Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Rudolf Muhr (Universität Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kroatisch und Serbisch zwischen Verständnis und Missverständnis - Eine Dokumentation

Velimir Piškorec (Universität Zagreb, Kroatien)

 

Abstract

Croatian and Serbian - languages torn between understanding and misunderstanding - A documentation

This article deals with the Croatian language as the offical language in Croatia, and the Serbian language being the official language in Serbia-Montenegro. In addition to Bosnian, both languages are also official languages in Bosnia-Hercegovina. From a system linguistic perspective, Croatian and Serbian are languages with many structural similarities, which make them more or less mutually intelligible. The standardization process of both languages goes back to the first half of the 19th century, when the language planners decided to take the Štokavian dialect as a fundament for both Serbian and Croatian, because the speakers of Štokavian were the most numerous among the speakers of South Slavonic dialects. This is why these two languages were for the most part of the 20th century seen as two varieties of a one, Serbo-Croatian language. The author gives a short overview of social, historical and political issues concerning the standardization processes of both languages. Presented are also recent attitudes of Croatian and Serbian linguists towards the historical and present (socio)linguistic situation in Croatia and Serbia-Montenegro.

 

1. Welchen rechtlichen Status haben Serbisch und Kroatisch?

Die kroatische Sprache ist die offizielle Sprache in der Republik Kroatien(1) und die serbische in der Republik Serbien-Montenegro.(2) Beide Sprachen genießen den Status einer offiziellen Sprache auch in Bosnien-Herzegowina.

2. Welche Beziehung gibt es zwischen den Bezeichnungen "Serbisch" und "Kroatisch" und der Bezeichnung "Serbokroatisch"?

Die beiden Sprachen wurden sowohl in Ex-Jugoslawien als auch im Ausland mit dem Gesamtnamen "Serbokroatisch" bezeichnet. Die gängige Auffassung bestand darin, dass es beim Serbokroatischen um eine Sprache mit (zumindest) zwei Varianten ging. Eine solche Auffassung finden wir z.B. in Metzler-Lexikon Sprache (1993:549):

"Serbokroatisch. Slawische Sprache des südslawischen Zweigs. S. wird von den ca. 16 Millionen Sprechern mit kroat., serb. und montenegr. ethn. Zugehörigkeit in den entsprechenden Teilrepubliken Jugoslawiens sowie in den Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina benutzt. (...) Das S. existiert, wie durch seinen Doppelnamen angedeutet, in zwei regional fixierten Varianten mit einer langen hist. Tradition, deren Differenzierung (noch) so gering ist, daß sich Sprecher beider Varianten problemlos verständigen können. Von der slawist. Sprachwissenschaft werden sie deshalb als Repräsentanten einer einzigen Sprache angesehen mit einer westlichen Variante, dem lat. geschriebenen Kroatischen mit Zagreb als kulturellem Zentrum, und einer öst. Variante, dem in einem kyrill., an die russ. bürg. Schrift adaptierten Alphabet (Kyrillica) geschriebenen Serbischen mit Belgrad als kulturellem Zentrum. (...) Das S. existiert als Schriftspr., d.h. als eine von Kroaten und Serben benutzte, auf dem am weitesten verbreiteten Dialekt, dem Štokav.-Ijekav., beruhende Standardspr., erst seit der ersten Hälfte des 19. Jh."

3. Was führte dazu, dass die Sprachbezeichnung "Serbokroatisch" nicht mehr bzw. immer weniger aktuell ist, und zwar sowohl im In- als auch im Ausland?

Grundsätzlich geht es darum, dass in der genannten Region Südosteuropas Sprache an sich zu einem wichtigen Bestandteil der nationalen Identität wurde. Die Sprachzugehörigkeit zu einer damaligen Varianten des Serbokroatischen wurde mit der nationalen Zugehörigkeit gleichgesetzt. Die Unterschiede zwischen den Varianten des Serbokroatischen (orthographische, phonologische, morphologische, lexikalische, phraseologische, syntaktische) wurden als Schibboleths aufgefasst, die auch dazu dienten, die Zugehörigkeit zu einer Nation zu symbolisieren und sich von der anderen Nation zu distanzieren.(3)

Dieses Phänomen spielte sich im breiteren soziopolitischen Rahmen des blutigen Zerfalls Jugoslawiens Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ab. In diesem Zusammenhang hat die sog. symbolische Funktion der Sprache an Intensität gewonnen, d. h. die Sprache wurde zu einem der Symbole der nationalen Identität.(4)

Die relativ hohe gegenseitige Verständlichkeit (mutual intelligibility) spielte in den zugespitzten politischen Gegebenheiten so gut wie keine Rolle mehr, weil die Kommunikation zwischen den Sprachgemeinschaften in Kroatien und Serbien durch den Krieg in Kroatien reduziert und zu bestimmten Zeiten völlig unterbrochen wurde.

