Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Rudolf Muhr (Universität Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Emotionskonzepte und ihre sprachliche Darstellung in deutschsprachigen und russischen literarischen Texten
- Am Beispiel der deutschen, österreichischen, schweizerischen und russischen Literatur.

Sinaida Fomina (Universität für Architektur- und Bauwesen, Woronesh, Russland)
[BIO]

 

Abstract

In this article an attempt is made to specify general and different features of the lexical representation of emotionality. The study is based upon German, Austrian, Swiss and Russian literature. The author defines the lexical means with relation to standard language and its regional versions in this or that linguistic culture. The study tries to give an outline of the most common types of lexical means for the expression of emotionality both in the four languages and to define a concept which is based on an emotional hierarchy and its description in an ethnocultural aspect.

 

1. Die sprachliche Basis für die künstlerische Darstellung der Emotionen


Da die Sprache ihrem Wesen nach sowohl anthropozentrisch, als auch national spezifisch bedingt ist, spiegeln sich in ihr nicht nur Besonderheiten der Naturbedingungen und Kultur, sondern auch die Eigenart, die Eigentümlichkeit des nationalen Charakters der Volkes wider. W. von Humboldt schrieb: "Gerade die Sprache [...] steht mit dem Charakter in der engsten und regsten Wechselwirkung. Die kraftvollsten und die am leisesten berührbaren, die eindringendsten und die am fruchtbarsten in sich lebenden Gemüther gießen in sie ihre Stärke und Zartheit, ihre Tiefe und Innerlichkeit, und sie schickt zur Fortbildung der gleichen Stimmungen die verwandten Klänge aus ihrem Schosse herauf"(1)

Bekanntlich unterscheiden sich die Sprachen grundsätzlich auch durch den Grad der Sorgfalt/der Detailliertheit der Erarbeitung abstrakter semantischer Felder - solcher wie z. B. Kausierung, Agentivität und die Sphäre des Emotionalen.(2)

Die sprachliche Basis für die künstlerische Darstellung der Emotionen in den Texten der russischen, deutschen, österreichischen und schweizerischen schöngeistigen Literatur bildet die emotional psychologische Lexik, da ein grundlegendes Thema bzw. eine grundlegende Aufgabe des schöngeistigen/kreativen Schaffens die Aufdeckung der inneren Welt eines Menschen ist. Deshalb entsteht gerade in dieser Sphäre das Bedürfnis nach der Ausarbeitung von feinen und prägnanten Mitteln zur verbalen Konzeptualisierung der Welt der menschlichen Seele, gerade hier entsteht und entwickelt sich das zur Realisierung dieser Aufgabe notwendige Lexikon.(3)

Vom stilistischen Standpunkt aus wie auch vom Standpunkt der Sprachnorm und Sprachvariationen aus zeichnet sich die emotional psychologische Lexik durch eine große Anzahl und Heterogenität ihrer semantischen Typen/Untertypen aus.

Aufgrund der Analyse der sprachlichen Gestaltung der Emotionalität in vier verschiedenen Sprachkulturen kam ich zum Schluss, dass sich in allen von mir analysierten Diskursen hauptsächlich ähnliche oder manchmal gleiche (identische) Tendenzen nachvollziehen lassen.

Die Typologie lexikalischer Mittel, von denen die Autoren verschiedener Sprachkulturen Gebrauch machen, stimmt im Grunde genommen in allen literarischen Diskursen überein. Eine zentrale Stelle in Texten der russischen, deutschen, österreichischen und schweizerischen schöngeistigen Literatur nimmt die emotive Zustandslexik ein, die von folgenden dominierenden lexikalischen Klassen repräsentiert wird: a) Angstlexeme (Angst (Menschenangst, Weltangst etc.), Furcht, Entsetzen, Schrecken, Horror etc.); b) Wutlexeme (Ärger, Argwohn, Grimm, Inbrunst, Zorn, Aufgebrachtheit, Bosheit, Wut etc.); c) Traurigkeitslexeme (Depression, Pessimismus, Betrübnis, Apathie, Entmutigung, Schwarzseherei, Trauer, Mißmut etc.); d) Verzweiflungslexeme (Aussichtslosigkeit, Wehklage, Weltschmerz, Düsterheit, Demütigung, Betroffenheit, Schmerzausbruch etc.); e) Einsamkeitslexeme (Einsamkeit, Freudlosigkeit, Herzensleere, Selbstquälerei, Verzweiflung etc.); f) Hoffnungslexeme (Lebensbejahung, Optimismus, Vorgefühl, Hoffnungsfunke, Hoffnungsstrahl, -glanz, -schimmer etc.); g) Freudelexeme (Freude, Frohmut, Entzücken, Wonne, Jubel, Euphorie etc.); h) Liebeslexeme (Liebe, Huld, Zärtlichkeit, Zauber, Bewunderung, Schwärmerei, Charme etc.) u.a.

Eine besondere Bedeutung bei der Beschreibung verschiedener emotional-psychologischer Zustände eines Menschen in russischen und deutschsprachigen literarischen Texten haben assoziativ-emotionale Wörter. Zu den assoziativ-emotionalen Wörtern gehören lexikalische Einheiten, die folgende Gegebenheiten bezeichnen: Naturerscheinungen (Regen, Sturm); b) Naturgegebenheiten (Ozean); c) Jahreszeiten (Herbst, Frühling); d) anthropologische Begriffe (Lächeln, Tränen); e) religiöse Begriffe (Paradies, Hölle); f) kosmische Begriffe (All, Universum, Stern); g) abstrakte Begriffe (das Böse, das Gute, Chaos); h) Bräuche/Sitten/Traditionen/Feste (Weihnachten, Ostern); i) konkrete Begriffe (Geschenk, Tannenbaum); k) die Farbe (rosa, grün, schwarz) u.a.

In literarischen Werken russischer, deutscher, österreichischer und schweizerischer Autoren ist die emotive intellektuell-kulturelle (oder gebildet-geistreiche) Lexik sehr reich und vielfältig repräsentiert. Sie wird durch lexikalische Einheiten verschiedener Wissensbereiche vertreten, z.B. a) emotional gefärbte philosophische Lexeme (Epikureer, Stoiker, Philantrop); b) mythologische Lexeme (Aurora, Phönix, Sirene, Amor, Venus, Rachegöttin, Nixe); c) historische Lexeme (byzantinisch, Barbar); d) religiöse (pharisäisch, Hiob, Idol); e) astrologische Lexeme (Zauber, Magie, Orakel, Weiser); f) medizinische Lexeme (paranoid, geistesgestört) u.a. Der Wortbestand der intellektuell-kulturellen Lexik involviert auch emotiv-gefärbte Fremdwörter. Vgl.: echauffieren, poussieren, Kurage, korybantisch etc. In den meisten Fällen handelt es sich um Entlehnungen aus dem Lateinischen und Französischen.

Als ein unentbehrlicher Bestandteil des emotiven Vokabulars der russischen, deutschen, österreichischen und schweizerischen literarischen Texte tritt die emotiv-pathetische Lexik auf. Vgl.: Gnade, Huldigung, Verehrung, Philantropie, Aufopferung, Zivilcourage, Bürgertugend, Altruismus etc.

Als allgemeines Merkmal für die Texte der schöngeistigen Literatur gilt die Säkularität. In allen von mir analysierten literarischen Diskursen ist ein intensiver Gebrauch der emotiv-sakralen Lexik evident. Vgl.: Satan, Nonne, Märtyrer, "Gang durch die Hölle" etc.;

Die Gemeinsamkeit des emotiven Vokabulars russischer und deutschsprachiger literarischer Texte zeigt sich im Vorhandensein der sogenannten emotiven Grenzlexik oder emotiven Extremlexik, d.h. im Gebrauch solcher Wörter, in deren Bedeutung die emotiv - wertende Komponente mit der expressiven Komponente verbunden ist, wobei die expressive Komponente, in der Regel, einen absoluten Grad der Intensität der emotionalen Wertung manifestiert. Im Korpus der emotiven Grenzlexik dominieren folgende Klassen von Wörtern:

1. Wörter, die den Grenzgrad von Emotionen/Gefühlen manifestieren (z.B.: Groll, Graus, Grimm, Horror, Alptraum, Rausch, total, unheimlich, unbeschreiblich, unaussprechlich, unerhört, enorm, bodenlos, ungeheuer, uferlos etc.);

2. brisante Wörter, die zur Charakteristik extremer Eigenschaften eines Menschen gebraucht werden (z.B.: extrem, exaltiert, impulsiv, hemmungslos, zügellos, wüst, rasend, wild, maßlos, ungebunden etc.);

3. Wörter mit formalem Ausdruck der emotiv-wertenden Komponente (meist lexikalische Einheiten mit den Präfixen: un -, über - und dem Suffix - los). Wörter mit solchen Affixen explizieren folgende semantische Merkmale: Grenzenlosigkeit - grenzenlos, uferlos, bodenlos; Unendlichkeit - unendlich; Unsagbarkeit - unsglich; Unerträglichkeit - unerträglich; Unwiederbringlichkeit - das "unwiederbringlich Verlorene"; Unberechenbarkeit - unberechenbar; Ungeheuerlichkeit - ungeheuer wichtig etc.

