Herbert Arlt (Wien)
[BIO]
Daß eine Konferenz zum Thema "Austrian Literary History" mit einer Sektion zur Geschichte der Darstellung der österreichischen Literatur eröffnet wird, ist kein Zufall. Denn obwohl es nicht erst seit dem 18. Jahrhundert mit Gottsched Versuche gibt, österreichische Literatur auf sehr unterschiedliche Weise darzustellen bzw. auch anderweitig zu integrieren, herabzusetzen oder überhaupt zu negieren, ist - gerade nach den Diskussionen und Versuchen der letzten Jahrzehnte, an der nicht wenige der an der Konferenzvorbereitung und -durchführung Beteiligten involviert waren - ein Entwurf einer österreichischen Literaturgeschichte ohne eine Historisierung nicht denkbar.(2)
Nicht zu erwarten ist im Rahmen eines einleitenden Beitrages eine systematische Aufarbeitung der bisherigen Darstellungen, Diskussionen bzw. der Diskussionbeiträge im Vorfeld der Konferenz. Ist doch diese Konferenz der Beginn eines dreißigjährigen Projektes, dessen Phasen (Auswahlbiobibliographie, Biobibliographie, Literaturgeschichte; begleitet von Groß- und Kleinprojekten u.a. zur Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftslogistik, Wissenschaftskommunikation) zwar geplant sind, aber die Planung stützt sich - wie es nicht anders bei einem beabsichtigten wissenschaftlichen Annäherungsprozeß sein kann - auf vorläufige Thesen, die der Verständigung dienen sollen, und Erwartungen zu Förderungen (wobei - ähnlich wie in anderen Bereichen - ein Umdenken bei den Förderungen auf nationaler und internationaler Ebene erst noch einzusetzen hätte).(3) Und wie sich bereits in den breit geführten Diskussionen im Vorfeld der Diskussionen (an der über 170 WissenschafterInnen teilnahmen) zeigte, sind die Defizite in der Aufarbeitung von Wissenschaftsgeschichte, in der Bereitstellung von Daten, in der Ausprägung von Forschungsstrukturen, der Formen bisheriger Forschungsförderungen sehr groß.(4) Trotzdem gibt es eine Vielzahl von Ansätzen, Vorschlägen, Projekten, in den letzten Jahren und Jahrzehnten entstandenen Einrichtungen, die als unverzichtbare Voraussetzungen für einen großen Projektentwurf angesehen werden können.
Ein einleitender Beitrag für eine derartige Konferenz wird sich daher nicht darauf beschränken, Ergebnisse zu einigen wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten vorzustellen, sondern wird grundsätzlich einige Fragen aufwerfen, die es nicht beim "Für und wider" einer österreichischen Literatur belassen (was weder den bisherigen Ansätzen seit dem 19. Jahrhundert noch der breiten Vorbereitungsdiskussion entsprechen würde; auch zeigt die Tatsache, daß derzeit an 3 Literaturgeschichtsprojekten zur österreichischen Literatur in Österreich, an zweien in Frankreich, je einem in den USA und in Rußland gearbeitet wird, daß dieses Stadium der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verlassen wurde). Eine derartige Einleitung kann sich auch nicht auf Aspekte der historischen Darstellungen selbst beschränken, sondern wird Aspekte des Gegenstandes, die Rahmenbedingungen des Wissenschaftsprozesses mitbedenken müssen. Und sie wird auch neuere Überlegungen diverser Art nicht außer Acht lassen können.
Keine Rolle werden in diesem einleitenden Beitrag pragmatische Fragestellungen spielen, die für bisherige Erarbeitungen von Literaturgeschichten als Einzelprojekte (frühes Beispiel: Toscano del Banner) oder Gruppenprojekte (s. z.B. die kritische Diskussion zum Projekt von Schmidt-Dengler) eine Rolle spielten. Vielmehr geht es um grundsätzliche Fragestellungen bei der Erarbeitung einer Literaturgeschichte im Sinne einer größtmöglichen Annäherung an den Gegenstand, der durchaus auch für laufende Projekte von großem Gewinn sein kann.
Zu diesen grundsätzlichen Fragestellungen gehört die Bestimmung des Gegenstandes, der Methodologie, der Erarbeitung der Grundlagen, der Art der Schreibung einer Literaturgeschichte (unter besonderer Berücksichtigung der neuesten technischen Möglichkeiten).
