Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998


Zeitlich-räumlicher Ausdruck der Synthese von der Literatur und Musik im Schaffen von Hermann Broch

Switlana Fiskowa (Lviv)

Die Musik spielt im Schaffen von Hermann Broch eine große Rolle. In seinem theoretischen und künstlerischen Werk thematisiert der Schriftsteller die Musik als universale logisch-mystische Tonkunst, untersucht das Problem der Erkenntnis in der Musik, versucht die musikalischen Darstellungsmittel, musikalischen Strukturprinzipien, musikalischen Gesetze zu analysieren und praktisch zu verwenden. Die Musik ist für H. Broch, wie zum Beispiel früher für die Romantiker, wirklich universal,

"bereits aufgrund ihrer referenzlosen Klanglichkeit, ihrer analog der Mathematik ausweisbaren systhematischen und unendlichen Progressivität, ihrem Spiel-Charakter und ihrer Fähigkeit, jedem Text und sogar der Philosophie eine Tendenz auf sie selbst hin zu verleihen: Jede Kunst hat musikalische Prinzipien und wird vollendet selbst Musik. Dies gilt sogar von der Philosophie und also wohl auch von der Poesie",

meinte F. Schlegel (4, S.10).

Der Autor als Mathematiker, Philosoph und Dichter befaßt sich mit dem Problem der Universalität der Musik, und ihr Autonomiecharakter ist oft die Grundlage seiner Überlegungen über die Welttotalität und seiner Erkenntnistheorie. Das Musikalische, seine innere Bestimmung durch den Rhythmus, durch die Harmonik und Melodie schaffen neue produktive Seiten für die Neuorientierung von Literatur. Die Synthese der Musik und Literatur auf verschiedenen Ebenen: das Denken im musikalischen Maßstab und in musikalischen Stimmungen, die neue Form der Sprache und der Poesie als wörtliche Musik, musikalische Allegorie, Harmonie und Kontrapunkt als Strukturprinzipien der literarischen Werke, Variation und Leitmotive in der Literatur - erweitert die Möglichkeiten der Wirklichkeitsdarstellung, die, wie H. Broch meint, sehr kompliziert ist und wegen der ständigen Wandlung unerzählerisch geworden ist. Die Kunst soll aber die Wirklichkeit nicht imitieren. Deshalb ist für den Schriftsteller die Forderung nach Totalität der Darstellung so wichtig. Die Musik ist eben diejenige Kunst, die ihren Gegenstand nicht widerspiegelt, sondern mit ihm identisch ist. Sie besitzt die ungeteilte ganze Kenntnis. Die Musik demonstriert das erkennende Wissen, wie H. Broch in den "Gedanken zum Problem der Erkenntnis in der Musik" schreibt, das zugleich

"Überwissen ist, Vor-Erkenntnis und zugleich Über-Erkenntnis, unfaßbar und doch allüberall, wird in seiner Unfaßbarkeit dem Menschen als Gefühl habhaft: nur als Gefühl, und eben als Gefühl jedem einzelnen das Wertvollste seines Lebens. Es ist das Gefühl, mit dem der wahrhaft dem Leben zugekehrte Mensch die Einzelerscheinung begreift und mit dem er unabläßig den Boden vom Einzelphänomen zur Totalität der Welt und zu der seines eigenen Seins zu spannen befähigt ist"(2, S.238-239).

Deshalb spielt die Musik in den Werken von H. Broch oft die Rolle des Beispieles im Laufe einer Beweisführung. So ist die Aufgabe, die z. B. im Roman "Die Schuldlosen" gestellt ist, die Totalität einer bestimmten Erlebnissituation. "Dabei sollte das Wesentliche zwischen den Zeilen und Worten stehen. Vielleicht wäre dies das Letzte Ziel der Darstellungskunst" (2, S.299), meint der Schriftsteller.