4. Wörter, die verschiedene Übereigenschaften eines Subjekts (übereifrig, überempfindlich) sowie auch Überzustände (übermüdet) manifestieren.

5. Wörter mit grammatischem Ausdruck der emotiv-wertenden Komponente: heldenhafteste (Versuche), schönste (Musik), klarster (Verstand) u.a. Der Superlativ des Adjektivs dient hierbei zur Verstärkung des emotionalen Verhältnisses eines Bewertungssubjekts zum betreffenden Objekt.

6. Zum Wortbestand der emotiven Grenzlexik gehören auch Wörter, die extreme (entgegengesetzte, d.h. polare) Begriffe bezeichnen. Zum Beispiel "Schönheit" (traumschön, reizend, entzückend) einerseits, andererseits "Häßlichkeit" (häßlich, ekelhaft, Monstrum, Mißgebilde).

7. Eine weitere Schicht im Korpus der emotiv-extremen Lexik bilden negierende Lexeme, die in der Regel einen absoluten Grad der Expressivität bzw. "Kategorialität" (unter dem Begriff "Kategorialität" sind äußerst kategorische Äußerungen gemeint) manifestieren (vgl.: nie, nirgends, niemals, nirgendwo, nichts etc.).

"Ach, wohin ich die Gedanken schicken möchte, nirgends wartete eine Freude, nirgends ein Zuruf auf mich, nirgends war Lockung zu spüren, es stank alles nach fauler Verbrauchtheit, nach fauler Halbundhalbzufriedenheit, es war alles alt, welk, grau, schlapp, erschöpft." (H. Hesse, Steppenwolf).

Die Rolle der Negationen bei der Manifestierung von menschlichen Emotionen/Gefühlen bzw. Zuständen ist nicht zu unterschätzen. "Negationen sind aufgrund ihrer Bindung an bestimmte Bejahungen ein beliebtes Stilmittel, um positive Aussagen einzuleiten, Vergangenes und Gegenwärtiges abzugrenzen oder Fehlendes und Vorhandenes gegenüberzustellen" (Sowinski 1991, S. 232). Ein wichtiges Element im emotiven Korpus schöngeistiger russischer und deutschsprachiger Texte ist die emotiv-bildliche Lexik.

Vgl. gläserne (Worte), sonnenwarmer (Flieder), dunkeläugiges (Wasser), springbrunnenhaft steigende und stürzende Skala der Gefühle, vogelartig (reckte den Kopf), kindergartenhaft (Rührendes), rosenhaft (war ihr Duft und ihre Signatur) etc.

Die Verwendung von Wörtern in metaphorischer (übertragener) Bedeutung ist zum größten Teil durch eine Transformation (durch einen Übergang) der "Begriffswörter" in "Bildwörter"/"Gestaltwörter" beeinflußt. Zahlreiche abstrakte Gegebenheiten der objektiven Welt und vielfältige Gegebenheiten der inneren Welt eines Menschen sind nicht sichtbar. Für diese Erscheinungen gibt es keine "eigenen" Wörter, und deshalb werden die lexikalischen Einheiten, die sie versprachlichen, oft in sekundären (übertragenen) Bedeutungen gebraucht.

In russischen und deutschsprachigen literarischen Diskursen werden auch emotiv-wertende Adverbien gebraucht, die die Funktion expressiver Verstärkungsmittel (oder "Totalisatoren") erfüllen. Vgl.: unbeschreiblich (schön), tödlich (nüchtern) etc. Als Verstärkungsmittel gelten auch emotional gefärbte Numeralien, die in allen Sprachkulturen präsent sind. Ihre Emotionalität entspringt häufig aus den betreffenden Kontexten, z.B.:

"Ein alter, ewiger Fehler, den ich hundertmal begangen und bitter bereut habe." (H. HESSE: Kurgast).

"Man stelle sich einen Garten vor, mit hunderterlei Bäumen, mit tausenderlei Blumen, hunderterlei Obst, hunderterlei Kräutern." (H. HESSE: Steppenwolf) .

Den Texten der deutschen, österreichischen und schweizerischen schöngeistigen Literatur ist die Bildung der substantivierten emotiven Komposita eigen, die aus zwei oder mehreren selbständigen Wörtern bestehen können. Eine ganz besondere Stelle nehmen unter ihnen zusammengesetzte Wörter (Zusammenrückungen) ein, z.B. das Abschiedfeiern, das Seelensterben, das Nichtlebenwollen, das Nichtsterbenkönnen u.a. Diese Komposita werden oft zur Beschreibung tiefer emotional-psychologischer Erlebnisse eines Menschen verwendet. Die substantivierten Komposita erweisen sich als Resultat des individuellen schöpferischen Wortschaffens. Der Gebrauch der Komposita ist jedoch für russische literarische Texte wie auch für das gesamte russische Sprachfeld nicht relevant.

Beachtung verdient die Tatsache, dass sowohl in russischen als auch in deutschsprachigen literarischen Texten die umgangssprachliche Lexik eher ausnahmsweise verwendet wird. Nach der Meinung der deutschen Sprachforscher weist das Vorhandensein der umgangssprachlichen Lexeme in der schöngeistigen Literatur auf die Tendenz zu ihrer Demokratisierung und Popularisierung hin. Bevorzugt wird in allen von mir analysierten literarischen Diskursen hauptsächlich die "die Buchlexik", d.h. die Lexik, die den stilistischen Sprachnormen entspricht.

Die relative Identität der Verbalisierung der Emotionskonzepte in der russischen und deutschsprachigen Sprachkultur läßt sich dadurch erklären, daß "alle stärksten Ideen und Vorstellungen der Menschheit auf Archetypen zurückgehen. [...] Sie sind [...] entstandene Varianten der Urvorstellungen, denn es ist die Funktion des Bewußtseins, nicht nur die Welt des Äußeren durch die Sinnespforten aufzunehmen und zu erkennen, sondern auch die Welt des Inneren schöpferisch in das Außen zu übersetzen".(4) Insgesamt bilden den Wortbestand des sprachlichen Emotionsfeldes in der russischen und deutschsprachigen schöngeistigen Literatur hauptsächlich 10 Gruppen.(5) Jede Gruppe lässt sich ihrerseits sehr detailliert strukturieren. Den höchsten Grad der Detailliertheit sprachlicher Emotionserlebnisse weisen jedoch die meisten von oben erwähnten Gruppen im russischen literarischen Diskurs auf. Darauf komme ich im vierten Teil meines Beitrags zu sprechen.

 

2. Die sprachliche Darstellung der Emotionskonzepte in russischen literarischen Texten

Vorweg muß man sagen, dass die Prioritäten im Bereich der Konzeptualisierung emotional psychologischer Zustände in der deutschsprachigen und russischen schöngeistigen Literatur unterschiedlich gesetzt werden. Dies bezieht sich sowohl auf die quantitative als auch auf die qualitative Ebene.

In deutschsprachigen literarischen Texten werden hauptsächlich folgende elf psychologische Zustände in den Vordergrund gerückt: 1. Angst; 2. Liebe; 3. Verzweiflung; 4.Traurigkeit; 5. Zorn/Wut; 6. Glück; 7. Mitleid; 8. Einsamkeit; 9. Leere;10. Hoffnung;11. Altersleid.

Im Russischen sieht diese Hierarchie anders aus. Den ersten Platz nimmt der Liebeszustand ein. Des weiteren sind zu nennen: 2. Traurigkeit; 3. Sehnsucht; 4. Leid; 5. Erbarmen; 6. Zorn/Wut; 7. Leere; 8. Verzweiflung; 9. Verwunderung;10. Neid; 11. "Etwas- Zustand" u.a.

Beachtenswert ist jedoch, dass in russischen literarischen Texten einige durchaus wichtige Zustände nur zum Teil gestreift, aber nicht beschrieben werden. Dies rekurriert z. B. auf folgende Zustände: "Einsamkeit", "Tod", "Hoffnung", "Zeit als ein emotionales Erlebnis", "Altersleid" u.a. In der deutschsprachigen schöngeistigen Literatur hingegen sind gerade diese psychologischen Phänomene sehr tief und detailliert dargestellt. Als gemeinsame Zustände, die für russische und deutschsprachige literarische kennzeichnend sind, gelten solche: Liebe, Traurigkeit, Verzweiflung, Zorn/ Wut, Glück, Leere.