Die Behandlung der diversen Fragestellungen sollen durch eine grundsätzliche Beobachtung eingeleitet werden. Im Gegensatz zu anderen Kontinenten ist der Kulturbegriff in Europa (nicht aber unbedingt der Begriff der Nation, wie Annette Daigger zeigen wird) eng mit der Sprache verbunden. Bisherige Darstellungen, der Verlauf von politischen Konflikten auch in der Gegenwart, scheinen nahezulegen, daß Sprachfragen ein zentrales Kriterium der Erarbeitung einer Literaturgeschichte schlechthin sind.
Tatsächlich kann aber gezeigt werden, daß eine These auch wissenschaftshistorisch gesehen nicht unwidersprochen bleibt, die die Konstituierung von "Nationalliteraturen" an eine Sprache bindet. So wird zum Beispiel im Sammelband von Fohrmann/Voßkamp(5) der Gegenstand im Zusammenhang mit der Habsburgermonarchie auf den Teilbereich "Neuere deutsche Literatur" eingeschränkt, Teile des Aktenmaterials (z.B. Kraków) nicht berücksichtigt, die Mehrzahl relevanter UniversitätslehrerInnen gar nicht erwähnt, beginnende Transdisziplinarität (wie sie an vielen Universitäten der Habsburgermonarchie praktiziert wurde) indirekt als nicht der Professionalisierung der Germanistik entsprechend abqualifiziert. Es ist daher auch nicht weiters verwunderlich, daß Auseinandersetzungen zur Darstellung einer österreichischen Literatur auf Aspekte des 20. Jahrhunderts beschränkt bleiben (bzw. das 19. Jahrhundert von vornherein mit Nationalismus identifiziert wird) und insbesondere die Wende von Josef Nadler, Adalbert Schmidt, Heinz Kindermann und anderen von einer nationalsozialistischen Darstellung zu einer Verfechtung einer Existenz einer österreichischen Literatur mehr den Zeitumständen geschuldet angesehen wurde als einer gegenstandsorientierten literatur- und sprachwissenschaftlichen Arbeit. Und da viele derjenigen, die wissenschaftsorganistorische Alternativen zur nationalistischen Arbeitsteilung an Universitäten unter schwierigen Bedingungen auch nach 1918 vertraten, im Zuge der nationalsozialistischen Eroberungen ums Leben kamen, die stalinistische Politik nach 1945 es meist nicht nur nicht erlaubte, derartige Ansätze aufzuarbeiten, sondern überhaupt die Arbeit der Germanistik behinderte, reduzierte bzw. verunmöglichte,(6) im Westen die Wissenschaft nach 1945 durch Kontinuitäten, Nicht-Aufarbeitung, Beschränkung geprägt war, wurden Ansätze von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nur sehr einseitig und selektiv berücksichtigt (was sich zum Teil erst sehr spät zu ändern begann, zum Teil bis heute nicht kritisch reflektiert wurde).(7)
Es wird daher nicht damit getan sein, die Verbindung von Nationalsozialismus und Germanistik bzw. diversen faschistischen Strömungen und den jeweiligen "Landesliteraturwissenschaften" systematisch aufzuarbeiten (was längst ausständig ist), sondern es wird darum geben - auch im Vergleich mit Ansätzen auf anderen Kontinenten die Geschichte der Darstellung grundsätzlich zu überdenken - insbesondere auch unter Einbeziehung divergenter historischer Ansätze in Europa selbst.(8)
Aus diesem Grund möchte ich in meinem einleitenden Beitrag zunächst auf einige historische Ansätze eingehen, dann aber in die Fragen der Darstellung auch weitere Grundfragen einbeziehen (Erfassung von Daten und Fakten, Forschungsorganisation), die im Zusammenhang mit historischen Reflexionen zu Fragen der Darstellung der österreichischen Literatur relevant sind. Und schließlich sollen auch noch einige perspektivische Momente berücksichtigt werden.
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Darstellungen von Literaturgeschichte sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Nationalbewegungen gekoppelt. Es ist der Aufstieg des deutschen Reiches, der nicht nur eng mit der Entdeckung von Sagen, Mythen, der Erforschung alter Sprachen, sondern vor allem mit einer Massenverbreitung von Literaturgeschichten(9) verbunden ist, der zu Gegenreaktionen führt, in dessen Folge Kultur als wesentlicher Faktor zwischenstaatlicher Machtkämpfe einbezogen wird, zu einem Kernelement dieser Auseinandersetzungen wird und bis um 1989 bleibt.(10) Dabei geht es nicht so sehr um Sagen, Mythen, Literatur, Kultur an sich (obwohl auch hierzu viel kritisches geschrieben wurde)(11), sondern um deren Instrumentalisierung, um den Versuch der Verunmöglichung, als solche wirksam zu werden (was wiederum in den Gegenbewegungen dazu führte, Kunst "umgepolt" zu instrumentalisieren; eine Kontinuität, die in der Form - wie ich es nenne - eines "ideologischen Realismus" heute vor allem in der medialen "Behandlung" von Peter Handke, Günter Grass deutlich sichtbar wird).
