügt:

Ora apprendevo che sempre sotto il dominio della repubblica veneta preesisteva una piccola communità, probabilmente distrutta con la peste del 1630, dotata da una propria cappella retta da un prete illirico che usava il glagolitico, la prima scrittura slava portata da San Metodio in Moravia e tramandata dai discepoli fuggiti dopo la sua morte alcuni in Bulgaria, altri nell'Istria e in Dalmazia.(S.45.)

Neben den Orts- und Personennamen (u.a.Petohlèb, S.49) in mehrsprachiger Form - italienisch und jeweils in einer slawischen hauptsächlich kroatischen Form -, kommen in diesem italienischen Roman nicht nur slawische Begriffe, so z.B. "Tata!" (S.82) (Vater) oder "Màliza", (die Kleine), sondern manchmal ganze slawische Satzteile vor (S.199).

Don Stipe ist nicht nur Pfarrer, er wirbt auch für Kroatien und das Slawische; er appelliert an die Identität seiner Gemeinde und verlangt Selbstbewusstsein. Es heisst:

Con la gente in strada e nelle case il discorso era più espicito: "Voi Coslovich siete croati di Cépici, ce ne sono altre famiglie lassù. Voi Giurissevich, voi Jugovaz, non vi dice niente il vostro cognome?"(S.67.)

Mit den Italienern aus seiner Gemeinde ist er viel milder: "Agli altri, i Benvegnù, i Bassanese, i Fabris, dal cognome dichiaratamente italiano, rivolgeva tutta la bontà, l'umiltà e la schiettezza di un prete missionario" (S.68). Unter der Feder des Küsters steht eine Bewertung des Pfarrers, die eigentlich Tomizzas Anschauung zu reflektieren scheint:

Egli si dimostrava rispettoso dell'autorità austriaca, che gli permetteva di manifestare le proprie idee e di condurre la propria battaglia politica, così come era ligio alla gerarchia ecclesiastica che tutelava la sua funzione sacerdotale: i suoi veri avversari restavano gli italiani che miravano allo stesso riscatto nazionale in una zona di confine dove ogni conquesta di una delle due parti avverrà sempre a detrimento dell'altra. (S.69/70.)

Bemerkenswert für den kulturellen Kontext der Zeit ist die Deutung des Adjektivs "talján" , regional slawische Ausprache für "italienisch". Fulvio Tomizza teilt uns die Eigenschaft genau mit: "L' aggettivo "talján" venne a riunire in sé una catena di significanti spesso contrastanti [...], indicava sopratutto un volersi elevare a tutti i costi dalla melma della parocchia per potersi accostare, non già misurare, ai signori dell'odiata cittadina." (S.69.) Hier ist die gesellschaftlich höhere Stellung des Italienischen herauszuhören. Nicht sehr verschieden war es beim tschechischen Juden H. Kafka, der in der deutschen Sprache ein Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg sowohl für sich wie auch für die Zukunft seines Sohnes Franz sah , den er in das deutschsprachige Gymnasium Prags schickt.

In Tomizzas Roman begegnet der Leser sogar in keiner Sprache vorhandene Wörter, die aber den Alltag Istriens widerspiegeln; dadurch dass es sich um linguistische Missbildungen handelt, erklärt sie der Autor ohne weiteres seinem italienischen Leser in einer Fussnote, wie es der Fall mit folgendem Aufforderung im Imperativ ist, als der Neffe des nun alt gewordenen Küsters ihn ermuntern will, in die Pfarre umzuziehen, wo das Dach fest ist: "Dài, barba Martin, scominziòjmo!" (S.282) und in der Fußnote die linguistisch wissenschaftliche Erklärung: "'Cominciamo.' Tipica contaminazione tra croato e italiano." (S.282.) Es heißt in der slawischen Färbung nicht nur :Fangen wir an! sondern Lass uns anfangen! Das Präfix "s" zeigt, dass es sich um ein perfektives Verb mit einer Futurbedeutung handelt. Wie Tomizza in einer anderen Fußnote erklärt hatte, ist "barba" das venezianische Wort für "zio", der Onkel und wird bei der Anrede älterer Herren als Ausdruck der Ehrfurcht verwendet und zwar im kroatischen Kontext nicht nur in Istrien sondern bis in Dalmatien (S.42, Fußnote 1). Bemerkenswert ist, dass dieses Wort seinen Weg bis nach Anatolien gefunden hat, wo es im Griechischen heute auch noch mit demselben semantischen Gehalt vorkommt.