Also, die Musik dient zu erläuternden Vergleichen, aber sie ist auch Form des Absoluten, der symbolische Ausdruck der geheimnisvollen Einheit von Rationalität und Welttotalität. Besonders wichtig ist für den Denker H. Broch der Übergang vom Begrenzten zum Unbegrenzten, vom Gleichnishaften zum Symbolhaften, vom Realen zum Absoluten als der Weg zur Selbserkenntnis und dadurch zur Welterkenntnis. Dabei ist das Wissen um die Zeitlichkeit sehr bedeutsam. Das Bewußtsein des Hier-und-Jetzt des zeitlichen Vorgangs wird in die überzeitliche Struktur aufgenommen. Dieser Sachverhalt läßt sich als eine Verzeitlichung der musikalischen Struktur verstehen. Man kann über die bestimmte Richtung des Reflexionsprozesses, somit auch der Zeit sprechen. Diese Erzähltendenz schafft eine Tiefenperspektive, die ihrerseits eine Metaebene des Textes voraussetzt. "Das ist die Hoffnung, die verlorengegangene mythische Sprache einstmals wiederzufinden und artikulierte Sehnsucht eines neuen Mythos, einer neuen Lebensmöglichkeit und einer neuen Lebensform"(3, S.153). Die Darstellungstechnik selbst ist deshalb kompliziert. Es ergeben sich drei Hauptebenen:"erstens die Darstellung des äußeren Geschehens als Ebene des Unbewußten, zweitens die psychologische Ebene, das heißt, die Darstellung der Gedanken der dargestellten Personen, drittens die erkenntnistheoretische Ebene, welche die eigentliche Ebene des Autors ist, nämlich jene, auf welcher er die dunkle und allgemeine Logik des Erlebnisses in die rationale Logik rationalen Verstehens umsetzt. Es ist sozusagen die Ebene des Kommentars"(1, S.299). Deshalb sind die Werke von H. Broch in zeitlich-räumlicher Hinsicht ein sehr kompliziertes Gebilde. Besonders interessant ist der philosophische Aspekt in Folge der Synthese von Literatur und Musik im Schaffen von H. Broch. Ich versuche das auf dem Beispiel des Romans "Die Schuldlosen" zu zeigen.

Jede Epoche hat ihr eigenes individuelles unwiederholtes Bild und Erklärung der Welt, ihren eigenen Stil, ihre eigene Denkweise. Die Musik ist die zeitliche Kunstart, so wie auch die Literatur. Die Konzeption der Epoche, die in zeitlichen Gesetzen erscheint, strukturiert das Material in die eine oder andere literarisch-musikalische Form. Der Künstler modelliert die Zeit so, wie er sie versteht, entsprechend der Denkweise seiner Epoche. Im Werk von H. Broch ist die Zeit oft durch die musikalischen Mittel modelliert, und diese musikalische Zeit tritt in die Reaktion mit der objektiven Zeit ein.

"Es müßte aber festgehalten werden, daß die Darstellung niemals ins Esoterische abschweife, sondern daß die Erzählung als solche trotz aller Anreicherung mit allen Motiven der Symbolbildung im Rahmen des Mitteilbaren also letzten Endes des Sozialen bleibe. Um es trivial auszudrücken: auch der literarisch nicht interessierte Leser muß die Erzählung zumindest dem äußeren Geschehen nach lesen und verstehen können, und wenn er dabei noch außerdem das Gefühl hat …, daß hinter der scheinbar harmlosen Erzählung etwas steckt, das auch ihn in seinem innersten Wesenskern berührt, so ist die künstlerische Absicht erreicht"(1, S.299).

Auf diese Weise entsteht eine Einheit der Apperzeption erst in der rein geistigen Sphäre der Spontaneität unseres Ich. Und am Ende gelangt die musikalische Zeit an ihr Ziel - zu ihrer Apotheose - zu der abstrakten Idee der Zeit - zu dem abstrakten Prinzip der Zeitlosigkeit. Nichts kann und darf sich diesem Prinzip der Zeitlosigkeit widersetzen. Deshalb ist die Zeit-Bildhaftigkeit im Roman "Die Schuldlosen" sehr reich: Zeitfiguren, zeitliche Metapher, zeitliche Allegorien, Zeitsymbole. So eine zeitliche Figur oder Allegorie der Zeit, die mit der Musik verbunden ist, ist der Imker. Tätigkeiten aus dem Bereich des bürgerlichen Erwerbslebens und der zweckrationalen menschlichen Sphäre machen zwar auch Zeit fühlbar, als Arbeit, als Zeit, die in Geld zu messen oder verwandeln ist, aber sie widersprechen dem absoluten und abstrakten Charakter ihres kosmischen Ablaufs. Sie müssen vom Imker ausgelöscht, gemordet werden. Das ist ein ästhetischer Umschlag von Leere in Fülle. Die Fülle der Zeit kann sich erst erweisen, wenn sie durch ein Prinzip anschaulich gemacht wird, das ihr strukturell analog ist. Das geschieht durch die Zeitkunst Musik.