Tatsächlich bildet sich eine österreichische "Nationalliteratur" in Elementen ab dem 18. Jahrhundert heraus. Dabei ist maßgeblich, daß Literatur eng an Kommunikationsbedingungen geknüpft ist - und nicht nur an staatliche Gegebenheiten.(12) Sind im Mittelalter noch Latein und andere Sprachen vorherrschend (wobei unterschiedliche soziale Schichten einer Gesellschaft unterschiedliche Sprachen sprechen können), sind es wenige, die bis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht (in der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert) des Lesens und Schreibens mächtig sind, so sind auch die Kommunikationsbedinungen im 18. Jahrhundert noch durch Beschränktheit gekennzeichnet.(13) Die Herausbildung eines Publikums durch Lehre von Lesen und Schreiben, die Lockerung der Zensur, die Herausbildung einer modernen Verwaltung, der Beginn einer Massenkommunikation befördern zugleich Auseinandersetzungen um Sprachen, die keineswegs unabdinglich sind. Sosehr Sprache zu einem Faktor von Verwaltung, Handel, Produktion wird, sosehr ist doch diese Sprache nicht in sich geschlossen, eine "reine" Sprache. Es sind Sprachen, die wesentlich durch Latein und Griechisch (im Ungarischen sind aufgrund der protestantischen Orientierung weniger Wörter aus dieser Lexik nachweisbar), durch andere Sprachen der Länder der Habsburgermonarchie, aber auch durch das Englische, Deutsche usw. beeinflußt sind. Und selbst der Wandel von Medien hat einen übergreifenden Einfluß auf Sprachstrukturen, wie Kraus anhand der Auseinandersetzungen mit den Printmedien gezeigt hat und wie sich aus Studien zum Wechselverhältnis von Sprachverwendung und Fernsehen zeigt.(14)
Vor diesem Hintergrund des Wechsels der Sprachen, der Veränderung der Grenzen, der Verschiebung der Kommunikationsfelder die Existenz einer vielhundertjährigen deutschen, französischen, österreichischen "Nationalliteratur" oder "Nationalsprache" proklamieren zu wollen, ist Fiktionalisierung, die im 19. Jahrhundert ihre Wurzeln hat. Der Begriff "Nation" als Negation bestimmt, als Abgrenzung, die real weder im Sprach- noch im Kunstprozeß existiert, sich aber - aufgrund seiner (aus sehr unterschiedlichen Gründen) breiten Verankerung - als relevanter Faktor im Machtkampf erweist und damit ein staatlich zu beachtender Faktor bleibt. Er ist verbunden mit Theorien zur "Zivilisation", zum "Herrenmenschentum" usw., die Gewaltanwendungen rechtfertigen.(15)
Nationalliteratur erscheint so oft als durch die staatliche Verwaltung definiert, denn die Differenz zwischen Kunstgrenzen und "Nationalgrenzen" (vgl. zum Beispiel die Grenzen Italiens und die Verwendung der Formen der Commedia dell'arte, die Grenzen Frankreichs und die Ausstrahlung des Surrealismus nicht nur im europäischen Raum), sind nicht nur aufgrund der Mischform der Sprachen, der Grenzüberschreitung der Sprachverwendungen (z.B. Latein im Mittelalter oder Englisch in der Gegenwart), sondern auch aufgrund der Distribution schwer zu bestimmen. Spezifische Rahmenbedingungen wie Kunstförderung oder Kunstverhinderung sind in diesem Zusammenhang nur ein Faktor. Und es wäre nachzufragen, was auf die Literatur größeren Einfluß ausgeübt hat: die Einführung der Printmedien oder diverse politische Zäsuren (oder ob nicht überhaupt von sehr unterschiedlichen Faktoren ausgegangen werden muß, wenn es um Bestimmungen von Zäsuren geht).