Zu den kulturspezifischen Zuständen, die in der russischen Literatur am häufigsten beschrieben werden, gehören fünf Zustände: "Traurigkeit", "Leid", "Sehnsucht", "Mitleid"/"Erbarmen", "Etwas- Zustand". Wenden wir uns ihrer kurzen Charakteristik zu.

2.1. Das Konzept "Traurigkeit"

Wie oben erwähnt wurde, zeichnet sich das russische Sprachfeld der Emotionen durch den höchsten Grad an Nuancierung und feiner Differenziertheit mannigfaltiger psychologischer Erlebnisse aus. Zum Beispiel unterscheidet man im Russischen sechs Traurigkeitszustände: "petschal', grust', toska, unynije, krutschina und skorb', die mit Hilfe gleichnamiger Lexeme verbalisiert werden. Im deutschsprachigen Weltbild hingegen werden diese Traurigkeitsemotionen eher gleichgesetzt, da es für ihren Ausdruck im Grunde genommen nur zwei Wörter": "Trauer" und "Traurigkeit" gibt. Vgl.: 1) Petschal' (Trauer, Traurigkeit, Betrübnis); 2) Grust' (Trauer, Traurigkeit, Wehmut); 3) Skorb' (in tiefer Trauer, Gram (skorbet' - trauern um etw., über A.); 4) Toska (Gram, Schwermut, Trauer); 5) Unynije (Verzagtheit, Mutlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Trauer); 6) Krucina (Trauer).

Man muss auch in acht nehmen, dass die Begriffe petschal ("Traurigkeit") und "skorb'" ("Trauer") von den Russen unterschiedlich wahrgenommen und subtil differenziert werden. Sie unterscheiden sich in erster Linie durch den Grad der Intensität und Dauerhaftigkeit irgendeines emotionalen Erlebnisses. Während "petschal" einen mittleren Grad der Intensität bzw. der Dauerhaftigkeit zum Ausdruck bringt, spiegelt "skorb'" den höchsten Grad (den Grenzgrad) der Intensität und Tiefe des menschlichen Leidens wider, z. B.

Ja nikak ne nachozu slov k izobrazeniju etogo skorbnogo sobytija (N.W. Gogol, Newsk. pr.) [Ich bin nicht imstande, Worte zur Darstellung dieses höchst traurigen Geschehnisses zu finden].

Der Zustand der Traurigkeit gehört zu den frequentesten emotional psychologischen Zuständen, die in russischen literarischen Texten beschrieben werden. Mannigfaltige Typen der Wortverbindungen, mit deren Hilfe Traurigkeit, Leid, Sehnsucht, Verzweiflung und dgl. verbalisiert werden, übermitteln eine besondere Ausdrucksintensität, erstaunliche Prägnanz und psychologische Schärfe der menschlichen Erlebnisse. Vgl.:

Mucitel'naja ostrota vospominanij (eine quälende Schärfe der Erinnerungen); dusascee, polnoe stracha predtcustvie udara sud'by (ein würgend angstvolles Schicksalsgefühl); mracnyj, smutnyj mir dusi (verfinsterte Seelenwelt); toska otcajanija (verzweifelte Sehnsucht) etc.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Kontexte mit der Beschreibung der menschlichen Traurigkeit der Gedanke an die Unerschöpftheit, Unbegrenztheit, Unendlichkeit des menschlichen Leidens, vgl. navsegda utracennoe, nevospolnimoe (das unwiederbringlich Verlorene); bezgranicnaja sposobnost' k stradaniju (eine unbegrenzte Leidensfähigkeit) und dgl.

2.2. Das Konzept "Sehnsucht"

Das Konzept "Sehnsucht" tritt als ein unentbehrlicher Bestandteil der überwiegenden Mehrheit psychologischer Erlebnisse auf. Es ist ja auch nicht zufällig, da sich die Besonderheiten des russischen nationalen Charakters vor allem in drei einzigartigen Begriffen der russischen Kultur widerspiegeln. Das sind: Seele, Schicksal und Sehnsucht. "Ihre verbalen Äquivalente bilden ein Sinnuniversum der russischen Sprache. Die Sprache reflektiert und bildet den Charakter ihres Trägers und gilt als ein objektives Kennzeichen des Volkscharakters".(6) Interessant ist, dass selbst eine der Tschechovs Erzählungen "Die Sehnsucht" heißt. Hier ist ein Auszug:

"Ionas Augen bewegen sich aufgeregt und quälend und betrachten die Menschenscharen, die über beide Seiten der Straße hin und her laufen: hätte sich nur einer von diesen Tausenden Menschen finden können, der ihm nur zuhören könnte. Aber die Menschenscharen laufen, ohne weder ihn (Iona) noch seine Sehnsucht zu bemerken. Gewaltige, ungeheure, unermeßliche Sehnsucht... Die Sehnsucht, die keine Grenzen kennt... Hätte sich Ionas Brust platzen und die Sehnsucht daraus zerfließen können, so könnte sie die ganze Welt überfluten, jedoch sieht man sie nicht. Sie konnte sich in so einer nichtigen Schale verbergen, dass man sie bei Tag und Licht nicht sieht" (A.P. Tschechov, "Die Sehnsucht", in meiner Übersetzung).

Die Beschreibung der russischen Seele kann man sich ohne Sehnsucht nicht vorstellen. Die Darstellung der russischen Seele schließt in sich fast obligatorisch psychische Erlebnisse ein, die mit der Sehnsucht verbunden sind (7).

Das metaphorische Bild der Sehnsucht wird im russischen literarischen Diskurs in allen Details ihres Vorkommens, höchst anschaulich und sehr tief beschrieben. Aufschlußreich sind folgende Belege, die der schöngeistigen russischen Literatur entnommen sind:

Toska zaela (die Sehnsucht hat an jemandem gezehrt);
Zamucila (die Sehnsucht hat jemanden (zu Tode) gequält);
Terzala (die Sehnsucht plagte);
Izvela (die Sehnsucht hetzte ab);
Dusila (die Sehnsucht würgte);
Vrezalas' (die Sehnsucht ist fest ins Herz eingedrungen);
Umer ot toski (Jemand ist vor Sehnsucht gestorben);
Toska zelenaja (die grüne Sehnsucht überkam jemanden);
Strasnaja toska razlilas' po wsemu serdcu (Fürchterliche Sehnsucht hat sich in ganzem Herzen ergossen);
Toska perepolnjajet dusu und dgl. (Die Sehnsucht überfüllt die Seele) und dgl.

Bei der Beschreibung der Sehnsucht werden zumeist verschiedene Typen von Gewaltlexemen gebraucht (quälen, würgen, abhetzen, plagen und dgl.). Die Sehnsucht wird in der russischen Kultur als ein scheußliches, unangenehmes, einem Monstrum, einem Wurm ähnliches Wesen dargestellt, das die Seele Schritt für Schritt vernichtet z.B. cerv' glozet/tocit dusu [Der Wurm nagt an der Seele/ zerfrißt die Seele]. Ins Blickfeld geriet in diesem Zusammenhang die Idee des Quasi-Fressens /-Nagens/-Saugens-/Würgens der Seele, z.B.:

toska soset dusu [Die Sehnsucht saugt die Seele auf]; toska soset/glozet/ dusu (serdce) komu-libo- Der Gram (Kummer) frißt an j-m, der Gram (Kummer) nagt an j-ds Herzen (quält j-ds Seele/ Herz, gibt keine Ruhe).

Für den Zustand der Sehnsucht ist auch das Gefühl des Quasi-Zusammenpressens/ Zusammendrückens der Seele kennzeichnend. Das Erleben der Sehnsucht schließt in sich meist gerade diese imaginären Empfindungen ein. Vgl.:

toska szala dusu [Die Sehnsucht hat die Seele erdrückt].

Toska szimajet dusu (serdce, grud') komu-libo - Das Herz schnürt sich j-m vor Kummer zusammen.

In der russischen Kultur wird die Sehnsucht mit der grünen Farbe assoziiert (zelenaja). Es liegt daran, dass im russischen Bewusstsein die Sehnsucht mit den Vorstellungen von unbeweglichem, "totem" Sumpf verbunden ist, der mit der undurchsichtigen dichten Wassergrüne (oder mit dem Wasserschimmel) bedeckt ist. Als Bestandteil der am häufigsten gebrauchten Sehnsuchtsmetaphern gilt das Phänomen des Wassers, mit dem die menschliche Sehnsucht identifizieren lässt. (...hat sich ergossen, überfüllt die Seele etc.).

