TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen)

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Versuch eines autonomen Verhaltens im Poetischen.
Paul Flemings deutsche Liebesgedichte im Diskurs der constantia

Gabriella Szögedi (Universität Debrecen) [BIO]

Email: gszogedi@lib.unideb.hu

 

„Wer sich der Weisheit ganz ergiebet,
der liebet recht und wird geliebet.“

(Paul Fleming, Oden, V. 17.)

 

Dieser Aufsatz gibt einen Überblick über die deutschsprachigen Liebesgedichte von Paul Fleming unter dem Untersuchungsaspekt, wie die Texte anhand ihrer formalen Gestalt, ihrer rhetorischen Mittel und Semantiken die anthropologische Bedeutungsdimensionen der Liebe im Diskurs der Beständigkeit erschließen lassen und wie das in einer bestimmten historischen und kulturellen Überformung erscheinende Ich die Liebe als Erfahrungs- und Bindungsweise im Poetischen bewältigt und auf der textuellen Oberfläche reflektiert.

Der zum Leipziger Dichterkreis gehörende Paul Fleming (1609-1640) verbrachte sechs Jahre seines kurzen Lebens auf einer holsteinischen diplomatischen Gesandtschaftsreise nach Russland und Persien, was zum einen als eine Flucht aus Angst vor der Verwüstung des 30jährigen Krieges, zum anderen als eine Bildungsreise aufgefasst wurde. Er war offiziell Hofjunker und Mundschenk und schließlich wurde er als Reisepoet eingestellt, dessen Gedichte zu bedeutsamen Ereignissen in die Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reise von Adam Olearius einflossen. Die von 1633 bis 1639 dauernde Reise bedeutete aufgrund der vielen unerwarteten Begegnungen mit dem Orient einen außergewöhnlichen Lebensweg für Fleming und beeinflusste den Entstehungskontext der während der Reise geschriebenen Gedichte stark, obwohl diese Poemata als Produkte der Traditionsgebundenheit an Martin Opitz und an die europäischen neulateinischen Dichter zustande kamen. Die Ausnahmestellung Flemings gründet sich nicht auf den persönlichen, eigenen Ton, wie es Hans Pyritz betonte(1) – d.h. auf die Überwindung der Tradition und der Konvention –, sondern auf der unkonventionellen Weise, in der Fleming die poetischen Konventionen nutzte, worauf Hans-Georg Kemper hinweist.(2)

Ich möchte in meinem Aufsatz nachweisen, wie eine subjektive menschliche Erfahrung durch diese unkonventionelle Nutzung der Konventionen ihre Reflexion im Poetischen findet und wie sich anhand dieser Erfahrung ein autonomes, die eigene Position reflektierendes Verhaltensprogramm auf der Textebene artikuliert.

Den Untersuchungsgegenstand bildet eine anthropologische Dimension, eine Grundgegebenheit des Erfahrungs- und Lebenszusammenhangs menschlichen Daseins: die menschliche Elementarerfahrung der Liebe als Bestandteil der conditio humana. Die conditio humana verstehe ich nach der ursprünglichen Bedeutung als Sammelbegriff, in dem alle verschiedenen Typen menschlicher Lebenssituationen und Lebenserfahrungen zusammengefasst werden. Die Liebe ist in diesem Zusammenhang die Erfahrung eines Gefühls und einer Bindung, auf die sich die menschliche Existenz verwiesen sieht und die sie in irgendeiner Form bestimmt.

Die abendländische Auffassung unterscheidet drei Aspekte der Liebe(3): den eros, die sinnliche Liebe, die philia, die gegenseitige Freundesliebe und die agape, die fördernde Liebe. Ich betrachte in diesem Aufsatz die Liebe als eros im Kontext von Flemings deutscher Liebesdichtung und stelle diesen Untersuchungsaspekt in den Diskurs der Beständigkeit.

