Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Entartung und konventionelle Lügen. Zum Zivilisationsbegriff von Max Nordau

Hedvig Ujvári (Budapest)

 

Max Nordau (1849-1923), tätig als Arzt, Journalist und kulturkritischer Essayist, zum zweitbedeutendsten Zionisten neben Theodor Herzl aufgestiegen, mit 34 Jahren über Nacht durch seine Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit berühmt geworden, prägte dann ein Jahrzehnt später mit seiner Entartung endgültig die Geistes- und Begriffsgeschichte des Fin de siècle.

Nordaus Errungenschaft war die Verbindung seiner zwei Betätigungsfelder, denn als Mediziner unternahm er den Versuch, die zeitgenössische Kultur mit den gängigen Mitteln der Psychopathologie zu analysieren. Jedoch erwies sich seine Diagnose als ein kompletter Fehlschlag; maßgebenden bildenden Künstlern, Literaten (Baudelaire, Zola, Verlaine, Tolstoi etc.), Komponisten (Richard Wagner), Philosophen (Nietzsche) der Epoche wurde das Schaffensvermögen abgesprochen, sie wurden schlichtweg als Geisteskranke und Entartete abgestempelt. Wahrscheinlich mag dies der Grund dafür sein, warum Nordau trotz seiner ausgedehnten literarischen Produktion der Vergessenheit anheim gefallen ist. Seine Verdienste sind aber von literaturhistorischer Bedeutung, denn er gilt als Wegbereiter der modernen Kulturkritik par excellence - so ist seine Wirkung auf seine Nachfahren, u.a. auf György Lukács, offensichtlich. Angesichts des Nordauschen Oeuvres, in dem neben Prosawerken, Dramen, Briefen, medizinischen und zionistischen Schriften doch die kulturkritischen Monographien die Oberhand gewinnen, wird ersichtlich, dass es sich dabei um einen Kulturkritiker von Friedrich Nietzsches Format und einen führenden Intellektuellen Europas im Fin de siècle handelt. Nun sollen die Stationen bis zum internationalen Durchbruch anhand bislang in Buchform nur spärlich veröffentlichten Feuilletons nachgezeichnet werden.

Obwohl es kein Feuilleton ist, sondern als regulärer Artikel unter dem Titel "Ein Liebeswerk" im Pester Lloyd erschien, lässt dieser Beitrag des 21-jährigen Nordau bereits seine soziale Ader und die Keime seiner Zivilisationskritik erkennen. Er schildert einen abendlichen Spaziergang, während dessen er auf ein bettelndes, etwa vierjähriges Mädchen, aufmerksam wurde. Gleichzeitig sichtet er eine Altersgenossin, wohlernährt, pauschbackig und elegant gekleidet. Was sich in Nordaus Innerem abspielte:

Alle Abgründe des Lebens öffnen sich vor meinen Augen, der ganze Fluch der gegenwärtigen sozialen Weltordnung wird mir sichtbar. Wie ergreifend wirkt die Gegenüberstellung dieses armen und reichen Mädchens! [...] Unsere Weltanschauung gestattet uns diese Selbstberuhigung nicht; wir wissen, dieses arme bettelnde Kind ist unverschuldet zum Elend verdammt, oder wenn es eine Schuld abzubüßen hat, so ist dies - die Schuld der Gesellschaft.

Das Schicksal dieses Kindes, das ich zur Repräsentantin vieler, sehr vieler ähnlichen Existenzen gewählt habe, bildet eine häßliche Pockennarbe im sonst so schönen Antlitze der Zivilisation.(1)

Als mögliche Lösung wird Rousseaus Alternative, die Rückkehr zur Natur angedeutet, aber die Menschheit hält es für eine "tolle Phantasterei". Für Realität erscheint "das Elend durch zweckmäßges Wohlthun zu beseitigen oder doch zu lindern".(2) Das Elend auf einer Pester Straße kann nicht mit dem von London, Paris oder Berlin verglichen werden; Nordau beschreibt die ungarische Erscheinungsform dessen als "eine gemüthliche Armuth, ein gemüthliches Elend".(3) Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die große Prosperität und das große Elend" eng miteinander verknüpft sind und "die Bahnen des Fortschritts von Opfern bedeckt sind".(4) Auch aus der entgegengesetzten Richtung wird ein Beispiel geboten: Soziales Elend ist auch mit Humanität verknüpft, in Nordaus Formulierung: "die Zivilisation hat das Schwert des Achilles geerbt, das die Wunden, die es schlägt, auch wieder heilt".(5) Es wird auf die europaweit bereits ins Leben gerufene Pflege- und Erziehungsanstalten für arme Kinder hingewiesen, wo "diese armen Jerichorosen [...] von einer milder Hand wieder aufgenommen und wieder in den warmen Boden eines neuen Heims gesetzt werden".(6) Auch in Ungarn wurde schon die Initiative zur Errichtung solcher Anstalten ergriffen und Nordau erwähnt die bereits vorhandenen Häuser der Nächstenliebe, wo Kinder "von der moralischen und physischen Verderbniß" bewahrt werden können. Daran muß sich allerdings "die ganze Nation beteiligen. Jeder, der es vermag, muß sein Scherflein beitragen, und sei es noch so gering."(7)

Bei seinem Gedankengang über die Häuser der Nächstenliebe bemängelt Nordau, dass die Mädchen lediglich "zu Dienstboten herangebildet werden", wobei es in Europa weit fortschrittlicher zugeht: "Warum nicht auch den Mädchen den Segen der freien Arbeit zuwenden? In der ganzen gebildeten Welt bemüht man sich, dem weiblichen Geschlecht selbständige, ehrbare Erwerbsarten zugänglich zu machen."(8)

Dieser Gedankengang erfährt nach zwei Jahren seine Fortsetzung, denn: "Das neunzehnte Jahrhundert kämpft für die soziale Emanzipation und in diese ist auch die Emanzipation des Weibes eingeschlossen."(9) Was jedoch in Übersee bereits Realität ist, lässt in Ungarn noch auf sich warten:

Bei uns in Ungarn werden Frauen im Post- und Telegraphendienste verwendet, das Munizipialgesetz ertheilt ihnen unter gewissen Beschränkungen das Stimmrecht für die Gemeindewahlen und als im vergangenen Jahre der damalige Präsident des Abgeordnetenhauses Herr v. Somssisch sich weigerte, eine Dame als Reichstagsstenographin anzustellen, waren die Herren Várady und Karl P. Szathmáry bereit, einen heiligen Eid zu schwören, daß Somssisch ein Unterreaktionär sei und für die erhabensten Ideen der Neuzeit keinen Sinn habe.(10)

Anhand einer einschlägigen Lektüre referiert Nordau auch als angehender Arzt über die Verzweigungen dieser Problematik und macht darauf aufmerksam, dass sich unter erwerbstätigen Frauen mehr Wahnsinnige und solche mit zerstörtem Nervenleben befinden. Diejenigen können weder Gattinnen noch Mütter werden. Die Nervosität bezeichnet Nordau als "eine schreckliche Strafe, die die Natur auf das Beginnen jener Frauen gesetzt hat, die ihre Bestimmung verkannt und die Grenzen ihrer natürlichen Anlagen überschritten haben".(11) Als natürliche Bestimmung der Frau wird die Eheschließung und die Mutterschaft gesehen, deren Voraussetzung körperliche und geistige Gesundheit, also Seelenfrieden und Harmonie des Gemüts gehören.