2.3 Das Konzept "Mitleid"

Der russische literarische Diskurs ist sehr stark von vielfältigen Mitleidserlebnissen geprägt, ohne die die russische klassische schöngeistige Literatur nicht denkbar ist. In der Rhetorik heißt es: "Mitleid ist ein gewisses Schmerzgefühl über ein in die Augen fallendes, vernichtendes und schmerzbringendes Übel, das jemanden trifft, der nicht verdient, es zu erleiden, das man auch für sich selbst oder einen der unsrigen zu erleiden erwarten muß, und zwar, wenn es in der Nhe zu sein scheint".(8) G.E. Lessing betonte:

"Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns... mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter...".(9)

Im Russischen ist das Gefühl des Mitleids mit dem Konzept "Erbarmen" aufs Engste verknüpft. Bemerkenswert ist, dass es in der deutschen Sprache kein Äquivalent zu diesem Begriff gibt. Es muss unterstrichen werden, dass solche psychologischen Phänomene wie sostradanie (Mitleid), sozuvstvie (Mitgefühl), miloserdie (Barmherzigkeit), zalost' (Erbarmen), milostlivost' (Gnade, Großzügigkeit) und dgl. im russischen Welt- und Sprachbild (wie auch in russischen literarischen bzw. philosophischen u.a. Texten) in den Vordergrund gerückt werden.

Das Mitleid gilt als eine der Lebensmaximen in der russischen Mentalität, als eine der wichtigsten moralisch ethischen Kanons. Nicht zufällig ist die Äußerung von F.M. Dostoevski im Hinblick auf diesen Begriff: "Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz der ganzen Menschheit" (Dostoevskij, "Idiot"). Im Russischen sind Mitleids-/Barmherzigkeitslexeme sehr zahlreich vertreten z. B.

Zertva (Opfer), mucenik (Märtyrer), izgoj (Außenseiter, Paria), unizennyje (erniedrigte Menschen), oskorblennyje (beleidigte Menschen), nescastnye (unglückliche Menschen), bednyj (Ach, Armer! Arme!), goremyki (Notleidende) skitaltsy (Heimatlose), bezincy (Flüchtlinge), sirota (Waisen), obezdolennye (kein Vermögen habende), stradal'tsy (Leidsgenossen), velikomuceniki (Großmärtyrer), odinokie (Einsame), bogom pokinytye (von Gott Vergessene), bogom zabytye (von Gott Verlassene), zabroshennyj (verwahrloste Menschen), nikomu nenuznyj (von keinem gesuchte/gefragte Menschen), ubogie (Armselige), otverzennye (Ausgestoßene) etc.

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Die Mitleidslexeme drücken ein starkes Gefühl der seelischen Teilnahme an irgendeinem fremden Leid. Man fühlt fremdes Leid wie sein eigenes. Die hohe Anzahl der Mitleidslexeme und ihre Strukturiertheit im russischen Emotionsfeld ist nicht zuletzt durch den orthodoxen Glauben bedingt, in dem das Phänomen "Mitleid" als der Gipfel, als das höchste Ideal des menschlichen Strebens betrachtet wird. Dafür sprechen z. B. folgende religiöse Leitsätze: "Erweckt die Barmherzigkeit, weil auch Ihr Himmelsvater barmherzig ist!"; "Gebt Almosen und macht das Gute!"; "Seid mitleidig!"; "Auch ein barmherziges Wort ist manchmal mehr als selbst die Gabe" u.a.m.(10) Entsprechend russischen orthodoxen Gepflogenheiten verdienen Mitleid sogar Todfeinde, für deren Wohlergehen, Seelenfrieden man beten muss. In allen russischen Kirchen gibt es die Ikone mit dem Titel: "Utolenie zlych serdec" ("Die Beruhigung boshafter/wütender/rasender [fremder] Herzen"), vor der dieses Gebet gesprochen wird. Das Gefühl des Erbarmens bezieht sich auch auf sich selbst.Vgl:

Proniknutyj razryvajushej zalost'ju, sidel on pered nagorvsej svecoj (Gogol N.V. Newsk.pr.) [Überkommen von zerreißendem Erbarmensgefühl saß er vor der Kerze, die abzubrennen begann].

2.4. Das Phänomen "Etwas" als ein sprachlicher Ausdruck für das "Unausdrückbare"

Im Russischen setzt man sich oft mit einem Zustand auseinander, den man als "Etwas-Zustand" nennen kann. Das ist ein Zustand, der sich nicht definieren lässt. Wenn man nicht genau weiß (und man weiß ja nie genau), was sich im Gestrüpp der menschlichen Seele abspielt, versucht man dann die dort entstehenden düsteren, verschwommenen, unklaren Gefühle in Worte zu fassen. Wenn es sich jedoch nicht gelingt, versucht man diese durch das Phänomen "Etwas" umzuschreiben.

An dieser Stelle möchte ich auf einige Grundgedanken eines unbekannten russischen Denkers aus dem 19. Jhs verweisen: "Um die Frage zu beantworten: "Was ist das "Unausdrückbare"?" oder "Was ist ein unklares Erlebnis?, muss man den Mechanismus menschlicher Gefühle, Empfindungen erkennen. Aber dies ist unmöglich, da dieser Mechanismus ein großes Geheimnis ist. "Wissenschaftlich" erkennen wir nie, wie eine physische Form, Materie, mit dem nicht materiellen, fleischlosen Inhalt erfüllt wird, und warum unsere physische Hülle so klein ist, indem dieser Inhalt so ungeheuer groß, beinahe grenzenlos ist. Er (dieser Inhalt) ist die ganze Welt. Ja, wir kennen und erkennen nicht, was ist das Unausdrückbare, aber wir fühlen es. Indem wir den Sonnenuntergang beobachten, kommunizieren wir mit der Welt, nicht verbal, sondern durch Empfindungen: Begeisterung, Freude, Absolutes, Glück, Traurigkeit, Sehnsucht; durch die Liebe zu allem, was uns umgibt, und zu allen, von wem wir umgeben sind.

Zu den wichtigsten Umgangsmitteln mit der Welt gehört gerade das Wort. Aber, wie gesagt, die Sprache der Gefühle kann man nicht in die Sprache der Wörter übersetzen. Mit Hilfe des Wortes kann man dieses große Geheimnis nicht enthüllen/ nicht enträtseln. Afanasij Fet, einer der bekanntesten russischen Dichter, versuchte es nie zu machen. Der Dichter schrieb, dass er nicht benennen, nicht erklären, sondern etwas "der Seele zuwehen" will. Eine bessere Bezeichnung kann man für seine Einstellung zu dem Phänomen das "Unausdrückbare" nicht ersuchen...". Über das Unausdrückbare philosophierte auch Bertolt Brecht.

Das Schlimmste sei, schrieb Brecht einmal, "wenn die Dinge sich verkrusten in Wörtern, hart werden und weh tun beim Schmeißen". Man müsse die Sachen enthäuten, bös machen, füttern und streicheln und schlagen und hervorlocken. Nein, sagt er, am Anfang war nicht das Wort. "Das Wort ist am Ende. Es ist die Leiche des Dings". Und seine Leichen bringen Leben in die neue Zeit.(11)

In literarischen Texten geht es also eher nur um einen Versuch, die Gefühlssprache in die Wortsprache zu übersetzen. Dies beweisen zahlreiche Umschreibungen der Emotionen durch das Phänomen "Etwas". Vgl.:

cto-to tjazeloje, uzasnoje - Etwas Schweres, Schreckliches überkam ihn.
cto-to nepodviznoje, tjagotjascee - Etwas Unbewegliches, Bedrückendes
cto-to uzasnoje, bezobraznoje- Etwas Schreckliches. Häßliches
cto-to edkoje i zgucee- Etwas Ätzendes, Beißendes, Brennendes
cto-to dawilo - Etwas würgte das Herz
cto-to zanozilo- Etwas war einem eingesogenen Splitter ähnlich
cto-to nadrywajet - Etwas überspannt das Herz
cto-to razdirajet - Etwas zerreißt das Herz
cto-to wonzilos - Etwas bohrt sich in die Seele hinein.
cto-to skreblo - Etwas kratzte in der Seele.
cto-to sterlos zakuporilos - Etwas ist in der Seele ausgelöscht, verkorkt, vollgestopft
cto-to ledenilo (duschu) - Etwas ließ die Seele zu Eis werden etc.