4. Gab es also eine serbokroatische Standardsprache?

Wegen der genannten Unterschiede auf allen sprachlichen Ebenen zwischen den damaligen Varianten des Serbokroatischen kann nicht von einer einheitlichen Standardsprache gesprochen werden. Eine Erklärung dieser Situation finden wir bei Katicic´ (1996:41):

"So entstand die aus der gängigen Sicht paradoxe Situation, daß man auf "Serbokroatisch" ohne geradezu akrobatische Bemühungen keinen Text hervorbringen konnte, der nicht schon nach einigen Worten als zu einer der schriftsprachlichen Traditionen gehörend erkannt worden wäre, was zur Folge hatte, daß sich die Träger dieser Tradition mit ihm identifizierten, die Träger der anderen Tradition aber von ihm distanzierten."

5. Warum waren es Kroaten, die in den 90er Jahren präskriptive Eingriffe in die Sprache unternahmen, die von der serbischen Linguistik als "extremer Purismus"(5) bzw. "extreme Kroatisierung"(6) angeprangert wurden?

Das Problem bestand darin, dass es schon im 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (das 1929 zum Königreich Jugoslawien wurde), aber auch in Titos Jugoslawien (1945-1991) von der serbischen Seite immer wieder Versuche gab, über andere südslawische Völker in diesem Staatsgebilde zu dominieren. Die sprachliche Dimension dieser hegemonialen Ansprüche fand ihren Ausdruck auch darin, dass man versuchte, der kroatischen Standardsprache einige Merkmale des Serbischen aufzuzwingen.(7) Diese Erscheinung wird vom deutschen Slawisten L. Auburger (1999:2-3) als Serbokroatismus bezeichnet:

"Die großen, zeitweise symbiotisch fruchtbaren, zeitweise aber auch unheilvollen politischen Geschehnisse in der Geschichte der Kroaten konfrontierten das Kroatische mit dem Lateinischen, mit dem Deutschen, mit dem Ungarischen, mit dem Italoromanischen bzw. Italienischen und mit dem Osmanisch-Türkischen als lange Zeit ko- oder alleindominante Sekundärsprachen in wichtigen Teilen seines Gebietes."

"Keiner der genannten Sprachkontakte ist jedoch für die Existenz des Kroatischen als Einzelsprache zur Bedrohung geworden. Dies war dem ab Anfang des 19. Jh.s. zunehmenden engeren Kontakt mit dem Serbischen vorbehalten. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. ist dieser Sprachkontakt programmatisch betrieben und ideologisch rationalisiert worden. Gerichtet war er auf die Unifizierung von Kroatisch und Serbisch zu Gunsten des Serbischen als Endziel. Das Programm dieses Sprachkontaktes als eines komplexen, sprachgeschichtlich und insbesondere sprachpolitisch dynamischen Ganzen wird hier mit dem Terminus Serbokroatismus bezeichnet. Der Serbokroatismus hatte ein "Serbokroatisch" als eine neue Einzelsprache zum Ziel, die Ergebnis der sprachplanerisch kontrollierten kroatisch-serbischen Sprachkontakte sein sollte, wobei das Serbische klar zu dominieren hatte. Zu den Komponenten des "Serbokroatismus" gehörten eine serbisierende, unitaristische Sprachenpolitik, ein Panserbismus mit der ideologischen Vorgabe eines real ethnischen und eines optional deklarierten Serbentums, sowie ein großserbischer außerpolitischer Expansionismus."(8)

6. Was ermöglichte die Entstehung und Wirkung des Serbokroatismus?

Hier muss man sich die Sprach- und Kulturgeschichte der beiden Völker ansehen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in Kroatien als Teil der Habsburger Monarchie die sog. Illyrische Bewegung, die sich zum Ziel setzte, durch eine sprachliche und kulturelle Einheit aller Südslawen auch eine politische Einheit zu schaffen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war in der kroatischen Schrifttradition das Prinzip der Dreidialektalität wirksam, d. h. kroatische Autoren bedienten sich in ihren Werken aller drei Dialekte (des Kajkavischen, des Cakavischen und des Štokavischen), die von den Kroaten gesprochen wurden und auch heute gesprochen werden. Dazu Auburger (1999:7):