Während der Wiener Weltausstellung 1873 befassen sich die an das Pester Organ gerichteten Beiträge unter dem Strich mit der Beschreibung der gesichteten Objekte und Personen, schildern linear die Ereignisse der Exposition sowie die Geschehnisse der Stadt Wien im behandelten Zeitraum. Beim letzten Wiener Feuilleton jedoch stößt man auf solche Passagen, die sich angesichts der Werke des reifen Nordau bereits als weitere Vorzeichen seiner Kulturkritik entpuppen. Die Kerngedanken dieser Kritik sollen in fast voller Länge wiedergegeben werden:

Während ehedem die Krankheit des Kosmopolitismus grassirte, die das Individuum heimathlos machte und seine intimsten natürlichen verwüstete, herrscht heute die nicht minder gefährliche Krankheit des engherzigsten Nationalismus. Die zivilisirtesten Völker sind auf den Standpunkt jener alten Nationen zurückgesunken, die alle fremden Völker als Barbaren haßten und verachteten [...]. Die Weltausstellung ist ein großartiger Welttrost, eine herrliche, frohe Botschaft für alle Jene, die an dem Fortschritte der Menschheit verzagen wollen. Und wahrlich, gerade in der jüngsten Zeit war solcher Trost und solches Evangelium vonnöthen. Ein tiefer Riß geht seit Jahrhunderten durch die zivilisirte Menschheit und er klafft von Tag zu Tag weiter, unüberbrückbarer auseinander [...]. Seit Jahrhunderten schreiten die Forscher gleich kühnen Truppenführern vorwärts, ohne hinter sich zu blicken; sie merken nicht, daß der Heerhaufe ihnen nicht folgt, sondern feig stehen bleibt; sie stoßen wohl ab und zu einen befeuernden Heerruf aus, aber sie sind schon zu fern von der Truppe und diese hört ihn nicht. Die Folgen dieses Zustandes sind traurig; Darwin lehrt die Abstammung aller Organismes von einem gemeinsamen Urplasma und den Kampf um's Dasein [...]. Die vergleichende Mythologie und Sprachforschung weist genau nach, wie aus dunkeln halbthierischen Vorstellungen sich traditioneller Aberglaube immer höher entwickelt hat und die Gesetzgebung der gebildetsten Nationen muß sich gleichzeitig ganz ernst mit jener Form des alten Aberglaubens beschäftigen, die man positive Religion nennt; mit Hilfe der Spektralanalyse, der natürlichen Zuchtwahl, der Krafteinheit und anderer Entdeckungen und Theorien deckt man die Naturgesetze auf, welche den Kosmos bilden und erhalten und gleichzeitig kann eine alt- und neukatholische Bewegung entstehen! [...]

Wenn man so trüber Gedanken voll die Weltausstellung durchwanderte, so gelangte man sofort zur frohen Ueberzeugung, daß mindestens der materielle Fortschritt ein extensiv und intensiv ungeheurer sei. [...] nun ist aber der Mensch eine neugierige und gelehrige Bestie; er kann doch nicht lange aus Flinten schießen, ohne zu fragen, was da blitzt und kracht, [...] die Erwartung ist berechtigt, daß der technische, der materielle Fortschritt den geistigen gleichsam an den Haaren nach sich schleppen werde, daß die angewandten Naturwissenschaften auch bei den Massen die Kenntniß der Naturgesetze verbreiten, daß die zurückgebliebene Menge [...] die weit vorangeeilten, vereinsamten Führer einhohlen werde.(12)

Nordau bekennt sich im Einführungskapitel der Conventionellen Lügen "Mene, Tekel, Upharsin" zu seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Der Kosmos wird als eine "Stoffmasse" aufgefasst, "welche als Attribut die Bewegung hat". Bei seiner Entstehung wird Gott keine Rolle zugeschrieben. Im Menschen wird lediglich ein Lebewesen gesehen, "welches sich ohne Unterbrechung an die Reihe der Organismen anschließt und in jeder Hinsicht von den allgemeinen Gesetzen der organischen Welt regiert wird". "Sondervorrechte", die einem "Thier- oder Pflanzen-Individuum" nicht eingeräumt werden, stehen ihm auch nicht zu. Die "Zuchtwahl", die "allen Erscheinungen der Politik wie des Gesellschaftslebens zu Grunde liegt", ist nicht nur eine Eigenschaft des Menschen, sondern auch eine der "anderen Gattungen".(13)

Was von Nordau bereits im Feuilleton als "positive Religion" bezeichnet wird, ist ein Synonym für 'positive Wissenschaft', ja für seine naturwissenschaftliche Weltanschauung. Diese kennt keine übernatürlichen Kräfte, keine transzendentalen Mächte; als legitimes Mittel gilt lediglich die Erforschung der Naturgesetze, die Empirie.(14) Als notwendige Ergänzung zum Positivismus fungiert anhand des Darwinismus die Evolutionstheorie. Diese "vermag nämlich besonders gut die Überzeugung vom zukünftigen, unendlichen Fortschritt der Menschheit mit wissenschaftlichen Mitteln zu stützen und garantieren".(15) In den Feuilletons von Nordau ist dieser Fortschrittoptimismus bereits präsent, indem er angesichts der Weltausstellung über einen extensiv und intensiv ungeheuren materiellen Fortschritt schreibt. Was er zu bemängeln hat, das ist der Rückstand der geistigen Entwicklung der Menschheit, jedoch er sieht im technischen Fortschritt - anknüpfend an das klassische Hegelsche Denksystem - den Garant für die Verbreitung der Naturgesetze und des geistigen Fortschritts in breiten Kreisen. Für den liberalen Nordau ist das die Weltanschauung, die die "Kluft zwischen dem Stand der wissenschaftlichen Aufklärung und den tatsächlichen Lebensformen, die Unbehagen erzeugt und nach Erklärung verlangt"(16), überbrücken kann.

In seinem Beitrag "Spanische Zigeuner"(17) wird die Toleranz der Spanier gepriesen, die den Zigeunern, die - analog zu Lenaus Gedicht "Die drei Zigeuner" - "Freigeister von Geburt und Philosophen aus Neigung" sind, Heimat und Zuhause boten. In der zitierten Passage, die das belegen soll, macht sich auch Heines stilistischer Einfluss mit der Aufzählung ganz unterschiedlicher Dinge in einem Satz bemerkbar:

In Spanien ist der Zigeuner nicht verachtet wie in anderen Ländern und selbst bei uns; im Gegentheil, man fühlt eine Art Wohlwollen und Wertschätzung für ihn. Der richtige Spanier ist auf seine Gitanos so stolz wie auf seine Orangenwälder, Silberminen, Maurenpaläste und Malerschulen (...). Der Zigeuner ist eigentlich der beste Typus des unverfälschten Spaniers (...).(18)

Das friedliche Zusammenleben basiert auf die weitgefächerte Anpassungsfähigkeit der Zigeuner:

Verlangten die Herren vom geheimen Gerichte, daß jeder Vorübergehende vor den Kirchthüren den Hut abziehe, so knieten die Gitanos auf die Erde nieder; verlangten Jene, daß man sich vor Prozessionen in den Staub hinkniee, so warfen sich die Gitanos der ganzen Länge nach hin und berührten mit der Stirne den Boden. Was kostete sie, in die Kirche zu gehen, wo es kühl und duftig ist, den Pfarrer ehrfurchtsvoll zu grüßen, der ihnen ab und zu eine kleine Münze oder einen Mund voll Wein einschenkte? [...](19)

Trotz dessen ist der spanische Zigeuner "kein Kriecher, er demüthigt sich nicht für den Pfennig und leckt nicht die Hand, die den Stock über ihn schwingt. Ganz im Gegentheile; er ist stolz, hochfahrend, herrisch, zanksüchtig, gewaltthätig; er hat Launen und erwartet, daß Andere sich diesen Launen fügen."(20) Die Zigeuner bilden sogar einen festen Bestandteil der Nationalkulturen, denn "sie sind auch in Spanien wie in Ungarn die Träger und Bewahrer des ganzen Schatzes der Nationalmusik. In Ungarn hat der Zigeuner sich zur Fiedel und zum Zymbal gewendet, der spanische Gitano hat die Guitarre und das Tamburin adoptirt".(21)

Eigentümlich ist das Nordausche Feuilleton mit dem Titel "Ein Kapitel vom Judenhasse",(22) denn trotz seines orthodoxen familiären Umkreises bekannte sich Nordau nie zum religiösen Judentum. Jedoch gewährte ihm eine Buchveröffentlichung Anlass zu diesbezüglichen Überlegungen, wobei er seine tiefwurzelnden Bedenken bezüglich des menschlichen Fortschritts bestätigt sieht:

[...] daß der menschliche Fortschritt, so stürmisch auf materiellem Gebiete, auf geistigem entweder gar nicht existire, oder so langsam sei, wie die Bildung von Erdschichten. Jahrhunderte sind da nichts; zehntausend Jahre bedeuten eine Spanne; zu ansehnlicheren Ergebnissen sind Millionen Jahre nöthig.(23)