"Nämlich, es vollzieht sich im Unsichtbaren das letzterreichbare Sehen des Menschen: da ist es ihm gegeben, das Lebende im Unlebenden, das Lebende in der angeblich toten Materie zu erspüren, ein spürendes Sehen … Und eben darum darf das Lied, darf die Musik noch darüber hinaus gehen, darf, kann und muß das bereits Sichtbare, das bereits Sichtbargemachte und Vorgeformte nochmals aufnehmen, um ihm die letzten Schlacken der Todheit abzustreifen und es zum lautersten Leben zu vertonen, sichtbar das Lied über jede Hörbarkeit hinaus"(1, S.88).

Es vollzieht sich die Apotheose der Zeit selbst in dem Moment, da sie durch Musik "hörbar" gemacht, dem Menschen in eine sinnlich wahrnehmbare Form gebracht wird, die ihrerseits als Musik ein Prinzip in seiner abstrakten Erscheinungsform beinhaltet. Die kosmologische Ordnung tönt selbst, denn alle Sternen klangen.

Die Musik ist im Stande, Gesamtheit der sichtbaren Welt umzufassen. Sie verkörpert die Zeit harmonisch, nämlich aufgehoben im Gefüge des Kosmos. Und der Mensch bekommt durch die Musik die Möglichkeit, sich zu dem Absolut zu nähern. So geschieht es mit Andreas:

"A. … war es, als zeigte ihm etwas den Weg zum Mittelpunkt seiner selbst, den Weg zu der unendlichkeitsgeöffneten keuschen Stille des innersten Ichs, zur Keuschheit der innersten Erkenntnis und ihrem zarten Mut, der fähig wird, sich des Unvorstellbarsten zu bemächtigen: oh, unvorstellbar ist schon das Wegsterben des Ichs aus der verbleibenden Welt , unvorstellbarer jedoch das Nicht-Sein, das auch das der Vorstellung miteinschließt, das Sein der Nicht-Dimensionalität, in der letztlich das der unendlich vielen Dimensionen aufgeht, und wer bis zu solch äußerstem Vorstellungsgrad vordringt, dem ist es für diesen Augenblick, allerdings bloß für diesen einen Augenblick gelungen, nichtseiend zu werden, für diesen Augenblick den Tod zu überwinden. Das ist die Todesüberwindung des Sterbenden, dem die Gnade eines vollbewußten Lebens zuteil geworden war und nun die eines vollbewußten Sterbens, zuteil wird, und es ist vielleicht auch die Todesüberwindung des Kunstwerkes"(1, S.199).

H. Broch versucht die Einheit der musikalischen Zeit durch ihr transzedentes Prinzip zu bewahren. Ein musikalischer Gedanke ist ununterbrochen und dynamisch. Dazu dienen die Leitmotive, Variation und Kontrapunkt. Diese musikalischen Mittel führen zu der Transformation der Gestalten. Direkt in der Struktur der Gestalten geht der Schriftsteller auf die prinzipielle Struktur der Zeit im musikalischen Ablauf ein und erreicht damit einen theoretischen Reflexionsstand. Obwohl diese Technik einen experimentellen Charakter hat, ist sie sehr demonstrativ und anschaulich. Als Beispiel kann man die Novelle "Methodisch konstruiert" nennen.