Bezüglich der Dichtung Flemings wurde die Problematik der Liebe zumeist in autobiographischen Zusammenhängen erörtert, die die Liebesbeziehungen zu Elsabe und dann später zu Anna Niehusen betonen, die die Töchter eines Kaufmanns in Reval waren, wo Fleming während der Reise monatelang rastete.(4) Die Gedichte weisen einen hohen Komplexitätsgrad in der Verarbeitung überkommener poetischer Liebesdiskurse auf, wie es auch Hans-Georg Kemper betont.(5) An dieser Stelle möchte ich die als Projektionsfläche ausgewählten Gedichtstexte nicht in chronologischer Reihenfolge besprechen, sondern, der Zeitlichkeit und der Veränderlichkeit der anthropologischen Erfahrung der Liebe entsprechend, die verschiedenen Stufen und Umstände der Liebe und deren Artikulation im Poetischen behandeln.(6)

Was bedeutet die Liebe in diesem Untersuchungskontext?

Die Liebe entsteht aus einem Mangel an etwas Gutem(7), zu dem das Ich in Relation stehend neue Perspektiven entdeckt und deshalb versucht es dieses Verhältnis mit großem Bestreben zustande zu bringen. Diese Antriebskraft und Sehnsucht hat eine transformierende Wirkung und intendiert eine Vereinigung mit dem Ziel des Zustrebens. So erscheint die Liebe, eine innige Neigung zu einer Person des anderen Geschlechts, in ihrem einen Aspekt als Wunsch und Sehnsucht, die von der Pein der unerfüllten Reziprozität begleitet sind.

In der Ode Flehen der Liebe(8) (Oden, V. 16.) beschwert sich das dichtende Ich über die Unerfülltheit der Liebe zu einer Person, die als „ein einigs Ein“ (V. 26.) des Ich aufgefasst wird und als Du „mein Ich“ (V. 2.) ist. Das Verhältnis mit dem Du, mit dem anderen Ich verändert das Ich und setzt es in einen als Wahn bezeichneten Zustand.

Die Ode Pein der Liebe(9) (Oden, V. 11.) stellt mit der antithetischen Bildersprache die stete Wandelbarkeit der Liebeserfahrung dar. Der Text arbeitet mit petrarkistischen Motiven und sprachlichen Mitteln, es ist die Häufung von Antithesen und Paradoxa zu beobachten. Der Liebeszustand wird als ein „erfreutes Leid“ (V. 20.) beschrieben, das physisch und psychisch als eine ewige Unruhe erscheint, die keinen Mittelweg findet. Die folgenden Verse zeigen am stärksten diese semantische und bildliche Antithetik:

Ich schlaf’, ich träume bei dem Wachen,
ich ruh’ und habe keine Ruh’,
ich tu’ und weiß nicht, was ich tu’,
ich weine mitten in dem Lachen,
ich denk’, ich mache diß und das,
ich schweig’, ich red’ und weiß nicht was.
Die Sonne scheint für mich nicht helle,
mich kühlt die Glut, mich brennt das Eis,
ich weiß und weiß nicht, was ich weiß.
Die Nacht tritt an des Tages Stelle.
Itzt bin ich dort, itzt da, itzt hier,
ich folg’ und fliehe selbst für mir. (V. 25-36.)

Das Ich wird dadurch nicht mehr das seine (V. 17.), wird seiner Freiheit entfreit (V. 12.) und ist nicht mehr mit sich selber eins (V. 41.). Es scheint den gut gesicherten Weg der Beständigkeit, des Sich-Vergnügens zu verlassen, die ethischen Tugenden des stoischen Weisen und dadurch die beatitudo, die Glückseligkeit zu verlieren. Die Liebe, diese verzehrende Macht ist ein Affekt, gegen den man sich im Sinne der stoischen Affektfeindschaft wehren sollte. Die Liebe als Verführung erscheint in Gestalt der Schönheit, die das dichtende Ich in der aus der Antike stammenden Tradition Petrarcas preist, wie es die Sonette An ihren Mund, als er sie umfangen hatte(10) (Sonette, IV. 11.) oder Er redet der Liebsten Augen an, die er umfinge(11) (Sonette, IV. 11.) zeigen.

Fleming knüpft an die petrarkistische Tradition der unerfüllten Liebe in der Weise an, dass er das Reservoir für die Beschreibung der erfüllten Liebe verwendet. Es ist eine „paradoxal angelegte Leidenskonzeption“(12) – wie es Thomas Borgstedt formuliert –, die über den Petrarkismus hinausweist. Die Verwendung der traditionellen petrarkistischen Elemente bildet die Oberfläche für die in der Tiefenstruktur erscheinende philosophische Liebesauffassung von Fleming.