Nordau zeigt sich für diese Thematik aufgeschloßen, sogar "Ein Fach in meinem Bücherkasten ist der Literatur des Judenfraßes gewidmet",(24) der reichen Literatur, die alle Jahrhunderte und alle Sprachen und sämtliche geistigen Betätigungsfelder - Judentum in der Literatur, Musik, Medizin in den bildenden Künsten - umfasst. Den Judenhass bezeichnet Nordau als

ein Vorurtheil und ein solches wäre ja nicht, was es ist, wenn man mit Logik und Beweisgründen dagegen aufkommen könnte. [...] Nationaldünkel, Religions-Fanatismus, Aberglaube und Goldgier saßen am Webstuhle, Verachtung, Haß, Furcht und Neid waren die Fäden und was sie aus ihnen woben, das ist ein unzerstörbares Gewebe, es ist das unsterbliche 'Hep! Hep!'.(25)

Nordau sieht den Judenhass überall gegenwärtig zu sein, er dient mit englischen, französischen und spanischen Belegen. Selbst in Spanien, wo "die Hälfte der ganzen Nation jüdisches Blut in den Adern [hat]", wird der Aufruf 'Eher wollt' ich eine Jüdin heirathen!' verwendet, "um seinen tiefsten Abscheu auszudrücken".(26) Allerdings werden "die Juden aus Konvention" nicht zu den wahren Märtyrern gerechnet.

Als Nordau am Ende seiner Europa-Reise im Winter 1875 in Pest eintrifft, weiß er noch nicht, "wie lange er es in Pest aushalten wird".(27) Auf einen Mangel dieser "Provinzstadt" macht er in seinem Feuilleton "Das gesellschaftliche Leben in Budapest" aufmerksam.(28) Ein eigentliches gesellschaftliches Leben, ein "sozialer Mittelpunkt" ist in der Hauptstadt gar nicht vorhanden: "Damit das gesellschaftliche Leben irgendwo gedeihe, muß es ein wirkliches Bedürfnis sein; wir in Ungarn aber sind noch nicht dahin gelangt."(29) Dieser Zustand wird als logische Folge der Entwicklung betrachtet:

Was wollen wir? Es gibt in den sozialen Zuständen einer Nation ebenso wie in allen anderen organischen Dingen eine natürliche Entwicklung, deren einzelne Stufen man nicht überspringen kann. Es hilft nichts, sich gegen das Entwicklungsgesetz aufzulehnen; es ist mächtiger als jeder Einzelwille und kann ihn tyrannisiren.(30)

Nordau formuliert das aus, indem er infolge des natürlichen Entwicklungsganges, der geistigen, seelischen und physischen Bedürfnisse der Gesellschaft die einzelnen Nationen einordnet. In seinem System sind vier Stufen zu erreichen. An der untersten Stufe steht der Feuerländer, bei dem "der Magen dominirt und der Mund (...) nur zum Essen gebraucht wird". Etwas "höher ist der Wüstenaraber emporgeklommen", der sich zumindest mit schönen Gegenständen zu umgeben weiß. "Ueber ihm steht der Japanese, der Chinese, der schon Zeitungen liest, sich an Büchern ergötzt, die müßigen Stunden im Schauspielhause verkürzt und in Theegärten mit Nachbarn und Fremden freundliche Worte tauscht."(31) Die höchste Stufe haben nur der Franzose, der Engländer und der Amerikaner erreicht, sie "sind bis zu jenem fast idealen Zustande vorgedrungen, wo jeder Einzelne wirklich an dem Gemeindeleben der Nation theilnimmt".(32) Der Ungar wird auf die mittlere Stufe plaziert:

Geistiges Gemeinleben ist noch kein allgemein gefühltes Bedürfniß; der Falter hat noch die Puppe nicht durchbrochen, der Berufsmensch ist noch nicht zum reinen Menschen emporgeklommen. Man ist zufrieden, wie ein Brunnen-Esel ewig dasselbe Rad zu treten und Ruhe ist die einzige Abwechslung, die man sich nach der einförmigen Berufsarbeit ersehnt. Empfindet manchmal doch ein reger Geist das Verlangen nach etwas Aufschwung, nach etwas Erhebung über die flachsten Alltagsgründe, dann kommen Kaffeehäuser, Theater, vielleicht blos Restaurants dem Sterbenden in den Weg und er hat sein Ziel gefunden. [...] Wir hatten den Kulturvölkern blos einige unwesentliche Aeußerlichkeiten abgeguckt, aber das Wesentliche hatten wir nicht bemerkt und darum auch nicht nachgeahmt.(33)

Nordau ist das Fehlen von Salons, die noch "in den verflossenen Jubeljahren der Börsenglückseeligkeit" mit denen von Paris und London wetteifern konnten, wohl in Erinnerung. Das Wesen und der Wert des Salons lässt sich an dem prickelnden geistigen Leben messen, zu dem es durch die geladenen Gäste, unter Freunden - denn "Zwang ist der Todfeind des Salonlebens" - kommt.. Alles andere sind nur Utensilien. Dabei kommt auch Nordaus Werturteil deutlich zum Ausdruck, denn er bejaht die bürgerliche Lebensform und plädiert für die Gleichheit in der Gesellschaft:

Ich habe in Norddeutschland, in England, in Frankreich die Häuser von Millionären gesehen, wo man an geselligen Abenden etwas Thee und Bisquit und allenfalls etwas kaltes Fleisch bekam und sonst nichts. Aber man fand eine andere Kost, die Kost, die man nicht um Geld im nächsten Restaurant bekommt und das war's weshalb man hinging. [...] Die Geladenen stellten keine Diamanten aus; die Toiletten traten überhaupt in den Hintergrund. Aber man lebte einige Stunden lang ein intensives geistiges Leben. [...] Jeder trug sein bescheidenes Scherflein an Geist und Gemüth bei und das Zusammengeschlossene bildete ohne Anstrengung für den Einzelnen doch ein reiches Kapital. [...]
Das ist es, was man bei uns nicht versteht und darum gibt es bei uns kein gesellschaftliches Leben.(34)

Aber auch Paris als Ausdruck der okzidentalen Kultur weist seine Schattenseiten auf.

Im Feuilleton über die Offenbach-Kritik betrachtet er die Strömungen in der Politik, Wissenschaft und Kunst seiner Zeit und weist auf die negativen Veränderungen - nicht zuletzt im Verkehr zwischen den Nationen - seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin. Die neuen Losungen sind Reaktion, Positivismus, Realismus und Nationalismus:

Dem überschwenglichen politischen Radikalismus setzt man jetzt die Reaktion entgegen; in der Wissenschaft hat die exakte Forschung die Philosophie besiegt und verdrängt; in der Kunst herrscht vom Idealismus auf den prosaischesten, hausbackensten Realismus übergegangen; ebenso tritt in dem Verkehr zwischen den Völkern an die Stelle des früheren Kosmopolitismus ein eifersüchtiges, eitles Betonen der Nationalität, das jede herzliche Annäherung unmöglich macht."(35)

Als Rückgrat der natürlichen Entwicklung, des Zivilisationsprozesses werden Napoleon und die Siege der Preußen genannt:

Napoleon hat, als er das Nationalitätenprinzip erfunden, vielleicht ohne es zu ahnen, die Civilisation aufgehalten und zur Umkehr gedrängt. Die preußischen Siege haben mächtig dazu beigetragen, die Eitelkeiten, Selbstüberhebungen und natürlichen Abneigungen zu verschärfen.(36)

Bei den einzelnen Völkergruppen macht Nordau auf Tendenzen aufmerksam, die in Richtung Abkapselung der Nationen und deren fatale Folgen hinweisen. Als wollte er die Ereignisse des kommenden Jahrhunderts vorwegnehmen, weist er bereits im Jahre 1877 auf das Phänomen des Übermenschen, des Auserwählten hin. Weiters wird von ihm das Problem des In-Sich-Kehrens der Nationen und der Individuen angesprochen:

Die Völker gelangen allmälig auf den antiken Standpunkt, wo jede Nation sich für die einzige von den Göttern geliebte und zum Dasein berechtigte, alle anderen aber für 'Barbaren' hielt. Die schöne internationale Gastfreundschaft für das Genie, die eben aus Meyerbeer und Offenbach Franzosen [...] machte, diese Gastfreundschaft wird höchstens noch in Japan und der Türkei, aber nicht mehr in den 'civilisirten' Ländern geübt. Das biblische 'Niemand ist ein Prophet in seinem Vaterlande' ist heute so wahr wie nie vor zweitausend Jahren, aber die Freizügigkeit des Talents, die diesem Uebel abhelfen konnte, wird allseitig unterdrückt. Die fruchtbare Wechselwirkung der geistigen Thätigkeit aller Kulturvölker vermindert sich und wird bald ganz aufhören. Verstockt und verbittert arbeitet jede Nation bei geschlossenen Thüren und Fenstern und will nichts von den Nachbarn wissen, die links und rechts thätig sind. Wer um sein Vaterland eine chinesische Mauer aufführt, der wird für einen weisen Mann und Patrioten gehalten. Die einheitliche Menschen-Zivilisation zerfasert sich in einer gesonderter National-Civilisationen, von denen jede ihr dünnes Fädchen so gut weiterspinnt, als es eben geht. 'Sehe Jeder, wie er's treibe, sehe Jeder, wo er bleibe!' Das philisterhafte 'Bleib im Lande und nähre Dich redlich!', dessen Herrschaft aus dem Geistesleben des Mittelalters einen verfaulten Sumpf und aus dem individuellen Dasein eine Kerkersträflingsexistenz machte, kommt wieder zu Ehren und wird binnen kurzem zur (sic!) Weltdevise werden.(37)

Obwohl Nordau freiwillig nach Paris zog und es als seinen Zufluchtsort ansah, gewann in seinen Feuilletons die Hervorhebung der Schattenseiten der Metropole die Oberhand. Lediglich im Beitrag "Paris und die Fremden" werden diejenigen Qualitäten der Stadt gebührend akzentuiert, die in der französischen Hauptstadt "die legendäre Stadt, de[n] höchste[n] und vollendetste[n] Ausdruck der occidentalen Kultur" erkennen lassen.(38) Paris verfügt allerdings über verschiedene Gesichter und Funktionen: die Motive der Ankömmlinge "aus den civilisirten Ländern Europa's und Amerika's" unterscheiden sich wesentlich von denen der "Kulturlehrlinge", der "Halb- und Vollbarbaren, die nach Paris kommen, um sich hier zu civilisiren:

[...] einmal ist es ein indischer Nabob, ein anderes Mal ein tunesischer oder egyptischer Großer, dann wieder eine chinesische oder japanesische Gesandschaft, eine siamesische oder persische Studienkommission, nicht zu sprechen von den minder barbarischen und minder fremdartigen Russen, Rumänen, Türken, Serben u.s.w., die sich zu Hunderten und Tausenden in Paris zu Westeuropäern erziehen lassen.(39)

Die häßlichen Laster, die "selbst im bestangelegten Volke" anzutreffen sind - Habsucht, Feilheit, Heuchelei, bedientenhaftes Wesen - kann nirgends besser, als in Paris beobachtet werden. Allerdings weiß ein Kulturmensch damit umzugehen, denn es ist ihm vertraut, "daß es Schlacken sind und es fällt ihm nicht ein, aus ihnen auf alles Uebrige zu schließen", er "erkennt ohne Schwierigkeiten, was ein krankhafter Auswuchs weltstädtischen Lebens sei".(40) Diejenigen aus dem Morgenland deuten es anders:

Anders der Barbare, welcher der westlichen Kultur als ein Fremder entgegentritt. Für ihn sind die ersten Eindrücke maßgebend; Paris ist ihm die Stadt der Civilisation par excellence; was er hier sieht und beobachtet, beeilt er sich zu verallgemeinern und alle Erscheinungen, die er wahrnimmt, sind typische Verkörperungen jener occidentalen Kultur, die man ihm so sehr gepriesen hat. [...] Die Barbaren sehen also in Paris immer nur die Schattenseiten der Civilisation und beurtheilen die letztere nur nach diesen. Die Lichtseiten, deren Verständniß Arbeit und Geduld erfordert, entgehen ihnen fast vollständig.(41)

Als Untermauerung dieser Behauptung wird u.a. das Beispiel von Rumänien herangezogen:

Was haben die Rumänen in Paris gelernt? Gassenhauer und Chahut. Es gibt in Bukarest eine Menge Café Chantants und Bälle, aber noch immer keine gute Hochschule, keine großen Fabriken, keine Kunstakademie, trotzdem die vornehmen Rumänen seit sechzig Jahren zwischen der Madelaine und der Rue Drouot die Kultur studieren.(42)

Die abendländische Kultur scheint auf die Barbaren doch nicht den nötigen Einfluss auszuüben,

sie verachten die neue Kultur, die sie kennen gelernt haben und es lebt in ihnen etwas, wie der selbstgefällige Gedanke: 'Seht, wir Wilden sind doch bessere Menschen!'

Wie sollen sie auch auf andere Gedanken kommen? Die Civilisation, die ihnen in Gestalt von Cocotten und Baccarat-Spielern, von Borgern und Industrierittern entgegentritt, hat nichts Gefälliges, nichts zur Nachahmung Anregendes an sich. Und diese allein drängt sich an sie heran. Die eigentliche Civilisation sehen sie gar nicht oder wenn sie sie sehen, so verstehen sie sie nicht.(43)

Im Feuilleton "Die Affaire Marambat"(44) manifestieren sich anhand einer vorehelichen Beziehung und deren Folgen bereits Grundgedanken der Conventionellen Lügen, konkret der Ehelüge. Sogar die Worte "Konvention" und "Lüge" werden verwendet: "Der Unterschied zwischen der Aufrichtigkeit und der Konvention! In dem einen Falle private Wahrheit, im andern offizielle Lüge."(45) Die weibliche Eherettung und die ganze Kriminal-Affaire (der Vater tötet den Schänder seiner Tochter und wird von den Geschworenen nicht verurteilt) sieht Nordau als eine drohende soziale Frage an:

Das gegenseitige Verhältniß der Geschlechter in der modernen Gesellschaft wird hier grell und blutig beleuchtet. [...] Und die freie Liebe ist eine gesellschaftliche Institution, die besteht, mit der Jedermann rechnet, die auf hunderttausend Familien tragisch wirkt, die in hunderttausend Einzelgeschicke mit eiserner Hand eingreift, aber dennoch nicht offiziell anerkannt wird. [...] Der Mann heiratet in der zivilisirten Welt nicht immer dann, wenn die Natur und die Entwicklung seines Physikums es fordern, sondern wenn er Geld hat oder Ansprüche auf Mitgift erheben darf: das geschieht in vielen, in den meisten Fällen viel zu spät und bis dahin muß eben 'die freie Liebe' den Tribut erhalten, den legitim blos die Ehe fordern darf. [...] Das Gesetz kennt die Paternitätsklage, aber die daraus etwa ableitbaren Vortheile kommen nur einem Kinde, nicht der Mutter zugute. Das Gesetz, die Konvention, die Gesellschaft wenden diesem Weibe mit Verachtung den Rücken und haben für dasselbe nur Hohn, Abweisung, Verdammung. (46)

Das Problem der Ehelüge findet eine ausgeprägtere Behandlung im Feuilleton George Sand und ihre Zeit.(47) Die gleiche Schrift fand 1878 Aufnahme in Nordaus erstem Buch Aus dem wahren Milliardenlande, wo sie unter "Portraits und Chargen" im dritten Teil, abgesehen vom ersten, einleitenden Satz, im selben Wortlaut abgedruckt wurde.(48) Bereits aus dem Titel und dem Vorwort wird deutlich, dass dieses Buch als eine Antwort auf Victor Tissots Le voyage au pays des milliards (1876) gedacht ist.(49) Aber solange sich die kritischen Beobachtungen des Schweizers auf Deutschland beziehen, richtet sich Nordaus Schrift gegen Frankreich, ausschließlich gegen Paris. Es sind die Betrachtungen eines "deutsch schreibende[n] Ungar[n]", der es wagt, anstatt Bewunderung "Stadt und Bewohner, Institutionen und Sitten auch aus recht unvorteilhaftem Blickwinkel" zu beschreiben.(50)

Zu Nordaus Frankreich-Kritik bietet in diesem Fall eine aktuelles Ereignis den Anlass: das Dahinscheiden der Schriftstellerin George Sand, die im Juni 1876 auf ihrem Familienschloss Nohant verstorben ist.