"Jedes Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt besitzen, muß in seiner Einmaligkeit die Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen: so gilt es in der Musik, in ihr vor allem, und so mußte, ihr gleichend, auch ein erzählendes Kunstwerk in bewußter Konstruktion und Kontrapunktik aufgebaut werden können"(1, S.33).

Innere Zeit der Person, historische Zeit, musikalische Zeit bringt der Autor ins Spiel, um den Kernprozeß, den Prozeß der Erkenntnis zu verdeutlichen. Das ist ein dichterisches Modell seiner Theorie der Erwerbung von Wissen und seiner Theorie der Eroberung der Zeit. H. Broch meint, daß eben der Musiker der Totalitätsstimmung sehr stark unterworfen ist, weil im musikalischen Bereich "die Funktion der unmittelbaren und unmittelbar erlebten Zeitaufhebung einsetzt, weil hier die unmittelbare Transformation des Zeitablaufes in ein räumlich-architektonisches Gebilde stärker denn anderswo zu Bewußtsein kommt"(2, S.242). Das musikalische Denken bietet eine unendliche Anzahl von Gleichgewichtskonstelationen. Das Gesamtsystem assimiliert verschiedene Elemente, Verbindungs- und Gleichgewichtsmöglichkeiten sind unendlich reich als Spiegel der Welttotalität. "Und damit erreicht die Musik die ihr eigentümliche klar-erhabene Sphäre - im Zeichen der Zeitaufhebung stehen die Welterkenntnisse"(2, S.243). Deshalb spricht der Schriftsteller über die Architektuierung des Zeitablaufes, wie sie von der Musik vollzogen wird. Musikalisches Gleichgewicht, Gleichzeitigkeit, Verräumlichung der Zeit gehören nach diesen theoretischen Überlegungen zu den wichtigsten Darstellungsprinzipien auch im dichterischen Werk. Dargestellte Geschehnisse im Roman "Die Schuldlosen" sind nicht die Kettenglieder einer voranschreitenden Handlung, sondern nur verschiedene Absichten einer gleichbleibenden Zuständigkeit. Die äußere Zeit geht zum Stillstand, die innere Zeit wird vom Bewußtsein als aufgehobene imaginiert. Sie kann großräumig in der zeitüberspannenden Erinnerung oder momentan sein. So versucht der Autor den Eindruck der Simultaneität hervorzurufen. Deshalb sollen alle Novellen des Romans in einem Einklang aufgefaßt werden, aber das bedeutet absolut nicht, daß man das Verfließen der Zeit vollständig überwinden kann. Die Musik im Roman führt zur optischen Wahrnehmung des Textes durch die Konzentrierung auf einem Moment und deshalb durch inhaltliche Kondensation und durch seine inhaltliche Überbelastung. Das epische Werk vergegenwärtigt jeden Augenblick in seiner gesamten und ideellen Ausdehnung simultan.

"Sinn umgewandelt zur Bewegung, Bewegung umgewandelt zum Sinn, kurzum, Sinn zu neuem Sinn umgewandelt, das Unaussprechbare eingebettet in die Sprache, doch die Sprache eingebettet im Unaussprechbaren. Als sei die Welle des Jetzt von einer unendlich fremden Zeitwelle überschnitten, so lag der Sinn des Einzelausspruches im Gesamtsinn, als gäbe es viele und aber viele Zeitwellen auf einmal, sie alle aneinander vorbeihuschend, unerklärlich im Insektenchor der menschlichen Stimmen und des Gesagten, und A. hörte das Unverbrüchliche der Bewegungsverwandlung: das Zeitlose in der Zeit, die Zeit in der Zeitlosigkeit"(1, S.189).

Es geht hier um die Simultaneität, die erlaubt, die Unendlichkeit des Unerfasslichen einzufangen. Moment und Ewigkeit, die kürzeste und längste Zeitdauer, fallen zusammen. In der Erzähltechnik kann man die Tendenz zur Verknappung und Isolierung des zeitlichen Ablaufs beobachten (Novelle als Teil des Romans). Und das Hauptthema - die Schuld und die Schuldlosigkeit - wird in kleine Phrasen komprimiert.