"Eindringen konnte der Serbokroatismus in die Geschichte des Kroatischen auf Grund bestimmter günstigen Gegebenheiten bei der Bildung einer gesamtkroatischen Literatursprache. In diesem Bildungsprozess ist das kroatische ijekavische Neuštokavische in der Mitte des 18. Jhs. zum einzigen lektalen Grundtyp der zukünftigen neuen gesamtkroatischen Literatursprache geworden. Das Cakavische war bereits im frühen 17. Jhs. vom Štokavischen als großräumige, überregionale Literatursprache abgelöst worden. Das Kajkavische ist in den 1830-er Jahren durch die Haltung der Illyristen unter der Führung von Ljudevit Gaj dem kroatischen Štokavischen als einzigem lektalen Grundtyp der neuen gesamtkroatischen Literatursprache untergeordnet worden."

Die Entwicklung einer gesamtkroatischen Literatursprache vom štokavischen Typ hat "dem Serbokroatismus seit Vuk S. Karadzic´ einen Anknüpfungspunkt für das Serbische, das nur štokavisch ist, geboten und der großserbischen Parole, dass alle Štokavischsprachigen auch Serben seien, ihre Wirkung gegeben"(9).

7. Welche Rolle kam dabei dem serbischen Sprachreformer Vuk Stefanovic´ Karadzic´ zu?

"Die Sprache im geistlichen und weltlichen Gebrauch [bei den Serben, V.P.] war zunächst das Russischkirchenslavische mit Einflüssen aus der russischen Schriftsprache. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s entstand aus den kommunikativen Bedürfnissen des sich entwickelnden kulturellen und geistigen Zentrums Serbiens Novi Sad das sog. Slavenoserbische, eine hybride Sprache mit Anteilen aus dem Russischkirchenslavischen, Russischen und der serbischen Volkssprache. Die eigentliche Wende begann an der Schwelle zum 19. Jh. D. Obradovic´ setzte sich in seinem Schaffen entschieden für die Verwendung der Volkssprache in der Literatur ein. Sie wurde, vermutlich auch in ihrer städtischen Varietät, zu einem wichtigen Fundament für die moderne Schriftsprache.
Als Exponent bei der Kodifizierung insbesondere der serbischen Schriftsprache gilt Vuk St. Karadzic´ (1787-1864). Zu nennen sind seine Reformbemühungen um das kyrillische Alphabet, die Einführung eines neuen Orthographiesystems, vor allem aber die Abfassung von Hilfsmitteln wie der Grammatik Pismenica serbskoga jezika po govoru prostoga naroda (1814), des Srpski rjecnik (1818), wiederum einschließlich einer Grammatik, und schließlich der Kleinen serbischen Grammatik (1824)."(10)

Die Sprachauffassung und Methodik der Kodifizierung von Vuk Karadzic´ beschreibt Erdmann-Pandzic´ (1996:148-149) folgendermaßen:

"Als Vorbild bezeichnete er (Vuk V.P.) nun die Sprache der "Serben des römischen Ritus", also der Menschen, die sich nicht als Serben auffaßten. Das stellte für Vuk Karadzic´ kein Problem dar, da der subjektive Nationsbegriff für ihn nicht existierte und der objektive Nationsbegriff auf das Sprachkriterium begrenzt wurde, das von ihm ausschließlich für die serbische Nation reklamiert wurde. Aus der lexikalischen Tradition der "Serben des römischen Ritus" übernahm er zwei Drittel des Wortschatzes seines Serbischen Wörterbuchs von 1818. Die ostherzegowinische Sprache, die in diesem Wörterbuch besonders belegt sein soll, betrifft daher die Wiedergabe der Aussprache in der Schreibung der Laute, nicht jedoch die Lexik, wie häufig angenommen wird."

"Die Frage nach politischen und sprachlichen Vorteilen der Einheitssprache von Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen auf der Grundlage von Vuk Karadzic´s Vorarbeiten unter dem Namen Serbokroatisch muß wegen der Instrumentalisierung des Spracharguments durch den serbischen Nationalismus und der restriktiven Auswirkungen der Einheitssprache auf die kroatische Sprache negativ beantwortet werden. Die Rezeption von Vuk Karadzic´ hat die von ihm genutzten Quellen unzureichend thematisiert und nicht angemessen herausgestellt, daß die Kroaten und Vuk Karadzic´ bei der Entwicklung der štokavischen Sprache dieselbe kroatische Tradition nutzten. Stattdessen wurde er als der Begründer der štokavischen Standardsprache für Serben und Kroaten rezipiert."