So verbleibt für den Analystiker zunächst ein divergierendes Forschungsfeld "österreichische Literatur", ein Literaturprozeß, der - nicht mehr und nicht weniger wie in einer "deutschen", einer "französischen", einer "englischen" Literatur - Kernelemente enthält, die gerade unter heutigen Bedingungen in Frage gestellt bzw. auch mittels neuer Kommunikationsträger reaktiviert werden.
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Die Entwicklungen der Literaturprozesse in den einzelnen europäischen Ländern verliefen sehr unterschiedlich. Insbesondere die Forschungs- und Distributionsprozesse weisen in diesem Zusammenhang große Unterschiede auf. In Österreich waren es vor allem Autodidakte, die wesentliche wissenschaftliche Leistungen erbrachten (Toscano del Banner, Nagl und Zeidier, später Giebisch und Gugisch), die aber weitgehend abgeschnitten von Ausbildungsprozessen (und damit dem Multiplikatorensystem) und von Massenkommunikation waren. In keiner Weise hat jemals die Literaturgeschichtsschreibung in Österreich eine derartige Rolle gespielt wie in Deutschland (ganz abgesehen von der mangelhaften Bibliographie, der problematischen Sammlung von Literaturfakten, des noch weit verbreiteten Analphabetismus usw. im 19. Jahrhundert). Und sie verbleibt auch - wie die Art der Organisation der Frankfurter Buchmesse zeigt - in ihrer Potentialität grundsätzlich unterschätzt.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, daß nicht alles aus "Deutschland" problemlos importiert bzw. übertragen werden konnte. So wie sich die Habsburger bei der Standardisierung der Sprache an Gottsched orientiert hatten (wodurch massive Probleme entstanden; nicht nur in der Ablehnung von Deutsch als allgemeine "Verkehrssprache" durch andere "Nationalitäten", sondern auch in "Deutsch-Österreich" selbst, wo sich zwei Standardvarianten herausbildeten und wiederum die Universitäten - zum Teil bis heute - keine namhafte Rolle bei deren Dokumentation und kritischer Begleitung spielen), so war auch der Versuch, Universitätsorganisationsprinzipien aus Deutschland zu berücksichtigen, wenig brauchbar. Denn der Begriff Österreich umfaßte in der Zeit der Etablierung der Germanistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Länder der Habsburgermonarchie. Eine universitätskonforme Einrichtung eines Lehrstuhles zur österreichischen Literatur hätte daher einer Abkoppelung von der Instrumentalisierung der Kultur im Zusammenhang mit Nationalitätenauseinandersetzungen bedeutet und eines Lehrers bedurft, der zumindestens etliche Sprachen der Habsburgermonarchie gesprochen hätte. Eine derartige Einrichtung - verbunden mit anderen Maßnahmen - hätte eine Alternative in Europa dargestellt. Tatsächlich gab es zum Beispiel mit Hugo Schuchardt einen Gelehrten, der diese Anforderungen erfüllte. Und teilweise wurde auch an die Bewerber für Lehrstühle die Anforderung gestellt, daß andere Sprachen als bloß Deutsch zu beherrschen seien (zum Beispiel in Kraków). In einzelnen Teilen der Monarchie hatten die Auseinandersetzungen mit Sprachfragen grundlegende Folgen (zum Beispiel in Prag, wo 1882 die Universität gespalten wurde und zwar die "tschechischen" Germanisten Deutsch, die "deutschen" Germanisten aber nicht Tschechisch konnten).(16)
Diese Problematik des Auseinanderfallens der deutschen Nationalliteraturbewegung und der Differenz in Österreich wurde auch reflektiert. Vorlesungen bzw. die Begriffsverwendung "Österreichische Literatur" gibt es bei Kosch, Scherer, Sauer, und zumindestens August Sauer machte den Vorschlag, daß ein Zentralinstitut für Literaturgeschichte gegründet werden solle, das zumindestens 12 Sprachen der Habsburgermonarchie zu berücksichtigen hätte (wobei Sauer selbst zu denjenigen gehörte, die nicht einmal Tschechisch beherrschten, obwohl er lange Zeit in Prag lehrte).