Das Feuilleton sollte eigentlich ein Nekrolog werden, also der Gattung nach ein "Nachruf auf die kürzlich Verstorbenen in Form einer Darstellung und Würdigung seines Lebenslaufs und -werks"(51), jedoch erfolgt anstelle der Würdigung der Werke und Taten der Sand das ganze Feuilleton hindurch ihre persönliche und schriftstellerische Diffamierung. Nordau zögert nicht lange und gibt gleich im zweiten Satz den Grund seiner Themenwahl an: "Sie war, man mag sie von welchem Gesichtspunkte immer betrachten, eine der merkwürdigsten Erscheinungen, die das Jahrhundert hervorgebracht hat." Angefügt wird als Kontrast zu den zwei längeren Sätzen in einem knappen und bündigen Satz der Kerngedanke seines abwertenden Urteils: die Unsittlichkeit, zu der sie bereits prädestiniert sein mag: "Ihrer Abstammung, wie ihrer Geburt nach, schien sie zur Sittenlosigkeit bestimmt."(52)

Nordau gewährt seinen Lesern detaillierten Einblick in den Familienstammbaum der eigentlichen Amandine-Lucie-Aurore Dupin, spätere Frau des Barons Dudevant.(53) Unter ihren Ahnen befinden sich väterlicherseits Adlige, Fürsten(54), mütterlicherseits wiederum Handwerker, einfachere Existenzen. Ihr wurden auch noch die Bürden der vorehelichen Geburt auferlegt, was sich später in den Sandschen Werken niederschlägt:(55) "sie selbst kam vier Wochen nach der Hochzeit ihrer Eltern zur Welt".(56) Nordaus Fazit: "So war sie die Erbin eines zügellosen Blutes, das seine freche Ungebundenheit in drei Geschlechtsfolgen bekundet hatte und sich ganz bestimmt auch in ihr nicht verleugnete".(57) Bei dem nächsten Satz kann Nordaus Spott leicht widerlegt werden: "Hätte sie, deren Stammbaum die Schandmarke eines dreifachen Bastardthums trug, vielleicht kühl, keusch, sittsam und entsagend sein, vielleicht gar in ein Kloster gehen sollen?"(58) Mit einer Anspielung auf den Darwinismus und Positivismus wird die Frage eindeutig beantwortet: "Das wäre gegen alle Gesetze der Vererbung [...]".(59) Denn für Nordau, als überzeugtem Anhänger von Darwins Evolutionstheorie, existiert nur, was sein soll: "die Vorschriften und Normen von Recht und Moral".(60)

Die Sand wurde zwischen 1817 und 1820 in Paris im Convent des Anglaises erzogen und hegte tatsächlich den Wunsch, selbst Klosterfrau zu werden, bloß auf Anraten ihres Beichtvaters gab sie ihren Plan auf(61), übersiedelte 1820 nach Nohant zu ihrer Großmutter väterlicherseits; zwei Jahre später heiratete sie den Baron Dudevant und wurde Mutter von zwei Kindern.(62) Jedoch war ihre Ehe nicht von Dauer, sie zog nach Paris und verfasste zusammen mit Jules Sandeau einen Roman(63) und nicht zuletzt entlehnte sie von ihm das Pseudonym "George Sand". Zum abenteuerlichen Abschnitt ihres Lebens gehörten "Freunde, die erlauchte Namen trugen, die in der Literatur- und Kunstgeschichte mit Goldschrift verzeichnet sind".(64) Diese Beziehungen (u.a. mit Musset, Michel de Bourges, Pierre Leroux, Chopin) sollen aber auch auf ihre schriftstellerische Tätigkeit Einfluss ausgeübt haben. Diese waren leidenschaftliche, aber erschütternde Erlebnisse zugleich, infolge derer die Schriftstellerin zu der Überzeugung gelang, dass die Liebe, die Leidenschaft allein zu keiner Harmonie führen, diese kann nur in der Nächstenliebe, im Mitgefühl und in der Güte gefunden werden.(65) Als sich ihr Leben ihrem "Nachsommer" näherte und ihre Lebenslust allmählich nachließ, bot ihr die Hinwendung zur Religion eine Art Vademekum. Der Feuilletonist kommentiert diesen Sinneswandel mit bissiger Ironie: "Ihre Landsleute fanden diese späte Umkehr von wilder Fleischlichkeit zu stiller Andacht sehr erbaulich. Die groben Deutschen erklären diesen Sinneswechsel alter Betschwestern mit einem derben Sprichworte."(66)

Nordaus zweiter Vorwurf zielt auf die schriftstellerische Tätigkeit und der Person der Sand ab. "Fünfundvierzig Jahre lang, von 1831 bis nahezu unmittelbar vor ihrem Tode, führte dieses merkwürdige Weib die Feder, und die wandelbare Gunst des Publikums blieb ihr bis zum letzten Augenblicke treu."(67) Einerseits war sie tatsächlich eine fruchtbare Schriftstellerin, der sogar Nordau den Platz in der Literaturgeschichte nicht abspricht, andererseits hat sie mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Verhalten mindestens so sehr gewirkt und solchen Einfluss ausgeübt wie mit ihrem Gesamtwerk.(68) Den Grund ihres Erfolgs sieht Nordau in ihrem Wesen, nicht zuletzt in ihrer Konsequenz verankert: "George Sand war selbst die Heldin ihrer Romane, und wie sie dachte und handelte, so schrieb sie".(69) Bereits ihr erster selbständig verfasster Roman, Indiana (1832), auf den Nordau selbst Bezug nimmt, ist eine Projektion ihrer Gefühle und Leidenschaften, eine in Romanform verfasste Biographie, in der die Rebellion gegen die veraltete Institution der Ehe, der Familie, den zentralen Punkt einnimmt. Auch gegen die Willkür des Ehegatten wird heftig Partei ergriffen und nicht zuletzt wird die Forderung gestellt, dass die Frau selbst in der Lage sein sollte, den Gegenstand ihrer Liebe frei zu wählen.(70) Wie Nordau folgerichtig formuliert: "Der Gedanke, um den sich alle ihre Werke bewegen, ist Emanzipation des Weibes".(71) Allerdings überlappen sich die Sandschen Emanzipationsbestrebungen nicht mit denen des Philosophen John Stuart Mill, dessen Prinzipien Nordau anführt. Solange es sich beim Engländer um die Ausdehnung der weiblichen Betätigungsfelder, ja um politische Rechte geht, artet bei Sand die ganze Emanzipation der Frau bei puren Äußerlichkeiten aus. Die Sand schlüpfte in der ersten Hälfte der 1830er Jahre in eine Rolle, mit der sie die 'feine Gesellschaft' durch ihre skandalösen Äußerlichkeiten (u.a. Rauchen von Zigarren, Tragen von Hosen) und extreme Lehren (freie Liebe) aufbrachte und europaweit Aufsehen erregte und nicht zuletzt unter den nach Emanzipation strebenden Frauen auf Anhänger stieß.(72) Nordau überschreitet die vom Feuilleton gebotenen gattungsspezifischen Grenzen, indem er den Versuch unternimmt, den Erfolg der George Sand aus einem historischen und einem ästhetischen Blickwinkel zu erfassen. Erstens wird der Zeitgeist erwähnt, denn die Metternich-Ära sieht Nordau als Quelle allerlei geistigen und moralischen Übels des Kontinents an, unter seinem Regime wurde versucht, jegliche geistige Bestrebungen zu ersticken.(73) "Die junge Generation war in der Politik radikal, republikanisch, königsmörderisch [...], in der Literatur begeisterte sie sich für die Romantiker [...]."(74) In der Literatur wurden die Klassiker in den Hintergrund gedrängt, in der Wirtschaft dominierten die kommunistischen Ideen des St. Simon, als Weltanschauung diente der Atheismus, also

was Wunder, daß sie [die junge Generation] eine literarische Erscheinung mit Enthusiasmus aufnahm, die der Empörung gegen Gott, gegen die Könige, gegen die klassischen Autoritäten, gegen die Zufälle der Gütervertheilung eine neue und letzte Empörung gegen die Ehe, die Familie, die Grundgesetze des Gesellschaftsbestandes hinzufügte?(75)

Diese Passagen gewähren uns auch einen Einblick in Nordaus Literaturauffassung und in seine belletristischen Lektüren. Während der Zeit des Vormärz und der Romantik ist es nicht merkwürdig, dass die Rebellion der Sand mit größter Ovation aufgenommen wurde. Solche Erfolge, bezeichnet als "Fieberanfall", wurden in Deutschland F. v. Schlegel zuteil, allerdings dreißig Jahre zuvor. Nachahmung wird der Sand nicht vorgeworfen. Nordau kannte die Werke der deutschen Romantik und der Weltliteratur, jedoch wies er sie aufgrund des deutschen Klassizismus zurück. Er galt als Anhänger des aufklärerischen Rationalismus, zeigte sich gegenüber der Romantik und George Sand abgeneigt. Besonders deutlich kommt diese Hinwendung zum Rationalismus in seinen Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit zum Vorschein.