8. Wie war die Reaktion der kroatischen Seite auf das Paradigma des Serbokroatismus nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens 1991?

Die Ideologie des Serbokroatismus löste in Kroatien eine Gegenreaktion aus, die in einer Art Purismus ihren Niederschag fand, der nicht nur gegen die sog. Serbismen ausgerichtet war, sondern mancherorts gewisse Unsicherheiten im aktuellen öffentlichen Sprachgebrauch zu Folge hatte. Dazu Kalogjera (2002:10-11):

"The war that broke out reinforced the symbolic role of the forms of language used by both sides, including the written form (the Cyrillic - regardless of its role in the history of Croatian literacy - and Latin scripts). They were made to appear "the loaded weapon" (...) that had to be exposed and opposed. The title of an article "New fronts historiographical, philological and ethnographical are being opened" (...) echoes the view of some scholars on the situation. This prompted the involvent of the masses in the matters of language that could be witnessed everywere:in the shops and in the market place, in offices and hotels. Quarels broke out over whether hiljada 'one thousand' or kesa 'bag' or arhiv 'archive' or krevet 'bed', widely used in appropriate registers, were admissible in Croatian when those in the know say that only tisuc´a, vrec´ica, postelja and pismohrana were beyond doubt Croatian. (...) That the dominant politics was not only about Croatian national interest but also against the previous system and, in lay interpretation, the Croatian used in the previous system, was reflected in the rejection of a number of terms and expressions as e. g. of the informal greeting zdravo. (...) It was obvious that something like a "second echalon" of various half-baked linguists took over, at first, apparently, with the tacit agreement of those who started the language awareness movement at a higher level."

"In everyday spoken communication minimal change is to be noted and what change there is, is connected with officalese (official documents and names of offical bodies and functionaries). (...) The political jargon has undergone some change. (...) The area of word formation has undergone some stirring. (...) Spoken syntax, however, has been hardly touched. (...) Newspapers in the news and current affairs sections show few changes except in for the mentioned terminology"(11)

9. Wie sieht die serbische Philologie die Standardisierungsprozesse des Serbischen und des Kroatischen?

Der Novisader Linguist Milorad Radovanovic´ (1996:7) entwarf ein soziolinguistisches Modell für die Beschreibung der neueren sprachlichen Entwicklungen im Kroatischen und im Serbischen. Ausgehend davon, dass die beiden Standardsprachen auf derselben dialektalen Basis entstanden sind, geht es, nach ihm, um einen fünfstufigen Prozess. Die Komponenten dieses Prozesses sind:

  1. Integration = Einführung der neuštokavischen Standardsprache (erste Hälfte des 19. Jh.s.);
  2. Variation = Einführung städtisch-regionaler Varietäten zu den prestigeträchtigen Varianten einer Standardsprache (2. Hälfte des 19. Jh.s.);
  3. Polarisation = Einführung territorialer / nationaler Varianten einer Standardsprache (vom Anfang des 20. Jh.s bis zu den 60er Jahren);
  4. Desintegration = Einführung der Varianten zu den prestigeträchtigen Standardsprachen (70er und 80er Jahre des 20. Jh.s.) und
  5. Promotion = Einführung von getrennten Standardsprachen (90er Jahre).

Der Belgrader Linguist Bugarski erweitert die Klosssche Einteilung in Ausbau- und Abstandsprachen, indem er noch einen neuen Begriff hinzufügt, nämlich den der Umbausprachen:

"In der Phase (1) entsteht die Standardsprache aus ihrer dialektalen Basis durch den Standardisierungsprozess; dies ist der Ausbau. In der Phase (2) entstehen Varianten durch den Variantisierungsprozess, wodurch diese Phase die Sprache zu einer polyzentrischen Sprache macht. Und zuletzt, in der Phase (3) werden diese Varianten umgebaut und durch einen Standardisierungsprozess werden sie zu monozentrischen Standardsprachen; dies ist der Umbau. Auf der rechten Seite des Diagramms sehen wir in Klammern einen potenziellen Abstand, der als angestrebtes Ziel verstanden wird - weil ja ein Traum einer jeden Ausbau-Sprache, und vielleicht besonders einer jeden Umbau-Sprache darin liegt, eines schönen Tages als eine eindeutige Abstand-Sprache aufzuwachen."(12)

(1) (2) (3)
Dialekt ->
Standardsprache
-> Varianten einer Standardsprache -> Standardsprache
monozentrisch polyzentrisch monozentrisch
Standardisierung Variantisierung Restandardisierung
Ausbau Umbau Abstand