Die Erfahrung der erfüllten anwesenden Liebe wird am stärksten in der Abwesenheit der geliebten Person formuliert. Die Perspektive dieser Liebe breitet sich paradox in der anwesenden Abwesenheit oder abwesenden Anwesenheit aus. Das Gedicht Auf ihr Abwesen(13) (Poetische Wälder, V. 18.) gibt darauf eine Antwort, wo und wie das Ich, das nicht mehr das seine ist, im Hin-und-Her-Irren eine standhafte Position finden kann. Es soll nicht nur bei dem Du verweilen, sondern ganz in dem Du sein:

Ich irrte hin und her und suchte mich in mir,
und wuste dieses nicht, dass ich ganz war in dir. (V. 1-2.)

Ich sei auch, wo ich sei, bin ich, Schatz, nicht bei dir,
so bin ich nimmermehr selbest in und bei mir. (V. 9-10.)

Diese Ansicht wird durch die Ode An Basilenen, nachdem er von ihr gereiset war(14) (Oden, V. 27.) bestätigt: „Du in mir und ich in dir, sind beisammen für und für“ (V. 5-6.). Das Ich verbleibt dem Du, das Du dem Ich verbunden, so leben sie ein einigs Leben und sterben einen einigen Tod. Der Gedanke des Ineinandergehens und des Einswerdens gleichgesinnter Geliebten gründet sich auf der neuplatonischen Eros-Philosophie und auf der von ihr integrierten unio-Formel. Der Neuplatonismus des 15. und 16. Jahrhunderts versöhnte den Neuplatonismus der Spätantike mit dem Christentum und rezipierte die religiösen Aspekte und die philosophische Lehre über Schönheit und Harmonie stark. Im Kommentar eines der bedeutendsten Vertreter des Neuplatonismus der Renaissance, im Werk Über die Liebe oder Platons Gastmahl von Marsilio Ficino werden zwei Schlüsselbegriffe hervorgehoben: die Schönheit, die eigentlich Gottes Licht sei, und die Liebe, die nach dem zitierten spätantiken Dionysios Areopagites folgendermaßen beschrieben werden kann:

Die Liebe, sei nun die englische, die geistige, die seelische oder die natürliche gemeint, ist eine verbindende und einende Macht, welche das Höhere zur Fürsorge für das Niedere, das Gleichstehende zu gegenseitiger Mitteilung und schließlich das Niedere bestimmt, sich dem Höheren und vorzüglicheren zuzuwenden.(15)

Die Liebe, das bildende und erhaltende Prinzip des Alls, ist eine Sehnsucht nach dem Ursprung des Schönen, zu Gott und eine Antriebskraft, sich mit dem Schönen-an-sich und Guten-an-sich zu vereinigen. Diese himmlische Liebe findet ihren Gegenpol in der irdischen Liebe bzw. in der irdischen Schönheit. Die Schönheit der Geliebten, die indirekt zur göttlichen Schönheit führt, in dem Sinne, nach dem der Mensch Gottes Ebenbild sei, wird im Sonett Er betrachtet ihre Schönheit und Treue(16) (Sonette, IV. 32.)  mit einer unter religiösem und neustoizistischem Aspekt wichtigen Tugend erwähnt. Die Schönheit, die als das Gute-an-sich in der Liebeserfahrung angestrebt wird, soll den Maximen der protestantischen Ethik und des Neustoizismus entsprechend mit der Treue zusammen als „treue Schönheit“ und „schöne Treue“ (V. 1.) existieren. Die Treuethematik wird von Fleming detailliert ausgearbeitet, nicht nur im Bereich der Liebe, sondern auch auf anderen anthropologischen Ebenen wie der der Freundschaft und des Glaubens. Die Oden Elsgens treues Herz(17) (Oden, V. 30.) und An Elsabe(18) (Oden,V. 31.) betonen die Bewährung der Treue. In der Vanitas des Seins, wenn „das Glücke gleich zu Zeiten anders, als man will und meint,“ läuft (V. 7-8.), „bei böser Zeit“ (V. 16.) soll das Ich „ein getreues Herze wissen“ (V.1.), um die Unwandelbarkeit beim Wechsel demonstrieren zu können, wie es in der erst erwähnten Ode steht. Wenn die Treue eine gegenseitige ist, kann die ideale Union des Ich und des Du zustande kommen, wie es im Gedicht An Elsabe zu lesen ist:

Sei unterdessen meine,
mein mehr als ich
und schau’ auf mich,
dass ich bin ewig deine.
Vertraute Liebe weichet nicht,
hält allzeit, was sie einmal spricht. (V. 13-18.)

Der Treuegedanke kulminiert in der Ode Treue Pflicht(19) (Oden, V. 32.). Es ist eine Deklaration dessen, was die Liebesbeziehung an sich bedeutet und unter welchen Umständen sie legitimiert geführt werden kann. Die Liebe ist ein Affekt, den der stoische Weise vermeiden sollte, weil dieser seine vernunft- und naturgemäße Apathie gefährdet. Deshalb soll die ideale Liebe „Scham, Schönheit, Jugend, Zucht“ (V. 27.) als Tugenden in sich haben. Der Sinn und die Vernunft können durch den Affekt der Liebe betrübt und gestört werden, aber, wenn die Liebe auf Treue gebaut ist, kann die Beständigkeit bewahrt werden, während alles mit Gott und mit der Zeit sein muss (V. 127-128.) und nichts als Unbestand Bestand hat (V. 131.).

Aufgrund der gegenseitigen und bewahrten Treue, der Schönheit und anderer Tugenden wird „ein weltlichs Himmelreich“ und „ein sterblichs Paradeis“ (V. 14.) erreicht, wie es Fleming im Sonett Er verwundert sich seiner Glückseligkeit(20) (Sonette, IV. 88.) formuliert.

Aber in der von der Fortuna beherrschten Welt irdischen Glücks und irdischer Liebe zeigt sich auch die Treue als Unbeständigkeit. Im Sonett Zur Zeit seiner Verstoßung(21) (Sonette, IV. 57.) erscheint das Bild des auf dem Meer des Lebens schwimmenden Schiffes, dessen Fahrer „allzu viel auf ein Gelücke traut“ (V. 4.). Mit Hilfe der Allegorie des Schiffbruchs beschreibt das dichtende Ich seinen Zustand zur Zeit seiner Verstoßung. Sein „teuerster Verlust“ (V. 13.) ist er selber, indem das Ich das Du, das sein anderes Ich ist, mit dem es einst einig war, völlig vermissen soll. Diese schmerzliche Liebeserfahrung ist der Liebeserfahrung vollen Glücks ähnlich, sie ist eben der gleiche Zustand, der den Sinn verführt und die stoische Affektfreiheit gefährdet. Das Motiv des Schiffbruchs konkretisiert die seelischen Zustände und gilt zugleich als eine Vorlage zur Verbildlichung der Geborgenheit in der göttlichen Fügung im Sinne des Neustoizismus.

Die Ode Entsagung(22) (Oden, V. 17.) ist das Pendant zu der Ode Treue Pflicht(23) (Oden, V. 32.). Am Ende des Gedichts, in den Versen 102-103, wird die Hauptsentenz der Flemingschen Liebesauffassung bezüglich aller Arten der Liebe (auch Freundesliebe und Gottesliebe) formuliert: „Wer sich der Weisheit ganz ergiebet, der liebet recht und wird geliebet“(24). Mit stoischer Weisheit erklärt das leidende Ich, das den Ausweg sucht, um das Leiden zu vermeiden, wie man sich während des Wechsels aller Sachen verhalten sollte:

O wol dem, welcher ist vergnüget,
wie sein Verhängnüß sich auch füget!
Kein beßrer Rat ist, als ertragen
diß, was man doch nicht ändern kann. (V. 5-8.)

Beständig sein, das tut ein Man,
sieht Beides an, gleich in Geberden:
erfreuet und betrübet werden. (V. 10-12.)