Es ist daher nicht verwunderlich, daß Wilhelm Scherer, anhand dessen Werk die Zwiespältigkeit von Kunst- und Nationalliteraturdarstellung gut studiert werden kann(17), für das Adjektiv "österreichisch" im Zusammenhang mit der Literatur des Habsburgerreiches Anführungszeichen verwendete. Denn in Deutschland, wo deutsche Literaturgeschichten hohe Auflagen erzielten (wozu auch die von Scherer gehörte), beschränkte man sich als Kriterium auf die "deutsche Sprache". Und diese Konzeption wurde in der Habsburgermonarchie auch von den Autodidakten als Grundlage ihrer "österreichischen" Literaturgeschichte verwendet. Banner beklagt, daß es außer zur deutschen Sprache zu jeder anderen Sprache der Habsburgermonarchie eine Literaturgeschichte gäbe, Nagl/Zeidler beschränken sich ebenfalls auf die deutsche Sprache und die späteren Darstellungen (Adalbert Schmidt, Josef Nadler usw.) sind zum Teil schon aus politischen Gründen eng mit dieser Konzeption verbunden. Eine andere Form wurde - trotz der beginnenden Rezeption der Entwicklung in Amerika und Asien im 19. Jahrhundert für die Universitätsorganisation des Habsburgerreiches nicht relevant (wohl aber im Zusammenhang mit Gestaltungsvorstellungen zur Habsburgermonarchie).
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Das Habsburgerreich ist also - trotz anderer Möglichkeiten und Ansätze - auch durch Nationalitätenkonflikte gekennzeichnet. Und gerade dort, wo die schärfsten Nationalitätenauseinandersetzungen ausgetragen werden (Ungarn, Prag, "Deutsch-Österreich"), verbanden sich nicht wenige Germanisten mit nationalistischen, nationalsozialistischen und faschistischen Strömungen. Dagegen versuchten Wissenschafter wie Arnot Kraus (Prag) grenzüberschreitend tätig zu sein.(18)
Als Beispiel des Übergangs von nationalen bzw. deutschnationalen Ansätzen in der Habsburgermonarchie zum Nationalsozialismus soll die Literaturgeschichte von Nagl/Zeidler erwähnt werden, die Castle fortführte.(19) Aber auch andere Arbeiten, die einander oft politisch diametral gegenüberstehen, gehen unmittelbar auf Traditionen der Habsburgermonarchie zurück (im Falle von Josef Nadler und Paul Reimann auf August Sauer). Doch im Gegensatz zu Nadler, der sich im "Kleinen Nachspiel" davon distanzierte, daß Sauer auf seine literarhistorischen Konzeptionen einen wesentlichen Einfluß gehabt habe, verwendet Paul Reimann auf der 2. Konferenz des "Austrian Center" in London 1944 Sauers Titel "Gestalten und Probleme der österreichischen Literatur" als seinen Beitragstitel. Wenn es nach 1945 dann zur "Wandlung" diverser KulturwissenschafterInnen kommt, so sind es doch ÖsterreicherInnen aus dem Exil wie Hilde Spiel, die mit einem sehr breiten Ansatz eine Darstellung österreichischer Literaturgeschichte in relevanter Weise versuchten.(20)
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Das Problem der personellen Kontinuität nach 1945 bedeutete aber nicht nur eine Nichtaufarbeitung der nationalistischen Arbeitsteilung, des Nationalismus und dessen Wurzeln an österreichischen Universitäten, sondern brachte auch vielfältige strukturelle Probleme mit sich. Trotz quantitativer Ausweitung des Lehrpersonals sind daher in vielen Bereichen nur ansatzweise Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsorganisation usw. reflektiert, grundlegende Leistungen erbracht worden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß aus diesen und anderen Gründen ohne Initiativen von außen viele grundlegende Forschungsfelder nicht behandelt worden wären bzw. gerade beim heutigen Stand der Entwicklung ohne eine weitere Ausdifferenzierung (bei gleichzeitiger Gewährleistung von Forschung und Weitergabe von Forschungsergebnissen) die Bedeutung aller Institutionen weiter sinken wird.