10. Wie reagiert die kroatische Sprachwissenschaft auf die Bezeichnung "Serbokroatisch"?

Diese Bezeichnung wird nicht mehr gebraucht, weil sie "unwiderbringlich kompromitiert wurde"(13):

"(...) Dialekte, die die kroatischen Mundarten umfassen, bilden im slawistischen historisch-vergleichenden Sinn zusammen mit den Gruppen von Mundarten, die von den Serben und Montenegrinern benutzt werden, d. h. dem štokavischen und torlakischen Dialekt, ein Diasystem. Dieses Diasystem wurde in den letzten hundert Jahren, und vor allem in den letzten Jahrzenhten am häufigsten als "serbokroatische Sprache" (oder synonym als "Kroatoserbisch", "Serbo-Kroatisch", "Kroato-Serbisch", "Kroatisch oder Serbisch", "Serbisch oder Kroatisch") bezeichnet, aber diese Bezeichnung (zusammen mit ihren Synonymen) ist unwiederbringlich durch Manipulationen und schweren Missbrauch kompromitiert worden, so dass sie heute auch in jenen engen indoeuropäistischen und slawistischen Funktionen, für die man eine nomenklaturmäßige Bezeichnung braucht, unbrauchbar ist. Wenn man also tatsächlich einen solchen Begriff braucht, dann können wir von einem südmittelslavischen Diasystem (Sprache als Diasystem) sprechen. Diese Bezeichnung ist treffend, wenn es sich um ein Diasystem von Dialekten handelt, die im Westen an die slowenischen und im Osten an die bulgarischen und makedonischen Dialekte grenzen. In allen anderen Kontexten soll man vom Kroatischen (oder, natürlich, vom Serbischen) sprechen, besonders wenn es um die Standardsprache geht."

11. Wie ist die Einstellung der serbischen Linguisten im Hinblick auf die Verwendung der Sprachbezeichnung "Serbokroatisch"?

Diese Bezeichnung wird von einigen serbischen Linguisten ähnlich wie im eingangs zitierten Lexikoneintrag verwendet:

"Im linguistischen Sinne ist die serbokroatische Standardsprache immer noch eine Standardsprache, aber seine gesondert benannten politischen Nachfahren sind zu wichtigen Symbolen der nationalen Identität und staatlichen Souverainität der neu entstandenen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Föderation geworden. Deswegen wurde die unumgängliche Frage nach ihrer unabhängigen Profilierung und, besonders, einer klareren Bestimmung ihrer Grenzen gestellt. Und dieses konnte nur durch einen Eingriff bewerkstelligt werden - nämlich durch die Nutzung, Potenzierung und Lenkung der bestehenden, objektiv kleinen, des öfteren auch minimalen Unterschiede."(14)

"Die Ansicht des Verfassers, die in einer Reihe neuerer Publikationen zum Ausdruck gebracht wurde, ist, dass vom linguistischen und kommunikationsbezogenen Standpunkt aus das Serbokroatische immer noch als eine Standardsprache aufgefasst werden kann, obwohl sie mehrere teilweise divergente nationale Normen aufweist. Andererseits besteht auf der politischen und symbolischen Ebene diese Entität offensichtlich nicht mehr, da sie in autonome Standardidiome zerfallen ist."(15)

Von der kroatischen Seite wird Anfang der 90er Jahre den serbischen Linguisten, die diese Bezeichnung verwendeten, vorgeworfen, dass sie "durch das Bestehen auf der Verwendung des Hybrids "serbokroatisch/kroatoserbisch" die štokavischen, die cakavischen und die kajkavischen Dialekte umfassen möchten, um der serbischen Literatur zu ermöglichen, sich als legale Miteigentümerin einer literarischen Tradition aufzufassen, die ihr nicht gehört"(16).

Gleichzeitig gibt es auch einige serbische Linguisten, die anderen serbischen Linguisten Vorwürfe machen, die die Bezeichnung "Serbokroatisch" verwenden. Dies wird damit begründet, dass sie "die serbische Sprachpolitik in eine kroatische umgewandelt hätten und jetzt diese kroatische Sprachpolitik als eine serbische weiterhin dem serbischen Volk aufzwingen wollen".(17)

12. Wie sind die Einstellungen serbischer Linguisten, die auf sprachhegemonialen Ansichten Vuk Stefanovic´ Karadzic´s bauen?