Die angeführten Beispiele weisen nur auf eine mögliche Richtung des Gedankens des Autors hin und reflektieren somit eher "die Spitze des Eisbergs" (im Hinblick auf die wahren Gefühle des Schriftstellers), über dessen Inhalt er sich selbst nicht ganz im klaren ist. Nicht uninteressant ist auch der Gebrauch des demonstrativen Pronomens "eto" ("das"), welches in "Etwas-Zuständen" häufig vorkommt und eine verallgemeinernde/ generalisierende Funktion erfüllt, z. B.

Eto vzorvalo (Das hat jemanden zur Explosion gebracht); Eto vzbesilo jego (Das hat jemanden wütend gemacht); Eto potrjaslo, ubilo jego (Das hat ihn erschüttert, getötet) u.a.

Es muss betont werden, dass der "Etwas-Zustand" für deutschsprachige literarische Texte weniger charakteristisch ist. Vermutlich ist es darauf zurückzuführen, dass im russischen Welt- und Sprachbild die Kategorie der Unbestimmtheit als eines der wichtigsten konzeptuellen und sprachlichen Elemente ist. Der Trend zu unbestimmten modalen Registern allerlei Art ist im Grunde genommen in den russischen Texten aller funktionalen Stile durchaus evident. Anna Wierzbicka, die sich intensiv mit der russischen Literaturproblematik befasst hatte, betonte: "In der russischen Sprache werden anstelle einer Art unbestimmter Pronomen (wie es z. B. der Fall in allen europäischen Sprachen ist), drei (- "to", "-nibud'" und "koje" -, die keine Äquivalente in europäischen Sprachen haben), wenn auch nicht vier (z. B. "nekij", "necto" gebraucht. Diese endlosen pocemu-to (warum denn), cto-to (etwas), dolzno byt' (vermutlich) und dgl. werden, in der Regel,, so A. Wierzbicka, (z.B. in den Übersetzungen von Tschechovs Erzählungen in andere europäische Sprachen) ausgelassen"".(12)

Abschließend ist es wichtig zu beachten, dass die oben hervorgehobenen Merkmale, die die Darstellung der sprachlichen Emotionalität im russischen literarischen Diskurs kennzeichnen, in erster Linie für die klassische russische Literatur relevant sind. In der modernen russischen Literatur werden neben der emotional psychologischen Lexik bzw. gebildet - geistreichen Lexik, die an die stilistischen Normen der Standardsprache gebunden ist, auch stilistisch niedrige Wörter gebraucht, darunter: Schimpfwörter, Invektive, negativ gefärbte Ausrufe, obszöne Zonenwörter oder Matismen und dgl. (Unter den Matismen versteht man den sogenannten "schwarzen" Wortschatz, der vor allem in Gefängnissen gebraucht wird). [s. z. B. die Werke von Viktor Erofeev, Wladimir Sorokin u.a.].

 

3. Das Konzept "Traurigkeit" und seine sprachliche Darstellung im deutschsprachigen literarischen Diskurs

Die durchgeführte Analyse der Emotionskonzepte, die in der deutschen, österreichischen und schweizerischen schöngeistigen Literatur verbalisiert werden, hat gezeigt, dass das Konzept "Traurigkeit" nicht nur für das russische Welt- und Sprachbild, sondern auch für den modernen deutschsprachigen literarischen Diskurs relevant ist.(13) Aus kognitiver Sicht ist das Phänomen "Traurigkeit" mit folgenden Gegebenheiten am häufigsten verbunden: "Schmerz", "Tod", "Krankheit", "physische, psychische und geistige Defekte", "Unvollkommenheit", "Mängel", "auf den Untergang angewiesene Umwelt" ("Apokalypse"), "sterbende Natur", "negativ charakterisierende Fauna", "Gewalt" ("Mord", "Blut", Terror), die Farbe "Schwarz", "technokratische Welt" u.a.

An der Versprachlichung des konzeptuellen Modells der Traurigkeit in deutschsprachigen literarischen Texten "beteiligen sich" zahlreiche kognitive Metaphern, die negativ gefärbt sind. Die Palette lexikalischer Mittel, die für die sprachliche Darstellung verschiedenartiger trauriger Erlebnisse gebraucht werden, ist durchaus heterogen. An Vorrang gewinnt vor allem die extrem negativ gefärbte Lexik. Als verbale Repräsentanten der Traurigkeit treten hauptsächlich folgende Typen der Lexik auf: Schmerz-, Tod-, Krankheits-, Defekt- oder Mängel-, Wahnsinns-, Gewalt-, Mords-, Blutlexeme und dgl.). Wenden wir uns der Charakteristik der sprachlichen Reproduktion des konzeptuellen Traurigkeitsbildes zu.

Als Kernfaden zieht sich durch das ganze metaphorisch - sprachliche Traurigkeitsgewebe das Phänomen "Schmerz". Der Schmerz gilt als ein ewiger Begleiter der Traurigkeit. Im Mittelpunkt steht vor allem der seelische Schmerz, der sich durch nichts stillen lässt, der sehr weh tut und den man nicht loswerden kann. Vgl.:

Mit oder neben ihm wohnten andere durchaus ein wenig nach Schiffbruch aussehende Menschen, und über einige von ihnen schien ein höhnisches Schicksal in Abständen immer wieder Scheitern, Schmerz und Verdruss auszuschütten, sodass nicht gerade selten wildes Stöhnen und gewaltig rasende Verzweiflungsausbrüche Einzug hielten [E. Einzinger "Das wilde Brot"].

Was muss es für ein Schmerz sein, niemanden an seinem Totenbett zu wissen, ohne die Gewissheit abzugeben, dass eine winzige Erinnerung, ein einziger Gedanke an die armselige Person, die ICH schreit, bleibt, wenn auch nur in ein paar wenigen Gemütern für kurze Zeit fortlebt? [Ilma Rakusa "Idylle"].

In den Schmerz versinken [H. Wyss "Weggehen"]

[...] erfüllte sein Herz mit Schmerz und Mitleid [L. Wyss "Ein Sommertag"].

Der Schmerz, sie nie wiederzusehen, brennt nicht, macht ihn nur schläfrig [Ch. Brunner "Die Braut" ]

Die Zukunft deckt Schmerzen und Glücke ... [Ch. Wolf "Kindheitsmuster"]

Für die sprachliche Repräsentation der Traurigkeit ist der häufige Gebrauch der "Todlexik" kennzeichnend, die sehr detailliert und fein differenziert wird. Zahlreiche Todbilder markieren vorwiegend solche Lexeme, mit deren Hilfe der biologische Tod manifestiert wird, z. B.

Eine Art grauslichen Todes hineingestolpert, hineingestürzt war: Einfach, weil sie das Leben ohne ihn langweilig, nicht mehr der Mühe wert fand. [K. Raeber "Der Kopf].

Was muss es für ein Schmerz sein, niemanden an seinem Totenbett zu wissen, ohne die Gewissheit abzugeben, dass eine winzige Erinnerung, ein einziger Gedanke an die armselige Person, die ICH schreit, bleibt, wenn auch nur in ein paar wenigen Gemütern für kurze Zeit fortlebt? [Ilma Rakusa "Idylle"]

[...] und den Totenschädel tragen wir ja schon unter den Haaren [B. Schwaiger "Wie kommt das Salz ins Meer"]

Es wird häufig auf die Totenorte allerlei Art hingewiesen, z.B.

Ich besichtige den Friedhof und lese alle Namen und fürchte mich nicht vor freigeschaufelten Gräbern, weil die Erde ja offen ist, um uns wieder aufzunehmen, [B. Schwaiger "Wie kommt das Salz ins Meer"]

Der See eine Raffel aus Blei. Die Insel ein Totenschiff [M. Werner "Festland", S.49].

Wir sind im Totenreich. Farbloses im Farblosen [M. Walser "Ein fliehendes Pferd"] etc.

Die fürchterliche "tote Stille" und somit auch die Traurigkeit erschrecken sich auch auf die Natur, z.B. Der ganze Wald war leer und totenstill [M.R. Pisa "Damals war es anders"].

Ein weiteres kennzeichnendes Merkmal der sprachlichen Emotionalität in bezug auf den deutschsprachigen literarischen Diskurs manifestieren "Krankheitslexeme". Der Tod und Krankheit gehen bei der sprachlichen Darstellung der Traurigkeit einher (Der Kopf eines Märtyrers, nein, eines Todkranken [E. Loest "Nikolauskirche"]; Der Mensch ist "ein krankes Wesen" [B. Strauss Paare, Passanten) etc.).

Es wird auch direkt auf die typischsten, für die moderne Epoche charakteristischen Krankheiten hingewiesen, z. B.

... so waltet doch über dem letzten Akt dieser zu besinnlichen Lehrstücken umgewandelten Tragödien aller beendeten schweizerischen Existenzen etwas ganz und gar Euthanasiehaftes. [Jürg Laederach "Mördli", Schweizer Erzählungen, Bd. II].