Wer klug ist, baut nicht auf den Sand.
Wer suchet Trost bei leichten Sinnen,
bei Unbeständigkeit Bestand,
bei Schatten Licht, bei Tode Leben? (V. 26-29.)

Im Falle, dass sich die Treue der Geliebten zur Untreue verändert, soll man sich als ein starker Felsen erweisen und mit einem größeren Anspruch einen sicheren Halt finden und noch bewusster „nur der Tugend“ (V. 99.) dienen. Das Ich soll diese Liebeserfahrung als Affekt mit sittlicher Gleichgültigkeit betrachten, um sich selbst zu vergnügen, d.h. mit sich selbst genug zu haben, und um den Zustand erreichen zu können, der im letzten Vers der Ode beschrieben wird: „Auch ich bin Niemands mehr als meine“ (V. 108.).

Die Bewahrung der aufgestellten Maximen kann aber nur mit einer Einschränkung gelten: die vergangene Liebe als eine elementare Menschenerfahrung bedeutet „dennoch“ (V. 1.) einen Anhaltspunkt und gleichzeitig eine neue Antriebskraft, von der Geliebten befreit nach der eigenen Freiheit zu suchen. In diesem Zusammenhang erscheint die Liebe als Vergangenheit und Andenken im Sonett Über Gedächtnüß seiner ersten Freundin(25) (Sonette, IV. 73.).

Nach diesen Ausführungen möchte ich am Ende das Sonett An ihren Spiegel(26) (Sonette, IV. 14.) darstellen, anhand dessen Bildersprache und den versteckten Metaphern in der Tiefenstruktur des Gedichts sich vor dem Hintergrund der bisher dargestellten Lebensmaximen Flemings Liebesphilosophie veranschaulichen lässt. Der Spiegel als ein „drei viermal mehr Glückseliger“ (V. 1.) und ein „rechtes Freudenwerk von früh an bis zu Nachte“ (V. 9.) wird von dem Liebenden beneidet, weil die Geliebte sich durch den Spiegel und nicht durch die Augen des Liebenden schaut und selbst anredet. Die Liebe reflektiert sich im Spiegel, der das ersehnte und verdoppelte Selbst des Betrachters im Äußeren entdecken lässt. Der Spiegel ist nach einem der wichtigsten antiken Vertreter der Stoizismus, nach Seneca dem Jüngeren, das Symbol der sittlichen Selbstprüfung, er offenbart mehr als nur die äußere Erscheinung, er zeigt das innere Wesen des Menschen: „Inventa sunt specula, ut homo ipse se nosset, multa ex hoc consecuturus, primum sui notitiam, deinde ad quaedam consilium” (Naturales questiones, I, 17, 4). Als Zeichen der Selbsterkenntnis ist der Spiegel das Attribut der Tugenden Prudentia, Veritas und Iustitia bzw. ist er in seiner Ambivalenz das Zeichen der Eitelkeit, der Vanitas, und das Attribut der Wollust.(27) Als Instrument der Selbstbetrachtung ermöglicht er es dem liebenden Ich die Frage nach der existentiellen Qualität der Liebe zu stellen und seine eigene Stelle in diesem Verhältnis zu bestimmen. Indem das dichtende Ich in der Pein der Liebe nur ein Schein von sich selbst ist und sein eigenes, autonomes Selbst verliert, soll es einen Halt, sein anderes Ich, sein Abbild finden. Die Geliebte und die Relation zu ihr, die Liebe ist das Medium, das den Kontext zur Selbstfindung und Selbstbehauptung ermöglicht. Die Liebe ist einerseits als Affekt eine Herausforderung, die angestrebten stoischen Maximen zu halten, andererseits führt sie einen als Antriebskraft durch die transformierende Wirkung des Bestrebens zur Selbstveränderung. In diesem Sinne wird die constantia nicht als eine regungslose und erduldende Haltung und eine unbewegte Leidenschaftslosigkeit, sondern als eine vorwärtsdringende Tapferkeit interpretiert.(28)