Die Sprachkonzeption von Vuk Stefanovic´ Karadzic´, wonach alle Štokavischsprachigen Serben seien, wird auch heute von einigen serbischen Philologen vertreten. Dies bezieht sich vor allem auf eine Neuschreibung der Geschichte des "Serbokroatischen" bzw. des "Serbischen", indem immer wieder auf ein kontinuierliches kroatisches philologisches Programm hingewiesen wird, das das Neuštokavische als eine genuin serbische Sprache ins Kroatische überführen wollte:

"Der einzige echte Kandidat als Grundlage einer Standardsprache nicht nur in Serbien und Montenegro (einem zweiten serbischen Staat, der sich durch einen qualvollen Kampf von der türkischen Herrschaft im 18. und 19. Jahrhundert befreite und verbreitete, um 1878 formal anerkannt zu werden), sondern auch unter den Serben in der Habsburger Monarchie sowie unter jenen Serben in anderen Balkangebieten, die unter türkischer Kontrolle waren - war der serbische neuštokavische Dialekt, der meistverbreitete im allserbischen dialektalen Komplex. Dieser Dialekt wurde, im großen und ganzen vereinheitlicht, von den damaligen ethnischen Serben aller drei Glaubensbekenntnisse, des orthodoxen, des katholischen und des moslemischen, gesprochen."(18)

"Kurz nach dem Tod Vuks fängt die verwendungsbezogene Dimension des Serbischen an, das ethnische Wesen der serbischen Sprache zu überwinden. Der serbische Name in Kroatien fängt an, mit dem Serbischen zu alternieren. Die serbische Sprache auf dem Gebiet Kroatiens fängt an, unter dem Namen kroatische oder serbische Sprache zu leben."(19)

Hinsichtlich der Situation in Titos Jugoslawien schreibt Kovacevic´ (1999:68) folgendes:

"Durch eine Wiederbelebung des kroatischen philologischen Programms verschwindet das serbische philologische Programm von der Szene, weil das kroatische als ein jugoslawisches aufgezwungen wurde. (...) Verlassen wird die Vuksche, und nicht nur seine, Idee von den Serben aller drei Riten - die Religionszugehörigkeit wird zum Hauptkriterium der nationalen Zugehörigkeit, so dass alle Katholiken auf Kroaten zurückgeführt werden, wodurch auch die Literatur der katholischen Serben auf die kroatische zurückgeführt wird."

"So haben die 90er Jahre dieses Jahrhunderts eine paradoxe Situation zum Vorschein gebracht. In anderthalb Jahrhunderten kamen die Serben von der serbischen Sprache zum Serbokroatischen, und die Kroaten - von der serbischen zur kroatischen Sprache. In anderthalb Jahrhunderten hat sich das kroatische Anhängsel in der Bezeichnung der serbischen Sprache verselbständigt, so dass bei ihnen das Serbische zur kroatischen Literatursprache wurde."(20)

Besonders fragwürdig und gefährlich scheinen folgende Feststellungen (Kovacevic´, 1999:133f) zu sein, die eindeutig als Ausdruck eines offenen und aggressiven großserbischen (Sprach)nationalismus zu interpretieren sind:

"Das heißt, dass die Serben zu den Grundprinzipen des Vukschen philologischen Programms zurückkehren müssen. Eines der grundlegendsten Prinzipien ist dabei der Umfang und der Inhalt des Begriffs "serbische Sprache". Unter der serbischen Sprache soll, also, die Sprache aller Serben im Vukschen Sinne dieses Begriffs (also der "Serben aller drei Riten") verstanden werden. Das heißt, dass der Begriff serbische Sprache alle "Sprachen" umfasst, die politisch aus der Vukschen serbischen Sprache abgeleitet worden sind. Da aber alle Serben sich niemals, wie es auch Vuk beobachtet hatte, als Serben bezeichnen wollten, muss man heute Bezeichnungen definieren, die die Serbistik für diejenigen Varianten des Serbischen verwenden wird, die sich ausserhalb des Territoriums befinden, das von einer serbischen Sprachpolitik abgedeckt wird. (...) Im Einklang mit den Prinzipien der Bildung von Zusammensetzungen in der serbischen Literatursprache ist es am besten, diese Varianten der serbischen Sprache als "kroatischserbische Sprache" (also serbische Sprache mit kroatischen "Zutaten") und "bosnischserbische Sprache" (also serbische Sprache mit "bosnischen Zutaten") zu bezeichnen, da durch diese Termini klar ausgedrückt wird, dass es sich nur um spezifische Realisationen der serbischen Sprache handelt. Die serbische Sprachpolitik wird keinen Einfluss auf die standardologischen Verfahren in den Varianten des Serbischen ausüben können (im Kroatischserbischen und im Bosnischserbischen), dafür wird sie aber eine Kontinuität mit der Serbistik aufstellen und will nicht, wie es bis jetzt der Fall war, zu Gunsten des Schadens des serbischen Volkes arbeiten, indem sie die eigene Geschichte wegen fremder Interessen leugnen würde."