Der belletristischen Tätigkeit der Sand wurde jeglicher ästhetische Wert abgesprochen, aufgrund ihres belletristischen Schaffens wurde ihr die Anwesenheit im Pantheon der Literaten nicht "über die Gegenwart hinaus" gewährt. Unter ihren größten Mängeln werden eigentlich die Mängel der Romantik hervorgehoben: dass "ihre Charaktere unmögliche Gebilde einer überspannten Phantasie [sind]" und "sie gebietet über ein mächtiges Pathos, dem es kaum schadet, daß es häufig theatralisch wird".(76) Außerdem bediene sie sich in all ihren Romanen eines recht simplen Rezepts: "Ein Mann und ein Weib in verschiedenen Lebensstellungen und getrennt durch scheinbar unübersteigliche Hindernisse lieben einander und wollen einander angehören".(77) Jedoch scheint Sand mit ihren Mitteln und Methoden die Gunst des zeitgenössischen Publikums erlangt zu haben, auch wenn Nordau das ästhetische Urteilsvermögen der Massen bezweifelt: "Ihre Fehler waren in den Augen des Publikums ihre Vorzüge".(78)

Allerdings weiß Nordau auch eine Zäsur in Sands schriftstellerische Tätigkeit zu setzen: Er unterscheidet zwischen ihrem Früh- und Spätwerk, wobei ihr in den Romanen der reiferen Jahre der kritischere und korrektere Ton nicht abgesprochen wird, aber gerade deshalb wirken sie "auch matter und langweiliger".(79) Wenn am Anfang ihrer Laufbahn die Leidenschaft und die Rebellion als ihre Devise galt, so ist eine eindeutige Wandlung in ihrem Schaffen und auch in ihrem Lebensstil am Ende der 1840er, Anfang der 50er Jahre festzustellen, nachdem sie von den Ereignissen der 1848er Revolution enttäuscht war. Sie ließ sich endgültig im Familienbesitz in Nohant nieder, umgeben von der ihr gebührenden Achtung und Liebe. Auch ihre Themenwahl und Methoden änderten sich, sie verfasste eher Romane mit ausgiebigen Landschaftsschilderungen oder eben Erzählungen, in denen der Leidenschaft und den Konflikten lediglich eine moderate Rolle zukam. In den letzten Jahren widmete sie sich ausschließlich der Landschaftsschilderung, wobei in den Werken der Hauptakzent auf die gutmütige, liebevolle Darstellung der Bauern - bedacht als ausdrückliche Gegendarstellung von Balzacs strenger Darstellungsweise der ländlichen Bevölkerung - gelegt wurde.(80)

Anhand von George Sands Romanen und Theaterstücken hält Nordau Ausschau auf die gesamte weibliche Schriftstellerszene, wobei er das Urteil "erfindungsarm" fällt, denn "Der weibliche Geist scheint nicht schaffenskräftig zu sein [...]".(81) Als Untermauerung dieser Behauptung werden einige Namen genannt, von denen lediglich der von Eugenie Marlitt(82) und Emilie Flygare-Carlén(83) ausfindig gemacht werden konnten.

Fasst man die bisher genannten Nordauschen Vorwürfe gegenüber George Sand zusammen, so ergeben sich u.a. solche Stichwörter wie Sittenlosigkeit, Pflichtvergessenheit des Weibes, falscher Emanzipationsbegriff, Ablehnung der Ehe und Befürworten der 'freien Liebe'. Die Abwägigkeit all dieser Gedanken erfährt ihre vollständige Ausformulierung einige Jahre später, 1883, in Nordaus erstem, vom "weltanschaulichen Darwinismus"(84) geprägten Bestseller Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit(85), in dem Kapitel "Die Ehelüge".

Als Ausgangspunkt seiner vom Sozialdarwinismus geprägten Untersuchungen betrachtet Nordau neben der Selbsterhaltung den anderen Grundtrieb des Menschen, die Gattungserhaltung, was letztendlich der Zweck der Liebe sein sollte. Die Form der Beziehungen beider Geschlechter zueinander innerhalb eines Volkes sieht Nordau "als Gradmesser der Lebenskraft" des Volkes an,(86) so ist es verständlich, weshalb bei den zivilisierten Völkern, besonders in den höheren Klassen, die Ehe als die einzig mögliche Form der Beziehung zwischen Mann und Frau angesehen und angestrebt wird. Allerdings erfuhr die Einrichtung der Ehe in den modernen Kulturnationen eine Degradierung, denn der Egoismus, der wirtschaftliche Wohlstand, die Mitgifthascherei, die gesellschaftliche Stellung und das Ergattern diverser Privilegien schweben den Ehegatten vor. Unter diesen Entartungssyndromen werden besonders dem Egoismus, der als "das untrügliche Anzeichen der Erschöpfung der Gattungsvitalität"(87) abgestempelt wird, verheerende Folgen beigemessen: der Untergang des Familiensinns. Demzufolge verzichten die Männer auf das Heiraten, wollen sich auf diese Weise vor der Verantwortung drücken, die Frauen wollen sich sämtliche Unannehmlichkeiten der Mutterschaft ersparen und streben die Kinderlosigkeit an. In diesem Sinne wird auch der Paarungsakt "zu einer ruchlosen Lüstelei entwürdigt" und zu einem "zweck-und werthlosen individuellen Vergnügung" gemacht.(88) Nordau geht noch weiter und bezeichnet diejenigen Beziehungen, in denen die Befriedigung der Selbstsucht angestrebt wird, als Prostitution.(89) Auch auf die "Erzeugnisse" solcher Beziehungen lauert höchste Gefahr, denn die Sprösslinge "erben die Fehler der Eltern, die in ihnen verstärkt erscheinen, die Vorzüge derselben sind abgeschwächt oder heben einander völlig auf und es entsteht eine [...] Race, die zu raschem Erlöschen verurtheilt ist".(90) Solche Gesellschaften setzen sich dem Untergang aus. Und welch ein Widerspruch: "Die Degenerierten finden sich hauptsächlich in den höheren Klassen. Sie sind zugleich Folge und Ursache der selbstischen Organisation derselben."(91)

Im zweiten Teil seiner Betrachtungen befasst sich Nordau mit der Stellung der Frau (nach seinem obligatem Wortgebrauch ausschließlich: Weib) innerhalb und außerhalb des Ehebundes. Er betrachtet die Frau als "unmittelbares Opfer" der Entartung der Kulturmenschheit:

Das Weib der Kulturvölker ist auf die Ehe als auf seine einzige Laufbahn und sein einziges Lebensgeschick angewiesen. Es darf nur in der Ehe die Befriedigung all seiner engeren und weitern psychologischen Bedürfnisse erwarten. Es muß heiraten, um zur Ausübung seiner natürlichen Rechte eines voll ausgebildeten, geschlechtsreifen Individuums zugelassen zu werden, um die Weihe der Mutterschaft empfangen zu dürfen, aber auch einfach, um vor materiellem Elend geschützt zu sein.(92)

Abgesehen von den wohlhabenden Mädchen, bedeutet für die große Mehrheit die "Beschaffung" eines Ehegatten die Rettung "vor Schande und Elend".(93) Unverheiratete Mädchen haben es in jeder Hinsicht (finanziell, sozial) besonders schwer, sich in der Gesellschaft zu behaupten. (Nordau kann sich bei diesen Passagen auf wohlfundierte eigene Erfahrung stützen, denn seine Schwester Charlotte heiratete nie und gehörte Zeit seines Lebens zu Nordaus Haushalt.) Nordau rät davon ab, dass Jungfern eine Ehe ohne Neigung eingehen, aber auch umgekehrt: dass Männer in der Hoffnung einer üppigen Mitgift heiraten, denn solche zwangswillig beschlossenen Ehen würden infolge des gegenseitigen Egoismus ebenfalls zur Entartung führen.