Von der deutschen Sprache ist auch öfters im Roman die Rede, ihre Vertreter sind der Wirt Gabriele Pàvlovich, der in Wien während seines Militärdienstes zum Krankenpfleger ausgebildet wurde, und Don Stipe, der dort an der Universität seinen Doktortitel bekommt. Sie benutzen untereinander diese Sprache nur, wenn sie von der Umgebung nicht verstanden werden wollen: "Dopo aver visitato il bambino, parlarono fitto in tedesco, Gabriele assentivo il capo..."(S.95).

Tomizza nimmt auch äußere Ereignisse wahr, wie das Erdbeben von Tetovo, um mit der Ankunft von Flüchtlingen nach Istrien das multikulturelle bzw. pluriethnische Zusammenleben des Dorfes darzustellen. Hier kommt der Religionsunterschied hinzu und durch ansässig werdende Familie des Seher wird der Küster mit anderen Formen des Gottesdienstes konfrontiert. Als im Text auf Italienisch das Wort "giamie" (S.237) vorkommt, gibt der Autor in der Fußnote die richtige slawische Graphie des Wortes an "dzamije". Im Roman gibt es auch eine rhetorische Ausdrucksweise, um dem Leser den Kontext der Muselmane in Jugoslawien klarzumachen. Es heißt:

Capii che erano musulmani [...] ricorsi alle mie nozioni di storia per riconoscere in loro i nostri antichi fratelli non sfuggiti all'avanzata turca ma rimasti, come di ricente era avvenuto coi più poveri di noi, nella loro terra. (S.235.)

Betrachtet man Une mère russe von Alain Bosquet, so merkt man, dass der Autor den Roman nach dem Tod seiner Mutter ansetzt und durch Rückblenden ihr ganzes Leben nach ihrer Heirat mit Alexandre Bisk schildert. Da der Autor der Sohn ist, hat man öfter den Eindruck, dass er eigentlich eine Autobiographie schreibt. Er selbst erkennt es etwa in der Mitte des Romans, indem er sagt: "Sans cesse, j'apporte à ton portrait des retouches qui, de page en page, s'enrichissent d'un relief imprévu, ou s'effacent dans le jeu des approximations anémiques: c'est mon autoportrait que j'élabore." (S.173.)

Tatsächlich erkennt man in diesem Roman auch durch die Verhältnisse innerhalb der Familie eine kulturelle Bewegung vom Osten nach dem Westen Europas. Als Großbürger verlassen die Bisk die Ukraine und warten einige Jahre in Bulgarien mit der Hoffnung, in die Heimat wieder zurückkehren zu können, was ihnen 1924 aussichtslos erscheint. Im Roman sind äußere Ereignisse und Privatleben dauernd sehr stark verwoben; die Mutter ist es, die der Zukunft eine Richtung weist:

Mon père parle de second exil: nous avons quitté la Russie peu après ma naissance, et maintenant, voici qu'on m'éloigne de la Bulgarie qui, après tout, a été hospitalière. Tu réponds avec vivacité: "Il faut, il faut... l'Europe occidentale, c'est là qu'il sera un homme." (S.15/16.)