Ähnliche Thesen vertritt auch Petar Milosavljevic´ (2002:39) in der Einleitung zu seinem Sammelband "Srbi i njihov jezik" (Die Serben und ihre Sprache):(21)

"Die kroatische Seite wollte durch die sprachliche Einheit mit den Serben das Problem der Integration der gesamten katholischen Bevölkerung der serbischen Sprache in den kroatischen nationalen Korpus lösen."

"Um ein neues Paradigma der serbischen Sprache nach der Scheidung des Serbischen und des Kroatischen aufzustellen, muss dieses Paradigma auch eine klare politische Orientierung im Einklang mit serbischen nationalen Interessen haben. Es ist wichtig, gerade dies zu betonen, da dies bisher nicht der Fall war. Die Einstellungen, dass die Serben nur orthodoxen Glaubens seien, dass ihre Literatursprache nur ekavisch sei, dass ihre Schrift nur die kyrillische Schrift sei, dass sie auf jene lokale Literaturen (die Dubrovniker, die bosnische und die slawonische) verzichten sollten, sind politische Einstellungen, die aber weder im Einklang mit der serbischen Tradition noch im Einklang mit den serbischen nationalen Interessen sind, vielmehr sind diese Feststellungen gegen diese Interessen gerichtet. Deswegen ist es wichtig, in der Sprachpraxis, jene Feststellungen zu erkennen, die ein Ausdruck fremder Politik sind und die einer Verwirklichung fremder strategischer Interessen dienen."(22)

"(...) die Standardsprache, in der die Kroaten jetzt schreiben, ist das kroatische Serbisch (d.h. das Serbische auf kroatische Art), und die Standardsprache, in der die bosnischen Muslime versuchen zu schreiben, ist das bosnisch-muslimische Serbisch (d. h. das Serbische auf bosnisch-muslimische Art). Diese Ausdrücke würden wohl am präzisesten die aktuelle Wirklichkeit und das Bestreben nach einem indiviualisierten Sprachausdruck bezeichnen, ohne dabei die wissenschaftliche Wahrheit über das Wesen und die Ganzheit der serbischen Sprache zu verletzen."(23)

Kroatisch und Serbisch sind heute zwei autonome Standardsprachen, die von zwei Nationen verwendet werden, die spezifische politische und soziokulturelle Entwicklungen aufweisen. Die Standardisierungprozesse der beiden Sprachen um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren konvergierend, weil bei diesen Prozessen der neuštokavische Dialekt des mittelsüdslawischen Diasystems als Grundlage für die beiden Standardsprachen ausgewählt wurde. Schon bei dieser "Integration" kam es zugleich zu einer Polarisation, die zwei, zwar gegenseitig verständliche, aber auch auf allen Sprachebenen sich voneinander unterscheidenden Standardidiome(24) zu Folge hatte. Wegen verschiedener ideologischer und politischer Konstellationen im 19. und 20. Jahrhundert, in denen das Paradigma des Serbokroatismus wirksam war, wurden diese zwei Standardsprachen im offiziellen Gebrauch und in der Slawistik als eine Sprache, das Serbokroatische, mit zwei Hauptvarianten aufgefasst. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und den Kriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gewann die ethnosymbolische Funktion der Sprache wieder an Bedeutung, so dass jede der bisherigen Standardvarianten das in den jeweiligen Verfassungen verankerte Recht auf eine autonome, ethnisch geprägte Bezeichnung (zurück)bekam.

© Velimir Piškorec (Universität Zagreb, Kroatien)


ANMERKUNGEN

(1) U Republici Hrvatskoj u sluzbenoj je uporabi hrvatski jezik i latinicno pismo. U pojedinim lokalnim zajednicama uz hrvatski jezik i latinicno pismo u sluzbenu se uporabu moze uvesti i drugi jezik te c´irilic´no ili koje drugo pismo pod uvjetima propisanim zakonom. (In der Republik Kroatien ist im offiziellen Gebrauch die kroatische Sprache und die lateinische Schrift. In einigen lokalen Gemeinschaften kann, neben der kroatischen Sprache und der lateinischen Schrift, in den offiziellen Gebrauch auch eine andere Sprache und die kyrillische oder andere Schrift unter den gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen eingeführt werden.) Ustav Republike Hrvatske (1991), clan 12.