Zur Pervertierung der Ehe hat Nordaus Ansichten nach nicht gering die christliche Geschlechtsmoral beigetragen. Als Gegensatz wird auf die Sittenlehre von reichen, geistig und sittlich vertieften Zivilisationen wie die der Inder und Griechen, hingewiesen, denn diese Kulturen "hatten die ursprünglichen Instinkte des Menschen noch nicht so gründlich gefälscht und verdunkelt wie unsere eigenen [...]".(94) Als keinen natürlichen Zustand des Menschen wird die allgemeine Anerkennung der Monogamie, der Einzelehe sowie der ewigen Treue angesehen, denn diese, da sie nicht in der Menschennatur liegen, veranlassen immer wieder "Konflikte zwischen dem Gefühl und der Sitte", die notwendigerweise in einer Lüge ausarten werden.(95) Nordau betrachtet die Einrichtung der Monogamie als notwendige Folge einer, von Degenerationserscheinungen (Egoismus, Individualismus, Herrschsucht, Eitelkeit) umgebenen Gesellschaft, die ihre eigene Fortdauer nur durch die lebenslange Einzelehe sichern kann. Die menschliche Liebe, "obwohl in der Hauptsache auch nichts anderes als der Drang nach dem Besitze eines bestimmten Individuums zum Zwecke der Fortpflanzung" ist, erweist sich als äußerst facettenreich: "sie ist auch eine Freude an der geistigen Art des geliebten Wesens; sie ist auch Freundschaft".(96) Wobei auch die Umgestaltung der jahrelangen Beziehungen, von der möglichen Auflockerung der Bande bis hin zum Schwund der Gefühle, ja sogar der Ausbruch neuer, unkontrollierbarer Leidenschaften, die die Aufhebung von Treue und Ehe berechtigen, nicht verschwiegen werden. Die Scheidung ist in den fortgeschrittenen Ländern keine unbekannte Institution. Was Nordau an der ganzen Scheidungsmisere auszusetzen hat, das ist die unwürdige, moralisch diffamierende Behandlung von Geschiedenen, denn diese Verhaltensweise bietet Nährboden für weitere Ehelügen: für die Aufrechterhaltung von Scheinehen, in denen jedoch der Betrug des Ehegatten die Oberhand gewinnt. Auch die Frauenemanzipation bietet kein Heil gegen die Ehelüge, denn letztendlich steht die Frau im Dienste der Gattungserhaltung, im Kampf der Geschlechter ist sie dem Mann eindeutig unterlegen:

Das Weib hat eine hohe und vornehme Stellung in der Kultur, weil es sich bescheidet, weil es zufrieden ist, die Ergänzung des Mannes zu sein und seine materielle Überlegenheit anzuerkennen. Versucht es indeß, diese in Frage zu stellen, so wird es alsbald gezwungen, deren Wirklichkeit zu empfinden. Das voll emanzipirte Weib, das sich vom Manne unabhängig, in vielen Fällen wegen aufeinander stoßender Interessen als dessen Feindin fühlt, muß alsbald in die Ecke gedrückt sein. Das ist dann der Kampf, der rohe Kampf, und wer in demselben siegt, das ist nicht zweifelhaft. Die Emanzipation bringt nothwendig Mann und Weib in das Verhältnis einer höheren und niederen Race - denn der Mann ist für den Kampf ums Dasein besser ausgerüstet als das Weib.(97)

Dass eine Frau - eigentlich "kostbares Zuchtmaterial"(98) - ohne Ehegatten leben und auf die Ehe verzichten sollte, ist für Nordau unakzeptabel, denn dadurch könnte sie ihrer primären Funktion, des Gebärens, nicht gerecht werden. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe kommt auch der Gesellschaft eine entsprechende Rolle zu, nämlich es ist "eine Pflicht der Gesellschaft, ihre Frauen, ihr kostbares Zuchtmaterial, vor physischer Entbehrung zu schützen. Das Gemeinwesen schuldet dem Weibe Schutz und Erhaltung".(99) Werden dem Mann in der Nordauschen Rollenverteilung die traditionellen Rollen wie die finanzielle Versorgung und die Verteidigung der Familie zugesprochen, so wird die Frau vor allem eine "Veredlerin der Gattung durch die Zuchtwahl, indem sie unter den Männern den Kampf anregt, dessen Preis sie ist und in dem die tüchtigsten Streiter die kostbarste Beute davontragen".(100)

Angesichts der Nordauschen Ehe-, Moral- und Emanzipationsbegriffe sind die Grundzüge der Auseinandersetzung Nordau versus George Sand wohl selbstverständlich. In Nordaus naturwissenschaftlich geprägter Weltanschauung dient die Ehe zur Aufrechterhaltung und Verbesserung des Menschheit, wobei die Gattungserhaltung durch die Gebärpflicht der Frauen erfolgen soll. Ehe, körperliche Beziehungen haben ihren wohlfundierten und kontrollierten Zweck und sind ebenfalls der Gattungserhaltung untergeordnet. Das Dasein der Frauen erfüllt sich damit, dass sie die Nachkommen in die Welt setzen.

Natürlich stehen all diese Anschauungen in krassem Widerspruch zu den feministischen Vorstellungen der George Sand. Ihre Devise ist: Emanzipation, freie Liebe, Ablehnung der Ehe. An ihren Emanzipationsbestrebungen hat Nordau vor allem das auszusetzen, dass sie nicht für die politische Gleichstellung der Frauen plädiert, sondern sich mit seinen Ansichten nach trivialen, devianten und obszönen Verhaltensmustern begnügt: "Ihre Frauenemanzipation bedeutet etwas völlig Verschiedenes. Sie besteht darin, dass die Frau Hosen trägt, das Recht habe, auf der Straße den Männern nachzulaufen, wie heute die Männer auf dem Trottoir hinter den Frauen einherstreichen".(101) Ihre Verkündung der "freien Liebe", das Propagieren "des Fleisches Gelüstes" betrachtet Nordau als Rückkehr zu niedrigeren Zivilisationen, ja zur animalen Welt.(102) Die Ehe und die Familie werden von Sand als Zwangseinrichtungen empfunden, obwohl diesen laut Nordau von den Nichtdegenerierten "in Frankreich eine gewisse Berechtigung" zugesprochen wird: Eine Ehe gilt als Band fürs Leben, ist also unlöslich und schließt gleichzeitig auch eine Scheidung aus.(103) Den Widerspruch zwischen diesem Grundsatz und seiner praktischen Handhabung und Ausführung sieht Nordau als Ausgangspunkt der Erfolge von Alexander Dumas des Jüngeren(104) und der George Sand an: "'Die Ehe ist in vielen, ach, in nur zu vielen Fällen ein Unglück!' Das ist die These. Alexander Dumas sagt darauf: folglich muß man sie lösen!' George Sand, unendlich radikaler, sagte schon vor 45 Jahren: 'Man muß sie gar nicht eingehen!'"(105) Nordau sieht in den Franzosen viele Anhänger dieser Ideen, denn der vorgetragene Gedankengang hört sich plausibel an: "Die Liebe kann irren, wie es die Ehe auch kann; aber während die freie Liebe ein Korrigieren des Irrthums gestattet, muß in der Ehe der Irrthum mit dem Lebensglück aller Betheiligten gebüßt werden."(106) Nordaus Fazit:

So konnte George Sand eine begeisterte Gemeinde um sich sammeln und so konnte sie sich in ihrem Vaterlande stete Aktualität und ein überaus zahlreiches Publikum bis an ihr Lebensende erhalten, während die gebildeten Geister des Auslandes sie schon seit einem halben Menschenalter zu den halbvergangenen Celebritäten zählten und sie als literarisches Ueberlebsel einer Zeit voll großer Leidenschaften und großer Irrthümer, mächtiger Aspirationen und unbegreiflicher Kindereien betrachteten, einer Zeit, die uns chronologisch noch recht nahe, geistig aber so ferne ist, daß wir sie nur mit Hilfe der politischen, der Kultur- und Literaturgeschichte einigermaßen zu verstehen vermögen.(107)

© Hedvig Ujvári (Budapest)

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


ANMERKUNGEN

(1) Pester Lloyd, Nr. 276 v. 16. 11. 1870, S. 2-3. (Des Weiteren nur als PL angegeben.)