Und die Mutter habe 1924 ihrem fünfjährigen Sohn gesagt: "Tu verras, grand-père va t'apprendre très vite à écrire. Il faut que tu oublies le russe. La grande langue, c'est le français." (S.16.) Heutzutage würde man nicht so drastisch verfahren, die eine Sprache vergessen, um die neue aufzunehmen! Das Leben in Belgien wird die Familie und das heranwachsende Kind vollständig in das Französische eintauchen und die Bewunderung der Mutter für die französische Kultur und Sprache wird sich im Sohn verwirklichen, da er sich in dieser Kultur und Sprache "zu Hause" fühlt, trotz der Kenntnisse anderer Kulturen und Sprachen, wie oben schon erwähnt. Was also in Une mère russe zum Vorschein tritt, ist das Zusammenleben verschiedener kulturellen Identitäten innerhalb eines und desselben Menschen, des Erzählers alias Bosquet selbst. Seine vielsprachige Existenz ermöglichte ihm den transnationalen Zugang zum Anderssein, obwohl er sich literarisch im Französischen verwurzelt.

Die im Hause Bisk vorhandene Vielsprachigkeit führt auch zu Sprachspielen, wie uns der Erzähler in einem typischen Beispiel vorführt. Mutter und Sohn unterhalten sich während der Brüsseler Jahre:

- Tu te rappelles, quand on inventait des ots qui désespéraient ton père?
- Gladivadzisse et partadèze.
- Coustoupoufoum balacolasse stravidom.
- Mistim falatita.
- Stidirimik varakimil.
- C'est du turc du VIIIe siècle.
- Non du grec d'Irlande.
- Du martien, au subjonctif.
- Tu vois, nous sommes d'accord. Nous ne pouvons pas nous disputer. (S.29.)

Der kulturelle Konflikt entsteht trrotzdem, da die Mutter den Sohn nach westlichem Modell ausgebildet haben will, mit Altgriechisch und Latein im Gymnasium. Dann sagt sie mit Bedauern:

- Tu es si peu slave, mon chéri! Tchaïkovski, si tu savais! C'est bien simple, tu ne me comprendras tout à fait que si tu le comprends. Il y a chez lui toute la délicatesse, tout le désespoir de l'âme de chez nous.
- Tu veux dire la sotte sentimentalité, et l'abamdon le plus vulgaire. [...]
- Toi et ton Hannibal, qui était un raté!
- Faire trembler le monde civilisé, être à deux doigts de le conquérir, et soudain s'effondrer, c'est de la grandeur.
- Je ne sais pas mon garçon. Les temps changent et avec eux les goûts. (S.35.)

Der zweite Weltkrieg hat den Erzähler in viele Gebiete verschlagen: "J'ai porté trois uniformes depuis le 10 mai 1940" (S.47) und da er sich bei Kriegsende in Berlin als Amerikaner befindet, sagt er in einen Brief an die Eltern:

... les hommes sur place seront avantagés; il s'agit en somme d'administrer l'Allemagne et de lui apprendre la démocratie. On m'offre un bon salaire, et un métier qui ne me déplaît pas: officier de liaison etre les quatre puissances occupantes. (S.47.)

Bosquet schildert wie selbstverständlich - dank seiner Vielsprachigkeit - diese Teilnahme am Geschehen seiner Zeit auf internationaler Ebene und ist sich bewusst, dass seine Kenntnisse der russischen Sprache aus der Kindheit jetzt gründlicher sein müssen: "Sur le plan pratique, je devrai prendre des leçons de russe: sauf avec maman à la maison, je ne l'ai jamais bien parlé. Et je ferai aussi des progrès en allemand."(S.48.) Das Vergangene und das Gegenwärtige wechseln sich in Bosquets Roman ab, wo das ungewöhnliche Schicksal einer dreiköpfigen Familie in ihrem Zug über Grenzen jeder Art (kulturell, sprachlich, geographisch, politisch) dargestellt wird.