(2) U Saveznoj Republici Jugoslaviji u sluzbenoj upotrebi je srpski jezik ekavskog i ijekavskog izgovora i c´irilic´ko pismo, a latinicko je pismo u sluzbenoj upotrebi, u skladu sa ustavom i zakonom. (In der Bundesrepublik Jugoslawien ist im offiziellen Gebrauch die serbische Sprache der ekavischen und ijekavischen Aussprache und die kyrillische Schrift; die lateinische Schrift wird auch offiziell gebraucht, und zwar im Einklang mit der Verfassung und dem Gesetz.) Ustav Savezne Republike Jugoslavije (1992), clan 15.

(3) Vgl. dazu Škiljan (2002).

(4) Vgl. Smith (1991:13):"In fact, every nationalism contains civic and ethnic elements in varying degrees and different forms. Sometimes civic and territorial elements predominate; at other times it is the ethnic and vernacular components that are emphasized."

(5) Vgl. Bugarski 2002:107

(6) Vgl. Brboric´ 1996:28

(7) Von den benutzten Quellen der serbischen Linguisten ist Bugarski (2002:100) der einzige, der diese Erscheinung überhaupt erwähnt, wenn es um die sprachliche Situation im Köngireich Jugoslawien geht. Er schreibt diesbezüglich: "Aber ohne Rücksicht darauf, welches Glottonym (in der Zwischenkriegszeit, V.P.) verwendet wurde, wurde die serbische Version der gemeinsamen Standardsprache favorisiert und meistens den anderen als das zu verfolgende Modell auferlegt. Dieser Druck resutierte mit einer Abneigung seitens der kroatischen Intelligenz, die immer weniger dazu geneigt war, eine zweitrangige Rolle im gemeinsamen Königreich zu akzeptieren, indem sie Tendenzen eines - nicht nur sprachlichen, sondern auch politischen - Sezessionismus offen an den Tag legte ."

(8) Auburger (1999:5)

(9) Ebda.

(10) Kunzmann-Müller 1996:111

(11) Kalogjera (2002:14-15)

(12) Bugarski (2002:153); Übersetzung V. P.

(13) Brozovic´ (1998:4); Übersetzung V. P.

(14) Bugarski (2002:76); Übersetzung V. P.

(15) Bugarski (2002:127); Übersetzung V. P.

(16) Bašic´ (1991:153) Übersetzung V. P.

(17) Kovacevic´ (1999:7) Übersetzung V. P.

(18) Brboric´ (1996:18-19) Übersetzung V. P

(19) Kovacevic´ (1999:51); Übersetzung V. P.

(20) Ebda., S.97.

(21) Übersetzung der Zitate V.P.

(22) Milosavljevic´ (2002:44)

(23) Ebda. S. 51.

(24) Vgl. z. B. Kacic´ (1995), Sesar (1996), Moguš (1993), Radovanovic´ (1996) und Loncaric´ (1998).


LITERATUR

Auburger, Leopold (1999): Die kroatische Sprache und der Serbokroatismus. (Heilighofer Studien Nr 7) Ulm/Donau: Gerhard Hess Verlag.

Bašic´, Nataša (1991): V. S. Karadzic´ izmeðu jezikoslovlja i politike. Zagreb: Školske novine.

Brboric´, Branislav (1996): Predistorija i sociolingvisticki aspekti. In: Radovanovic´ (ur.), S. 17-35.

Brozovic´, Dalibor (1998): Povijesna podloga i sociolingvisticke okolnosti. In: Loncaric´ (ur.), S. 3-34.

Bugarski, Ranko (2002): Nova lica jezika (Biblioteka XX. vek; 128). Beograd: Cigoja štampa.

Bugarski, Ranko; Hawkesworth. C. (eds.) (2002): Language in the Former Yugoslav Lands. (im Druck)

Erdmann-Pandzic´, Elisabeth von (1996): Die Standardisierung des Štokavischen zwischen Philologie und Ideologie". In: Schaller (Hrsg.),

S. 137-149.

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6.1. Standardvariationen und Sprachauffassungen in verschiedenen Sprachkulturen | Standard Variations and Conceptions of Language in Various Language Cultures

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


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For quotation purposes:
Velimir Piskorec (Universität Zagreb, Kroatien): Kroatisch und Serbisch zwischen Verständnis und Missverständnis - Eine Dokumentation . In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_1/piskorec15.htm

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