Diese Liebe ist eine vermittelte, durch das Ich strömende und von ihm veränderte Erfahrung, ein angeeigneter kontrollierter subjektiver Zustand, der der systematischen Welt- und Lebensordnung entspricht. Obwohl die Liebesbeziehung einen zur Affektkontrolle ermahnt, hilft sie bei der Suche nach der Selbstversicherung und der Autonomie. Die Selbst-Ständigkeit und das autonome Verhalten bilden sich als eine Reflexion im Poetischen heraus, die ein unsicheres außertextuelles Ich entlarvt. Flemings Auseinandersetzung mit den petrarkistischen Motiven, mit der neuplatonischen und der neustoizistischen Philosophie und der protestantischen Religion führt im Kontext der Liebe zu einer Ich-Bildung im Poetischen, die ein durch die philosophischen und religiösen Maximen vermitteltes und kulturell bzw. textuell geformtes Selbstbild zustande bringt, das seine Grenzen und seine Beständigkeit in der Relation zu dem Außen-Ich sucht.

 


Anmerkungen:

1 Pyritz, Hans: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963, S. 262ff. (Palaestra, Bd. 234)
2 Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Barock-Humanismus: Liebeslyrik. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 128.
3 Vgl. Artikel ’Liebe’ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hrsg. von Joachim Ritter. Basel: Schwabe, 1980, Sp. 290-303.
4 Vgl. Pyritz, Hans: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, (Palaestra, Bd. 234) ; Entner, Heinz: Der Dichter und die Schöne. Paul Fleming in Reval. In: Neue Deutsche Literatur. Monatsschrift für Literatur und Kritik. Jg. 37. H. 7. 1989, S. 59-85. ; Schubert, Dietmar: „Eine weltlichs Himmelreich, ein sterbliches Paradeis.“ Paul Flemings deutschsprachige Liebeslyrik. In: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hrsg. von Thomas Borgstedt, Andreas Solbach. Studien zur Neueren deutschen Literatur. Bd. 6. Dresden: Thelem, 2001, S. 213-224.
5 Kemper [Anm. 2], S. 136-140.
6 Die zitierten Gedichtstexte stammen aus der folgenden Ausgabe: Paul Flemings deutsche Gedichte. Hrsg. von J.M. Lappenberg. 2 Bde. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965.
7 Vgl. Die Rede von Sokrates in Platon, Symp. 200 a-200 e.
8 Lappenberg [Anm. 6], S. 406-407.
9 Ebd., S. 402-403.
10 Ebd., S. 496.
11 Ebd., S. 496-497.
12 Borgstedt, Thomas: Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Claudia Benthien und Steffen Martus. Tübingen: Niemeyer, 2006, S. 283.
13 Lappenberg [Anm. 6], S. 219.
14 Ebd., S. 423.
15 Ficinus, Marsilius: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Übers. von Karl Paul Hasse. Leipzig: Meiner, 1914, S. 80.
16 Lappenberg [Anm. 6], S. 505.
17 Ebd., S. 426.
18 Ebd., S. 427.
19 Ebd., S. 428-432.
20 Ebd., S. 529-530.
21 Ebd., S. 516.
22 Ebd., S. 407-410.
23 Ebd., S. 428-432.
24 Ebd., S. 410.
25 Ebd., S. 523.
26 Ebd., S. 497.
27 Vgl. Artikel ’Spiegel’ in Wörterbuch der Symbolik. Hrsg. von Manfred Lurker. Dritte Auflage. Stuttgart: Kröner, 1985, S. 641-642. und Heinz-Mohr, Gerd: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. 6., erw. Aufl. Düsseldorf ; Köln: Diedrichs, 1981, S. 270.
28 Werner Welzig hebt die gegenseitigen Pole der Beständigkeit als eine regungslose und erduldende Haltung, eine unbewegte Leidenschaftslosigkeit und als eine vorwärtsdringende Tapferkeit hervor, indem er die geschichtliche Entwicklung des Begriffs constantia von der Übung der barocken Dramen ausgehend darstellt. In: Welzig, Werner: Constantia und barocke Beständigkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, 35, 1961/3, S. 416-432.

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Gabriella Szögedi: Versuch eines autonomen Verhaltens im Poetischen. Paul Flemings deutsche Liebesgedichte im Diskurs der constantia - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-9/8-9_szoegedi17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-19