Versuchen wir nun zum Schluss zu analysieren, was Tomizzas und Bosquets Romane Gemeinsames haben. In beiden Werken geht es um die Darstellung der Zeitgeschichte in derselben Zeitspanne: bei Tomiza aus der lebenslangen Perspektive eines Küsters in einem abgelegenen Dorf Istriens, bei Bosquet aus derjenigen eines Sohnes nach dem Tode der Mutter.

Die Einheit des Raumes bei Tomizza ist durch den Niederschlag der Politik auf eine bestimmte Bevölkerung eines geographischen Gebiets gekennzeichnet, Bosquet dagegen verlagert die Handlung in alle geographischen Orte, wo Mutter oder Sohn gelebt haben: Odessa, Lom Palanka, Sofia, Brüssel, Ostende, Montpellier, San Francisco, die Normandie, London, Berlin, New York, Boston, Paris, Sézanne (Marne) und zuletzt Paris.

Während Tomizza in seinem Roman das Schicksal einer Dorfgemeinschaft darstellt, die wegen ihrer Vielsprachigkeit dann politisch in zwei verschiedene Nationen (Italien und Jugoslawien) aufgesplittert wird, schildert Bosquet das Schicksal einer "russischen Mutter" in der Fremde, die durch ihre Vielsprachigkeit am eigenen Leibe die Transnationalität erlebte.

Fulvio Tomizza war bemüht, die Ereignisse (beide Weltkriege, den Faschismus, Titos Regierung u.a.) in ihrer Chronologie aufzustellen, während Alain Bosquet - genau so wie das Gedächtnis Sprünge in der Zeit macht - die Schilderung der Ereignisse (Revolution in Russland, beide Weltkriege, die Résistance, die Besatzung Deutschlands durch die Alliierten u.a.) ohne die geringste Reihenfolge darstellt.

So wie bei Fulvio Tomizza die Namen (Orts- und Personennamen) slawisch und italienisch vorkommen, gilt die Tatsache auch bei Bosquet, wo man hauptsächlich französische, slawische, deutsche Personen- und Ortsnamen vorfindet.

Dort wo bei Tomizza der Erzähler Martin Crusich nur einem einzigen Sohn hat, der sich noch als Gymnasiast den Partisanen Titos anschliesst und in einem Kampf ums Leben kommt, ist bei Bosquet der Erzähler der einzige Sohn der russischen Mutter. Seine vielsprachige und transnationale Herkunft ist nicht ohne Einfluss auf sein Werden gewesen. Rückblickend schreibt er, wie er im Alter von dreiunddreißig Jahren dastand:

[...] déchiré entre plusieurs nationalités, russe et belge de naissance, bulgare par mes premières années, américain de fortune, allemand par une maturité hâtive que j'avais acquise à Berlin, j'aspirais à me donner des racines plus stables, et pour l'instant, je me persuadais que la littérature française était ma seule patrie. (S.157.)

Betrachtet man beide Romane genauer, so fällt auf, dass die Hauptperson und die Umwelt zeitweise in andere Kulturen eingebettet sind, so z.B. das istrische Dorf unter dem italienischen Faschismus bei Tomizza und bei Bosquet die seit dem Exil kulturell verschiedene Umwelt im ganzen Leben der in Odessa aufgewachsenen Berthe Turiansky. Bei ihr handelt es sich um ein äußeres Exil, bei Martin Crusich gibt es Zeiten des inneren Exils. Beide erleben einen Wechsel der Nationalität, man müsste sogar von einem mehrfachen Wechsel sprechen. Für Crusich bleibt trotz des Wechsels sein Dorf seine Heimat, er ist nicht entwurzelt wie die makedonischen Flüchtlinge im Roman; bei der russischen Mutter dagegen ist die Heimat für immer verloren, sie bewegt sich und stirbt in der Fremde.