Die Zeit strebt zu der Erkenntnis des Todes, zur Zeitlosigkeit. So geschieht der Prozeß der Aufhebung der Zeit. Die Zeit ist aber mit dem Raum vebunden. In dem Moment der Entzeitlichung verwandelt sich die Zeit in den Raum. Der Raum im Roman wird auch nach den musikalischen Gesetzen organisiert. Die Musik hat also außer dem Zeitlichen auch etwas Räumliches. Sie erlaubt in der Gleichzeitigkeit verschiedene Bewegungen aufeinander zu beziehen und sie auch in Beziehung zum Raum zu stellen. Das ist sogenannte Polyrhythmik. Der Roman "Die Schuldlosen" als simultaner Roman ist auch polyrhythmisch. Die Hauptpersonen des Romans, "die Schuldlosen" im Sinne der aktiven Schuld oder gar des Verbrechens, sind Typen und als Typen haben sie etwas Überpersönliches in ihren Charakteren. Sie alle haben ihre eigenen Schicksale, die nur selten miteinander in Berührung treten. Dabei widerspiegelt der Text etwas Gemeinsames – eine gewisse Seins-Konstellation, die "die radikale Vereinsamung und schuldhafte Gleichgültigkeit des Individuums" zeigt. Verschiedene Rhythmen wie einzelne Individuen sind Einzelgänger, aber zusammen ist das ein seltsames Leben. Das Gemeinsame ist hier der Raum, der sie zusammenhält. Er wird durch die freien Bewegungen der Individuen durchmessen und auf diese Weise wird er uns in seiner Unerschöpflichkeit bewußt. Die "souveräne Freiheit" der einzelnen individuellen Gestalten wird dadurch ermöglicht, daß sie alle gleichermaßen das Gesetz der Zeitlichkeit anerkennen. Ihr Nebeneinander ist nicht Beziehungslosigkeit. Sie unterscheiden sich voneinander wie Figuren im Raum, und zwar so, daß aus diesem Sich-Unterscheiden der gemeinsame Raum als Erfahrung hervorgeht. Die Einheit des Raumes wird uns durch die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Figuren und ihrer Bewegungen bewußt. Dieser Raum ist keine äußere, festgestellte, sondern eine innere Einheit. Diese Einheit ist nicht Ziel oder Grund des Vorgangs, sondern die Spannung des Entgegengesetzten selbst und kann nur aus dem Vollzug und Mitvollzug als Erfahrung hervorgehen (5, S.122).

Die zeitlichen Dimensionen werden im Roman in den räumlichen Objekten fixiert.

"Eigebettet ist die Zeit im Raum wie im Raumlosen, eingebettet der Raum in der Zeit wie im Zeitlosen, ob bestehend oder nicht-bestehend, Zeit und Raum ineinanderverquickt. Jedes Geschehen, das im Sein vor sich geht- und nur geschehnd ist das Sein – jede Bewegung, jede Rede, jede Melodie trägt die Verquickung, wird von der Verquickung getragen; doch in der unauflöslichen Vielfalt der Bewegung, in diesem wahrhaft musikalischen Chor von Spannungen und Linien, den dinglichen wie den gedachten, den gehörten wie den gesehenen, erweitert sich die Verquickung zu dem, was sie ist, zur Vieldimensionalität, und im Chorhaften des Seins wird dem Auge das Vieldimensionale im Dreidimensionalen sichtbar, Realität hinter der Realität, die zweite – wenn auch noch lange nicht die letzte – unsichtbare Realität, deren Teil der Mensch ist, und in der er lebt, unabhängig von seinem Hier und Jetzt …" (1, S.190).