Alles ist gut, um nur dieser Leere zu entkommen, dieser Leukämie der Geschichte und Politik ... [B. Strauss "Paare, Passanten"];

Live ist das Leben allemal ein Schock. [M. Baur "Alle Herrlichkeit"].

Aber die Lethargie wächst, gegen ihren Willen; Lethargie ist, sagt Bahar, das Gift, das man im Exil trinken muss. [L. Hartmann "Kein Kuchen für Bahar" / Schweizer Erzählungen].

Noch pessimistischer wirkt der folgende metaphorisch gemeinte Ausdruck:

Seine eigene Welt war vom Gefühl eines ewigen, fast aussichtslosen, leeren und blinden Wartens gefüllt, das Gefühl, wie man es im überfüllten Wartezimmer eines Arztes hatte, ins Unendliche ausgedehnt. [R. Menasse "Schubumkehr"].

Bei der Beschreibung der Traurigkeit werden auch verschiedenartige physische und psychische Defekte des Menschen erwähnt. Vgl.:

Aber sind wir nicht in dieser Gesellschaft bloss [...] eine Gruppe von Behinderten unter anderen... [B. Strauss "Paare, Passanten", S.105].

Wenn du die Menschenwärme abschaffst, nur weil sie unrentabel ist, wenn du den Leuten statt einem heimeligen Nest nur Kram und Plunder bietest [...], dann musst du dich Gott nicht wundern über unsere Zeit und über all die Waschfiguren und kalten Krüppel...[M. Werner "Ausgestappelt", Schweizer Erzählungen"].

[...] glotzt uns an aus zerstörten augen [..]; wir sind schon ganz weggeblieben von uns, wie leergefegt unsere seelen ... [K. Röggla "niemand lacht rückwärts", S.33].

Ich wurde diesmal in Gestalt einer Bombe ins Dasein geworfen, aus der ein Blindgänger geworden ist. [B. Frischmuth "Machtnix"].

Der Mensch sei zweifellos ein Fehler der Natur, aber der Kleinbürger sei die Erhebung des Fehlers zum Programm. [M. Walser "Ein fliehendes Pferd", S. 48].

Hierzu gehört eine negative Charakteristik intellektueller Eigenschaften eines modernen Menschen, z. B.

Dass man des Nachts, um seine eigene Verlassenheit gerollt, sich erinnert, halb verrückt wird vor Sehnsucht ... [B. Noack "Die Züricher Verlobung", S.359].

[...], die im Bilde ihres Wahns nur die Liebe selbst erfüllen kann. [B. Strauss "Paare, Passanten"].

Jäger, und so unbekümmert, wie es uns schwachsinnige Zigaretten-Reklamen heute weismachen wollen. [Jürg Federspiel "Drei Kämpfer ohne Widerstand / Schweizer Erzählungen", S.335].

Eine kulturelle Egalität, die jedem Ding gleichen Erscheinungswert zubilligt, ist die Wüste des Bewusstseins; und sie wächst, sie drängt an den Rand des Idiotismus ... [B. Strauss "Paare, Passanten", S.196].

Im verbalen Todfeld wird der Mensch nicht als Mensch, sondern als Existenz dargestellt. Vgl.: "Tragödien aller beendeten schweizerischen Existenzen" [Jürg Laederach "Mördli"] und dgl. Selbst das Leben wird als Schock determiniert (Live ist das Leben allemal ein Schock [M. Baur "Alle Herrlichkeit"].

Im modernen deutschsprachigen literarischen Diskurs sind negativ gefärbte mit der Traurigkeit verbundene Naturbilder keine Seltenheit. Die Natur, von der ein leidender Mensch umgeben wird, entspricht seinem Zustand. Sie stimmt ihm zu und quasi leidet mit. Die Traurigkeit korreliert mit solchen Naturbildern wie: "Finsternis", "Gräue", "Schwärze", "Abend", "Untergang", "Tod" und dgl. Die Tiefe der Traurigkeit, ihre Grenzenlosigkeit (im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Natur und Menschen) wird in deutschsprachigen literarischen Texten aufgrund folgender formaler Mittel expliziert:

1. Superlativformen entsprechender Adjektive: "Die finsterste Gräue" (M. Baur, "Aller Herrlichkeit"); "Die Schweissperlen des einsamsten Sich-überlassen-Seins" [B. Strauss "Paare, Passanten"];

2. Verschiedene Typen der Präfigierung- und Suffigierung: "Kykladischer Überhelle (G. Bachmann); "Unüberwindliche, unausschaltbare Lebensmüdigkeit." (B. Strauss); "überlange Schatten" (M. Baur); "Unerheblichkeit seiner Existenz ..." (B. Strauss)];

3. Adverbielle Totalisatoren: "Glanzlos grau die Seen" [M. Baur]; "Es ist ein jämmerlicher Traum, ungeheuer, mein Leben." [F. Philipp Incold "Aida N.", Schweizer Erzählungen, Bd. II].

4. "Schwarze" Farbkomposita: "... die das dunkle Grau beider Vulkankegel in der Caldera pechschwarz erscheinen lässt." [G. Bachmann "Der Engel der Vergangenheit"]; "...am lavaschwarzen Strand unter lavaschwarzem Wolkenhimmel; Morgendämmerung am steingrauen Himmel." [B. Strauss "Paare, Passanten"].

5. Quantitative Charakteristik der Traurigkeit: "Vorhandendschwere auf Landschaft und Herz." (M. Werner); "Was uns zentnerschwer drückt." (G. Grass); "Der Überdruss, die Unbeweglichkeit, eine grosse Müdigkeit, eine gezielte Stummheit, die Trägheit bilden die Kehrseite des Denkens - oder vielmehr seine Begleitung..." [B. Strauss "Paare, Passanten"].

Die obigen Beispiele weisen auf einen unabwendbaren Untergang, auf Weltende hin. Gleichzeitig betonen sie den höchsten Grad der Expressivität der Traurigkeitserlebnisse.

Die Faunabilder, die zur verbalen Explikation menschlicher Traurigkeit gebraucht werden, beziehen sich in der Regel auf die Bezeichnungen der Tiere, die wiederum eher negativ wahrgenommen werden. In der Regel geht es dabei um Vergleiche eines Menschen mit:

a) Mäusen: [...] die gesellschaft ist [...] ganz dicke mit den ingenieuren und nicht etwas mit so frequenzmäusen an philosophie [K. Röggla "abrauschen"].

b) Kriechtieren: ... auf meinem Nacken hockt schon jahrelang ein Doppelzentnersack, [...], ein Gemisch aus Traurigkeit und Sünden, ein schwarzes Kriechtier bin ich, behüt Euch [M. Werner "Ausgezappelt"]

Das düstere hoffnungslose sprachliche Bild der Traurigkeit wird durch das Vorhandensein der Gewaltlexeme mehrfach verstärkt, die allein von Semantik her sehr aufschlußreich sind. Hier sind einige Belege:

Als Zerschmetterte aber leben wir weiter [M. Walser "Ein fliehendes Pferd].

...blutige Reste gemordeten Daseins [B. Strauss "Paare, Passanten"];

Leben ohne Liebe ist Mord [W. Schmidli "Von Sommer zu Sommer in meiner Nähe"];

Der Mörder, wenn er sein Werk getan [...] [K. Raeber "Der Kopf"]

Dies Leben hat [...] sein Riesengefängnissystem von Ehren und Pflichten [P. Nizon "Canto auf die Reise als Rezept" ].

die welt als taubenschlag aus angebot und nachfrage, aber halliert sich praktisch von allen [K. Röggla "abrauschen", S.73].

Die Gewalt in all ihrer Vielfalt wird auf den Menschen gerichtet. Sie wird sehr häufig mittels der "Zerstörungs- bzw. Vernichtungsverben" verbalisiert, die ihrerseits auf einzelne konkrete Typen des Menschenmords zurückgreifen. Beachtenswert ist dabei, dass der Korpus solcher Mordsverben außerordentlich groß ist (Vgl.: Der Mörder, wenn er sein Werk getan, seine Pflicht erfüllt, wenn er diejenige, die er nicht mehr ertragen konnte, deren Leben sein eigenes Leben, deren Gegenwart seine eigene Gegenwart erdrückte, erstickte, zermalmte, getötet hatte [...] [K. Raeber "Der Kopf"]). Als Schlüsselwörter fungieren in der Gewaltsprache hauptsächlich folgende Lexeme: "Mord", "Tod", "Blut" und dgl.