Die politischen Eingriffe des 20. Jahrhunderts lösen Konfliktsituationen im istrischen Dorf aus, besonders durch die Hervorhebung der nationalen bzw. sprachlich und kulturell bedingten Zugehörigkeit (der Bau einer kroatischen Schule wird sofort durch die Errichtung einer italienischen Schule neutralisert). Die Dorfgemeinde findet erst wieder bei dem Ausbruch einer tödlichen Epidemie zusammen. Auch bei Alain Bosquet bilden die politischen Eingriffe eine ständige Omnipräsenz, aber die eigentlichen Konflikte spielen sich in den Beziehungen Mutter-Sohn ab.

Dort wo die Religion in einer traditionellen Dorfgemeinde einen wichtigen Platz einnimmt und je nach der Persönlichkeit der im Leben des Küsters aufeinander folgenden polnischen, kroatischen und italienischen Pfarrer andere Aspekte in den Vordergrund schiebt, spielt sie in Bosquets Roman kaum eine Rolle, auch wenn sie unter verschiedenen Andeutungen vorkommt (jüdisch/christlich).

Merkwürdig ist noch, dass die Haupthelden der Werke - 1975 Martin Crusich bei Tomizza, 1977 Berthe Turiansky bei Bosquet - sterben. Es handelte sich also um alternde Hauptrollen, die am eigenen Leib die Auswirkungen der eigenen und der kollektiven Multikulturalität ohne Grenzen bei Bosquet, mit Eingrenzung bei Tomizza erlebt haben.

Obwohl La miglior vita auf das Leben nach dem Tode hinweist und damit den Eindruck einer Resignation wecken könnte, erweist sich, dass sich aber das Thema auf das Leben vor dem Tode konzentriert, wo jeder auf seine Art und Weise "das bessere Leben" anstrebt und dementsprechend handelt. Das Kroatische und das Italienische haben historisch gesehen 1955 eine Stellungnahme und eine Entscheidung der Dorfbevölkerung verlangt und dadurch das Schicksal vieler Istrier beeinflusst, indem den Leuten eine Frist gegeben wurde, entweder nach Italien auszuwandern oder zu bleiben und damit dem jugoslawischen Staat eingegliedert zu werden. Die Art von politischen Schritten lösen auf gesellschaftlicher Ebene Faktoren aus, die entweder die Vielsprachigkeit weiter fördern sowie das Transnationale und damit eine geistige Mobilität unterstützen oder die das nationale Element hervorheben, sich einkapseln und die Entfaltung sowie die Bereicherung auf kultureller Ebene bremsen. Die Krise in den ehemaligen jugoslawischen Republiken könnte vielleicht auf die vorhandene Vielsprachigkeit aufbauend und die Transnationalität fördernd kulturell einigermaßen überwunden werden. Une mère russe zeigt andererseits, dass im Individuum eine Harmonie zwischen Vielsprachigkeit und Transnationalität eine besondere Reife und ein Gleichgewicht in der Offenheit für das Andere hervorbringen kann.

© Gertrude Durusoy (Izmir)

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ANMERKUNGEN

(1) Alain Bosquet. Une mère russe. Paris, (Grasset) 1989. Die Zitate werden nach dieser Ausgabe im laufenden Text angegeben.

(2) Siehe: Alain Bosquet: Poète, romancier. In: Service du Livre Luxembourgeois. WWW: http://www.servicedulivre.be/fiches/b/bosquet.htm. Zugriff am 3.12.2001.

(3) Zitiert in Encyclopaedia universalis unter Bosquet.

(4) Fulvio Tomizza: La miglior vita. Milano (Mondadori), 1996 Nach dieser Ausgabe wird im laufenden Text zitiert.

(5) Siehe Antonio Tabucchi: Sostiene Pereira. Una testimonianza. Milano (Feltrinelli), 1997 (13.Aufl.).


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Gertrude Durusoy: Wechselbeziehungen zwischen Vielsprachigkeit und Transnationalität. Fulvio Tomizza und Alain Bosquet. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/durusoy13.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 01.05.2002     INST