Der Raum ist nicht konkret bestimmt, aber er erhält seine eigentliche Bedeutung erst durch die Zeit, dadurch, daß er als Raum in der Zeit gesehen wird. Die Verräumlichung der Zeit bedeutet, daß die verschiedenen in diesem Raum versammelten Zeitstufen gleiche Gegenwärtigkeit gewinnen. Eigentlich ist es nicht so wichtig, wie die Ereignisse datiert werden. Wichtig ist die Feststellung, daß "uns das Gestern in das Morgen reicht und wir beides in einem sehen, wundersam das Geschenk der Gleichzeitigkeit" (1, S.244). Und es geht in dieser Verzeitlichung nicht so sehr um ein historisches Verständnis, sondern um die zeitliche Tiefe eines im Raum des Hier und Jetzt Gegenwärtigen. Der Raum verliert ihre spezifische Zeitqualität – "fließende" Zeit zu sein – in dem ihre verschiedenen "Ekstasen" in bestimmten Räumen aufgehoben sind. So wird die Zeitlichkeit der Menschen erfahren und zugleich relativiert.

Die Auffassung der Musik als Symbol einer mystisch-logischen Welttotalität ist der romantischen Tradition nahe, aber H.Broch war auch von der modernen Musik beeinflußt. In "Stimmen 1913" spricht der Schriftsteller über die alte Tradition der Harmonie, über die Musik, die "die wohnliche Ordnung der irdischen Symbole" widerspigelt –

"die Spiegelung des Kosmos in des Dreiklangs Ruhe, in seinen langsamen Auflösungen und Einmütigkeiten. Und eben dies war Europas Würde, die gebändigte Bewegung, die Ahnung der Ganzheit im Fortschreiten folgend den Linien einer Musik" (1, S.18).

Aber für den Zeitgeist der neuen Epoche ist diese Tradition zu alt. Die ständige Ordnung ist zerbrochen, alles ist zugleich und verbindungslos. Die Dissonanz herrscht überall, ebenso die Tendenz zur Befreiung von den Gesetzen der Harmonie. Aber die Dissonanz, wie auch die Konsonanz, ist eine gewisse Vereinigung, gewisse Assoziation. Der Kontur der Konsonanz oder Dissonanz folgend, begegnen wir dem einen oder anderen Ton, dabei bestätigen wir etwas, das heißt, wir geben unsere Zustimmung zu dieser Einheit oder nicht, bestätigen uns in unserer Schätzung, positiv oder negativ, überzeugen uns davon, und es scheint so, als ob wir uns einige Zeit im Rahmen dieses Zusammenklanges befinden. So eine Art der bewegenden Ruhe. Die Herrschaft von Dissonanz wird im Roman nicht nur thematisiert, sondern ist auch ein Darstellungsprinzip, auch in der Struktur des Helden.

H. Broch ist der Meinung, daß die Möglichkeiten unseres Denkens grenzloser als die Möglichkeiten des Naturgeschehens sind. Die reine Reflexion aber kann die Grenze der Zeitlichkeit nicht überwinden. Das Wissen um die Zeitlichkeit kann nur im Handeln aufgehen. Als eine Einheit von Tun und Wissen kann Musik ein Einbrechen der Zeitlichkeit im Handeln sein. Das ist eine Erkenntnis, die an den Vollzug gebunden ist, in ihm kann die Dimension des Bezuges und damit die innere Einheit in der Vielfalt des Begrenzten aufbrechen und erfahrbar werden. Alle Wechselwirkungen zwischen dem Endlichen und Unendlichen, das Menschsein des Menschen überhaupt – gemessen an der Wirklichkeit zeitlichen menschlichen Daseins ist ein unerreichbares Ideal. Aber die Literatur in der Synthese mit der Musik kann und soll versuchen, dem Menschen zu helfen, den Tod zu überwinden, zu erkennen, was den Menschen zum Menschen macht.

© Switlana Fiskowa (Lviv)

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Anmerkungen:

(1) Broch H. Die Schuldlosen.- Frankfurt am Main,- 1974, KW, Bd.5;

(2)  Broch H. Gedanken zum Problem der Erkenntnis in der Musik.- in: Philosophische Schriften. 2. Theorie.- KW, Bd.10/2;

(3) Hermann Broch und seine Zeit – Jahrbuch für internationale Germanistik.- Reihe A, Bd.6.- Bern,-1980;

(4) Naumann B. Musikalisches Ideeninstrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik.- Stuttgart,-1990;

(5) Schmidt B. Der ethische Aspekt der Musik.-Würzburg, 1991.


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