Die sprachliche Darstellung der Traurigkeit ist in der deutschsprachigen schöngeistigen Literatur vor allem mit den Farben "Schwarz" und "Grau" verknüpft (pechschwarz, lavaschwarz, aus den dunkelgrauen Schatten, die finsterste (Gräue), am steingrauen Himmel, "jede alltagsgrau verhängte Stunde", meine Seele war schwarz, gewaltige schwarze Rauchwolken etc.).

Eine Art Apokalypse stellt die Umweltlexik dar, die eine höchst negative Wertung zum Ausdruck bringt und als ein wichtiges Element des Traurigkeitsfeldes auftritt, z. B.

Tief hing der Himmel über Berlin, sicherlich drohte Smog in der Innenstadt, auch hier draussen vorm Grunewald atmete es sich schwer [E. Loest "Nikolauskirche"].

...aber kaum sitzt man oben, kann der blick (wie im fingernagel versteckt) nur die öde graslandschaft auf und abfahren... [K. Röggla "niemand lacht rückwärts"].

In welche Sprache wollten die Abgaswolken hinter den Büschen, die die Allee begrenzten, übersetzt werden? [E. Einzinger "Das wilde Brot"].

Vorabendschwere auf Landschaft und Herz. Der See eine Raffel aus Blei. Die Insel ein Totenschiff [M. Werner "Festland"].

Aus den angeführten Beispielen geht hervor, dass der Mensch vor der Umweltkrise steht, dass er nicht imstande ist, etwas zu ändern. Alles ist vergiftet, zerstört, vernichtet. Es ist so, als ob es keinen Ausweg, keine Hoffnung gäbe.

Großer Wert wird bei der sprachlichen Darstellung der Traurigkeit auf verschiedenartige metaphorische Neologismen gelegt. Ihre Bildung geht in der Regel auf den Bereich der neuesten modernen technischen Geräte wie auch auf die letzten (modernsten) Errungenschaften des wissenschaftlich technischen Fortschritts zurück. Es handelt sich um die sogenannte "Technosprache"(technokratische Sprache) z. B.

Einer Jugend, die sich beim HipHop [...]bereits zu sehr mit politischen Inhalten [...] konfrontiert sieht, muss der biedere Minimalismus der Techno-Konservenmusik sozusagen zu rettenden Offenbarung werden [E. Einzinger "Das wilde Brot"]

[...] und wie ich langsam in einer wohnlandschaft [...] beinahe endgültig steckengeblieben wäre, als fischfanggerät, als holzschachtel, die man öffnet, um ein lied zu hören, als kopiermaschine, ja, als kopiermaschine [K. Röggla "niemand lacht rückwärts", S.54].

Ich war ein Roboter, dessen Leben in einem sich ständig wiederholenden Ritual von Gewohnheiten verlief [E. Schmidt "Zwischen der Zeit"].

Ich kam mir vor wie ein Diktiergerät [M. Werner "Bis Bald"].

[...] und heraus kommt die innenfüllung: papierfetzen, dosen, bleiche gestalten, gesichter wie autos ...[K. Röggla "Abrauschen"]

ich war auch der Briefträgersohn, ferner der bildungsarme Bürogummi, ein Schlucker ohne Schliff und Zukunft, eine Null [M. Werner "Festland]

Ein zum Asphaltliteraten verkommener Ingenieur. Eine gescheiterte Existenz [M. Roda Becher "Augenblicke in Montevideo"].

[...] dann musst du dich Gott nicht wundern über unsere Zeit und über all die Waschfiguren und kalten Krüppel, in deren gähnendem Gemütsloch eine Plastiklase wuchert, gefüllt mit Hass und Angst und falscher Strammheit [M. Werner "Ausgestappelt"].

Auch sakrale Lexik ist im verbalen Traurigkeitsfeld präsent. Der Mensch fristet sein Leben. Er quält sich selbst und lässt die anderen bzw. seine nähere Umgebung, einschließlich die Natur, quälen (Vgl. Märtyrer, Paradies, Hölle) etc. Hierzu gehört folgendes Beispiel: Das Licht fiel schräg herein, es wurde schwächer, wenn eine Wolke vor die Sonne zog, blendete jetzt auf und liess Pfarrer Reichenbork noch blasser und knochiger erscheinen. Der Kopf eines Märtyrers, nein, eines Todkranken [E. Loest "Nikolauskirche"].

Als Bestandteil des konzeptuell- sprachlichen Modells der Traurigkeit gelten Mythologeme, d.h. Lexeme, die auf mythologische Gestalten Bezug nehmen, z.B.

... und darüber der himmel, ein einziger monsterfaden, der sich täglich abwickelt und nichts weiter (K. Röggla);

Der Einsamkeits-Kasper, der seinen äusseren Anschein allein dazusitzen am Restauranttisch, kaum ertragen kann ... [B. Strauss "Paare, Passanten"].

man ist ja heutzutage ein schneemensch, völlig aus wolle bestehend, und zieht man am faden, dann löst sich der ganze sic-beulen-pulli-auf [K. Röggla "Abrauschen"].

Und wenn ich zu den Wolken hinaufschaue, sehe ich dort keine Königin von Saba oder etwa die des Himmels, sondern eher einen dahinziehenden Strassenköter [E. Einzinger "Das wilde Brot"].

Das Gold kalter Hitze verheisst Träume, die ihm Apollo schickt [G. Bachmann "Der Engel der Vergangenheit" u.a.

Das lexikalische Modell der Traurigkeit, das für den modernen deutschsprachigen literarischen Diskurs charakteristisch ist, wird durch das Vorhandensein der Fremdwörter ergänzt. In der Regel stammen sie aus dem Englischen, Französischen und Lateinischen. Hier sind einige Belege:

[...], da uns die Schrecken und Überraschungen unseres Zustandes, life is shopping [G. Leutenegger "Das verlorene Monument"].

Wir haben unser Leben zum eigenen Nutzen optimiert und wollen dabei bleiben [E. Loest "Nikolauskirche", S.373].

Jeder weiss, dass wir zu viele sind: jeder ahnt, dass die Städte kolabieren werden; dass die Natur keine Zukunft hat; dass unsere Kultur Zeichen der Infantilität zeigt; dass die Balance zwischen Vernunft und Gefühl beim Teufel ist [M. Krüger "Himmelfarb"].

Der Fanatismus und die Kanonenlust und jede andere Niedertracht und Narretei ist letzten Endes nichts als Wärmemangel, und nicht umsonst heisst es vom Teufel, sein Schwanz sei kalt wie Eis [Markus Werner "Ausgezappelt" ]

... so waltet doch über dem letzten Akt dieser zu besinnlichen Lehrstücken umgewandelten Tragödien aller beendeten schweizerischen Existenzen etwas ganz und gar Euthanasiehaftes [Jürg Laederach "Mördli" ].

Wenn du die Menschenwärme abschaffst, nur weil sie unrentabel ist, wenn du den Leuten statt einem heimeligen Nest nur Kram und Plunder bietest und sie dann dressierst, das Möllige als läppisch zu empfinden ...[M. Werner "Ausgestappelt", S.172 / Schweizer Erzählungen"].

Eine große Anzahl lexikalischer Mittel, die zum Ausdruck der Traurigkeit dienen, bilden Komposita, unter denen vorwiegend verschiedenartige Zusammenrückungen an Vorrang gewinnen. Zum Beispiel:

Für Flaubert war das blosse Vor-sich-hin-Leben schon zu anstrengend [B. Strauss "Paare, Passanten"]

Die Schweissperlen des einsamsten Sich-überlassen-Seins [B. Strauss "Paare, Passanten"]

aber schon hat das gute tier "pluspunkte-sammeln-im-leben" seinen bogen um uns zu ende beschieben ... [K. Röggla "niemand lacht rückwärts"]

und zieht man am faden, dann löst sich der ganze sic-beulen-pulli-auf [K. Röggla "Abrauschen"].

arbeitsamt: da sind sie schon, die meerschweinchen - taten ...[K. Röggla "Abrauschen"] .

Dabei war das Schildchen entbehrlich, denn die Nicht-Blicke der Flanierenden verraten, was man geworden ist: eine Zumutung, eine Tränensackexistenz, ich nehme zur Not den Tod in Kauf, niemals das Ende der Anziehungskraft [M. Werner "Festland", S.39].

Dies Leben hat [...] sein Riesengefängnissystem von Ehren und Pflichten [P. Nizon "Canto auf die Reise als Rezept" ].

Stilistisch niedrige Lexik nimmt an der verbalen Explikation der Traurigkeit nur ausnahmsweise teil (z. B. Diese Frau fühlte sich nach dem Fernsehgespräch bestimmt nicht besser, sondern schlechter, abgenutzter, ja wirklich, als ob man an ihr gefressen hätte.[F. Hohler "Der neue Berg"].