(2) Ebd, S. 3.

(3) Ebd.

(4) Ebd.

(5) Ebd.

(6) Ebd.

(7) Ebd.

(8) Ebd. Hervorhebung im Original.

(9) Die Frauenemanzipation und die Statistik. In: PL, Nr. 240 v. 17. 10. 1872, S. 4.

(10) Ebd, S. 2.

(11) Ebd.

(12) Wiener Weltausstellung. Finale. In: PL, Nr. 256 v. 7. 11. 1873, S. 3 und B.

(13) Max Nordau: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig 1883, S. 25f.

(14) Vgl. Christoph Schulte: Die Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt am Main 1997, S. 134. (Weiterhin nur als Schulte und Seitenzahl.)

(15) Ebd, S. 135.

(16) Ebd, S. 130.

(17) PL, Nr. 266 v. 18. 11. 1875, S. 2-3.

(18) Ebd.

(19) Ebd.

(20) Ebd.

(21) Ebd.

(22) Ein Kapitel vom Judenhasse. In: PL, Nr. 283 v. 8. 12. 1875, 2. Beilage.

(23) Ebd.

(24) Ebd.

(25) Ebd.

(26) Ebd.

(27) Schulte, 78.

(28) PL, Nr. 289 v. 17. 12. 1875, B.

(29) Ebd.

(30) Ebd.

(31) Ebd.

(32) Ebd.

(33) Ebd.

(34) Ebd.

(35) Ein Kleeblatt von Causes célebres. III. In: Neues Pester Journal, Nr. 63 v. 4. 3. 1877, S. 4. (Weiterhin: NPJ.)

(36) Ebd.

(37) Ebd, S. 4-5.

(38) NPJ. Nr. 58 v. 27. 2. 1878, S. 1-3, hier S. 1.

(39) Ebd.

(40) Ebd, S. 2.

(41) Ebd.

(42) Ebd, S. 3.

(43) Ebd.

(44) PL, Nr. 1 v. 1. 1. 1876, S. 3 und B.

(45) Ebd. Hervorhebung von mir.

(46) Ebd.

(47) NPJ, Nr. 134 v. 13. Juni 1876, S. 1-3.

(48) Aus dem wahren Milliardenlande. Pariser Studien und Bilder. 2 Bde. Leipzig: Duncker und Humblot 1878, hier Bd. 2, S. 14-21. 2. verm. Auflage: Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande, ebd. 1881. Auch ins Italienische (1878), Dänische (1879) und Englische (1884, Auswahl; 1895) übersetzt. Vgl. Schulte a.a.O., S. 365.

(49) Ebd, Vorwort.

(50) Schulte, S. 83.

(51) Definition bei: Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 71989, S. 617.

(52) Bei der Analyse wird auf den Text im NPJ Bezug genommen, des Weiteren nur NPL, Nr. 134.

(53) Konsultiert wurde u.a. Világirodalmi Lexikon [Lexikon der Weltliteratur]. Chefred. István Szerdahelyi. Bd 12. Budapest: Akadémia Verlag 1991, S. 473-475, Lexikon der Weltliteratur. Hg. v. Gero von Wilpert. 3., neubearb. Auflage. Bd 1. Stuttgart: Kröner 1988, S. 1331f und Magyar Larousse Enciklopédia [Ungarische Larousse Enzyklopädie]. Chefred. Éva Ruzsiczky und János Szász. Bd 3. Paris 1979, Budapest: Akadémia Verlag 1994, S. 544f.

(54) Durch ihren Vater war sie Urenkelin des französischen Marschalls Moritz von Sachsen (1696-1750), dem Sohn von August des Starken, der später als August II polnischer König wurde. Vgl. Magyar Larousse a.a.O., Bd 2, S. 969.

(55) Világirodalmi Lexikon, siehe a.a.O, S. 473.

(56) NPL, Nr. 134, S. 1.

(57) Ebd.

(58) Ebd.

(59) Ebd.

(60) Vgl. Schulte 1997, S. 133ff.

(61) Vgl. Világirodalmi Lexikon, S. 473 und Lexikon der Weltliteratur (Wilpert), S. 1330.

(62) Ebd.

(63) Magyar Larousse, Bd 3, S. 545. Jules Sandeau, fr. Schriftsteller (1811-1883). Der gemeinsame Roman von 1831 trug den Titel "Rose und Blanche".

(64) NPL, Nr. 134, S. 1.

(65) Magyar Larousse, Bd 3, S. 544 und Világirodalmi Lexikon, Bd 12, S. 474.

(66) NPL, Nr. 134, S. 1.

(67) Ebd.

(68) Vgl. Világirodalmi Lexikon, Bd 12, S. 473.

(69) Ebd.

(70) Világirodalmi Lexikon, Bd 12, S. 473.

(71) NPL Nr 134, S. 1. Hervorhebung von mir.

(72) Világirodalmi Lexikon, Bd 12, S. 473.

(73) NPL, Nr. 134, S. 2.

(74) Ebd.

(75) Ebd.

(76) Ebd.

(77) Ebd.

(78) Ebd.

(79) Ebd.

(80) Világirodalmi Lexikon, Bd 12, S. 474.

(81) NPJ, Nr. 134, S. 2.

(82) Eugenie Marlitt (1825-1887) war eine in Arnstadt geborene und auch dort verstorbene deutsche Sängerin, die infolge ihrer unheilbaren Ohrenkrankheit ab 1863 als Schriftstellerin tätig war. Sie publizierte häufig im Familienblatt "Gartenlaube". Ihre Werke, u.a. der Mädchenroman "Die zwölf Apostel" wurden zu Bestsellern und erlebten mehrere Auflagen und Übersetzungen. Zu ihren Grundmotiven gehörten Sentimentalität, Liebe, Frauenschicksale. Vgl. Világirodalmi Lexikon. Chefred. István Király. Bd 8. Budapest: Akadémia Verlag 1982, S. 38f.

(83) Emilie Flygare-Carlén (1807-1892) war schwedische Schriftstellerin. Vgl. Világirodalmi Lexikon. Chefred. István Király. Bd 3. Budapest: Akadémia Verlag 1975, S. 210.

(84) Schulte, S. 146.

(85) CL, Kapitel "Die Ehelüge: S. 257-337.

(86) CL 260.

(87) CL 259.

(88) Ebd.

(89) Ebd, S. 267.

(90) Ebd, S. 265.

(91) Ebd, S. 271.

(92) Ebd, S. 277.

(93) Ebd.

(94) Ebd, S. 285.

(95) Ebd, S. 292.

(96) Ebd, S. 304.

(97) Ebd, S. 308.

(98) Ebd, S. 309.

(99) Ebd.

(100) Ebd.

(101) NPL, Nr. 134, S. 1.

(102) Ebd.

(103) Ebd.

(104) Alexandre Dumas fils (1824-1895), unehelicher Sohn von Dumas des Älteren. Infolge seiner familiären Verhältnisse war er oft Entwürdigungen ausgesetzt, was sich auch in seinen Werken niederschlägt. Eine zentrale Stelle nimmt in seinem Schaffen das Schicksal der aus unehelichen Verhältnissen stammenden Kinder ein. Vgl. Világirodalmi Lexikon. Chefred. István Király. Bd 2. Budapest: Akadémia Velag, S. 892f.

(105) NPL, Nr. 134, S. 3.

(106) Ebd.

(107) Ebd.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Hedvig Ujvári (Budapest): Entartung und konventionelle Lügen. Zum Zivilisationsbegriff von Max Nordau. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/ujvari14.htm.

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