Aufgrund der durchgeführten Analyse der sprachlichen Repräsentation der Traurigkeit im deutschsprachigen literarischen Diskurs lässt sich schlussfolgern, dass eine dominierende Stelle im semantisch- lexikalischen Feld der "Traurigkeit" die "Buchlexik" einnimmt, die ihrerseits zwei große Wortklassen umfasst: emotional -psychologische und intellektuell -geistreiche Lexik, die hauptsächlich aus den Bereichen der Philosophie, Medizin, Naturwissenschaft, Physik, Kulturwissenschaft, Ökologie, Politökonomie u.a. entnommen wird. Von großer Bedeutung sind Umweltlexeme, deren Semantik zumeist pejorativ ist. Die Liste der Lexeme, mit deren Hilfe das verbale Feld der Traurigkeit manifestiert wird, lässt sich durch die Wörter aus dem religiösen und mythologischen Bereich ergänzen. Kennzeichnend ist für die "sprachliche" Traurigkeit im deutschsprachigen literarischen Diskurs das Vorhandensein aktueller technokratischer Lexik, die sich auf den Bereich moderner technischer Geräte bezieht. Wie oben erwähnt wurde, gewinnen "graue" und "schwarze" Farblexeme an Vorrang. Die meisten Faunabezeichnungen, die auf die Traurigkeitserlebnisse rekurrieren, werden vorwiegend mit negativen Gegebenheiten identifiziert. Zu den relevanten Merkmalen des konzeptuellen Modells der Traurigkeit gehört der höchste Grad der Expressivität verschiedenartiger Traurigkeitserlebnisse. Es sei betont, dass ein höchst expressives sprachliches Bild der Traurigkeit nicht zuletzt durch den Gebrauch zahlreicher Komposita erreicht wird, mit deren Hilfe feine und subtile Schattierungen des Vorkommens der Traurigkeit reflektiert und nuancieret werden. Bei der Verbalisierung der Traurigkeit sind auch Fremdwörter nicht wegzudenken. Dialekte und stilistisch niedrige Lexik stehen im deutschsprachigen literarischen Diskurs erst an der Peripherie des semantisch - sprachlichen Feldes der Traurigkeit.

 

4. Schlussbemerkungen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der sprachlichen Darstellung der Emotionalität in deutschsprachigen und russischen literarischen Texten

Die Sprache der schönen Literatur in Deutschland, Österreich und in der Schweiz richtet sich in erster Linie an alle deutschsprachigen Leser, und die Schriftsteller schliessen sich bewusst an den normativen Sprachgebrauch an, um überall Aufnahme zu finden. Aus diesem Grunde sind die Unterschiede in der sprachlichen Darstellung des emotionales Weltbildes in diesen Sprachkulturen nicht so stark ausgeprägt (im Vergleich zu russischem Emotionsfeld).

Das Österreichische Deutsch weist jedoch in der verbalen Darstellung der Emotionen im literarischen Diskurs etwas mehr Variationen verschiedener Art auf und hat mehr Unterschiede zum deutschländischen Standardvariante, als dies z. B. beim Deutschschweizerischen der Fall ist. Dies erklärt sich dadurch, dass die österreichische Standardsprache auch von den anderen autochthonen Volksgruppen (wie in anderen Ländern auch mit eigener Sprache und Kultur) und von dem Erbe aus der sogenannten Donau- Monarchie, das verwaltet und gepflegt wird: Tschechen und Slovaken (besonders in Wien) Kroaten und Ungarn (im Burgenland), Slovenen (in Kärtnen und der Steiermark), Roma und Sinti (in Wien und im Burgenland) mitbestimmt wird, weil sie ihren Wortschatz ins Deutsche liefern.(14) Im Hinblick auf die deutschschweizerische schöngeistige Literatur scheint mir die folgende Äußerung von Hans Bickel interessant zu sein:

Vielen Deutschschweizern fehlt der präzise standardsprachliche Wortschatz, wenn es beispielsweise um das Essen oder die Küche, die Einrichtungsgegenstände in der Wohnung oder um emotionale Angelegenheiten geht. Über solche Dinge sprechen die allermeisten Schweizer ausschliesslich in der Mundart, so dass die Umstellung auf die Standardsprache den meisten nicht leicht fällt.(15)

Allerdings muss man betonen, dass nach wie vor die Schweizer Literatur deutscher Sprache eine Literatur in Standardsprache ist. Die große Zahl von Schweizer Autoren konnte sich "im Rahmen der internationalen deutschen Literatur einen Namen machen".(16) Bei der Beschreibung vielfältiger emotional psychologischer Erlebnisse bedienen sich die Schweizer Autoren in ihren Werken hauptsächlich des standardsprachlichen Wortschatzes. Dies bestätigen auch die folgende Feststellungen von Walter Haas. Nach der Meinung dieses Sprachwissenschaftlers wird in der Schweiz in allen gesprochenen Domänen von allen Angehörigen aller Schichten Dialekt gesprochen, während der Standardsprache allen schriftlichen Domänen überlassen bleiben, die in der Regel den Normen der Standardsprache entsprechen. Es wird jedoch festgestellt, dass "die linguistische Identität der schweizerdeutschen Mundart heute vor allem durch die Lautung und die "Grammatik" garantiert wird. Der Wortschatz dagegen wird in wichtigen Lebensbereichen immer standarddeutscher und internationaler".(17)

Die schöngeistige Literatur aller Weltkulturen, in welcher in komprimierter Form ein großer Teil aller Sprachressourcen konzentriert ist, zeichnet sich durch eine Vielzahl und einen besonderen Reichtum an emotiv-wertenden Wörtern aus, aufgrund derer menschliche Emotionen verbalisiert werden. Zu den gemeinsamen Merkmalen in bezug auf die sprachliche Explikation der Emotionalität in vier literarischen Diskursen gehören:

Die Unterschiede in der verbalen Explikation menschlicher Emotionen in deutschsprachigen und russischen literarischen Texten können wie folgt zusammengefasst werden:

Das letzte Untersuchungsergebnis ist aufs Engste mit dem russischen nationalen Charakter verbunden und kann als ein eigentümliches Zeichen der russischen Mentalität, Psychologie und Kultur betrachtet werden. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten der Psychologen, Kulturwissenschaftler, Philosophen im In- und Ausland weisen auf die Neigung des russischen Volkes zur Emotionalität hin, die auch in der Sprache ihren Ausdruck findet.(18) Der Trend der Russen zur außerordentlich subtilen Differenzierung allerlei emotional psychologischer Gegebenheiten, spiegelt sich auch im literarischen Diskurs wider. Erich Müller-Kamp, einer der Kenner der russischen Literatur des XIX. und des XX Jhs, betonte, dass die russische Literatur durch die Kraft der Schilderung und die kunstvolle Darstellung seelischer Vorgänge gekennzeichnet ist.(19) Es darf nicht nur an die dichterische Fassung des russischen Erlebnisses gedacht werden, so E. M. Kamp, sondern es gilt vor allem für die unmittelbare Auswirkung der russischen Wortkunst, deren Gewalt über die Grenzen drang und in der gegenwärtigen jungen Literatur der Welt noch immer nachwirkt.(20)

© Sinaida Fomina (Universität für Architektur- und Bauwesen, Woronesh, Russland)


ANMERKUNGEN

(1) W. von Humboldt 1876, S. 31

(2) A. Wierzbicka 1997, S.21

(3) Arutjunova N. D. 1976

(4) Jung 1931, S. 175.

(5) Fomina 1999, 2001.

(6) A. Wierzbicka 1997

(7) Fomina 2003

(8) ARISTOTELES. Rhetorik. 1385 13 ff

(9) Lessing 1756, S. 38.

(10) Awwa Dorofej, 1895. S. 177-180.

(11) Birgit Lahann 1999, S.12-13

(12) A. Wierzbicka 1997.

(13) s. darüber ausführlich: E.A. Mokschina 2002

(14) Haumann S., Otto R., Schmölzer-Eibinger S. u.a. 1998, S. 9

(15) H. Bickel S.22.

(16) W. Haas 1990, S.315-318

(17) Ebenda. 1990, S.329

(18) s. darüber A.Wierzbicka 1997; E. Müller-Kamp 1947, A. Litschev 2000 u.a.

(19) Müller- Kamp E. 1947, S.313.

(20) ebenda 1947, S. 313.


LITERATUR

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6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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Sinaida Fomina (Universität für Architektur- und Bauwesen, Woronesh, Russland): Emotionskonzepte und ihre sprachliche Darstellung in deutschsprachigen und russischen literarischen Texten. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_1/fomina15.htm

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