Beispiele für außeruniversitäre Einrichtungen, die im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer österreichischen Literaturgeschichte relevant sind und sicherlich im Laufe der Konferenz eingehender behandelt werden, gibt es nicht wenige. Zum Teil wurden zum Beispiel auch noch nach 1945 wesentliche Initiativen zu Forschungsbereichen (Kinder- und Jugendliteratur, außerkanonische Forschung, Rezeptionsforschung, interkulturelle Forschung u.a.), zu Sammlungen (Dokumentation der Österreich-Literatur) außerhalb der großen Institutionen (Universitäten und deren Bibliotheken, Akademie, Nationalbibliothek) entwickelt. Erst in jüngster Zeit konnte mit der Nachlaß-Sammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek ein Ansatz geschaffen werden, bei der eine Institution eine Rolle spielte (wobei die Anregung von universitären Einrichtungen kam und außeruniversitäre Wissenschafter eine maßgebliche Rolle spielten). Das Internationale Zeitungsarchiv wurde in Innsbruck ins Institut für Germanistik integriert. Ein eigenes steiermärkisches Regionalforschungsinstitut wurde in Zusammenarbeit mit der Universität aufgebaut. Das "Brenner-Archiv" wurde ein Teilbereich der Universität. (Womit nur einige Beispiele angeführt wurden.) Aber bei der Datensammlung für die Forschung sind weiterhin grundsätzliche Probleme ungelöst. Und so sehr die Sammlung von Literaturdaten in Vorbereitung von Frankfurt am Main zu begrüßen ist(21), so wäre doch eine Gewährleistung der Fortführung, eine Ermöglichung einer Kooperation mit dem Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse, das Rezeptionsdaten (Ausland, Wissenschaft) und anderes einbringen kann sowie mit anderen Institutionen wünschenswert.
Die Trennung von universitärer und nicht-universitärer Forschung bzw. die unbedeutende Rolle der Akademie der Wissenschaften in Wien (bei der Renovierung vor der Entwicklung moderner Arbeitsmethoden zu gehen scheint, Repräsentation vor wissenschaftsgeschichtlicher Aufarbeitung usw.) hat sicherlich vielerlei Gründe. Nicht zuletzt ist aber festzustellen, daß auch mangelnde Aufarbeitung der eigenen Geschichte, der eigenen Strukturen, der Entwürfe für gesellschaftlich relevante Projekte, eine mangelnde Wissenschaftsöffentlichkeit eine Rolle spielen.
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Zu den Perspektiven: Der Gedanke, daß diese Konferenz bereits selbst Teil einer Geschichte der Darstellung der österreichischen Literatur ist, ist sicherlich nicht unrichtig. Deshalb wird es auch erlaubt sein, einige Aspekte des bisherigen Diskussionsprozesses im Vorfeld der Konferenz hervorzuheben. Erstens: Nicht nur die Datensammlungen sind mit der neuen Technologie nicht mehr an Platzbeschränkungen, Hierarchisierungen usw. gebunden, sondern auch Darstellungen. Das ermöglicht unter anderem die Einbeziehung von Divergenzen, das Aufbrechen einer Wissenschaft, die sich, anstatt sich auf die Kraft der Argumente zu verlassen, auf die Kraft der Ausschließung stützt. Als Vorschlag zur Darstellungsweise wird eine Hyperlink-Schreibweise entwickelt, die im Zuge der 2. Phase der Erarbeitung der Literaturgeschichte präzisiert werden soll. Zweitens: Da es keine pragmatischen Gründe gibt (Platzbeschränkung aus Kostengründen oder Übersichtlichkeit, Inflexibilität aufgrund eines hohen Kostenaufwandes für einen Neudruck), kann die Erarbeitung einer künftigen Geschichte der österreichischen Literatur in einer Annäherungsforrn erfolgen. Für diese Annäherungsform sind ausschließlich Fragen eines maximalen Annäherungs- und Erkenntnisprozesses maßgebend. Alle anderen Anliegen (Pädagogik, Massenauflagen, Berücksichtigung eines Ziellandes usw.) können in Form von Teil- oder Kooperationsprojekten realisiert werden. Als altes Denken würde sich jedoch erweisen, im Sinne einer Einschränkung der kulturwissenschaftlichen Tätigkeiten, Detailprojekte als "Alternative" zum vorgeschlagenen Forschungsprozeß zu präsentieren. Mehr als eine Einschränkung von Mitteln kann durch nicht-öffentliche Verhinderungsmaßnahmen nicht erreicht werden (und es ist gerade bei er derzeitigen Ausdifferenzierung der Kommunikationssphären zu erwarten, daß Versuche zur Einengung, die nichts anderes als kanonische Versuche sein können, weiter zur Diskreditierung der Literaturwissenschaften beitragen werden). Drittens: Im Zuge der Erarbeitung sind auch andere Forschungsbereiche (Theaterwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Geschichtswissenschaft usw.) nicht nur weitergehender einzubeziehen, sondern auch diverse Bereiche wie Rezeptionswissenschaft, Textwissenschaft, Sprachwissenschaft usw. im Sinne realer Kommunikationsstrukturen weiter auszubauen, wobei sie keineswegs als Hilfswissenschaften angesehen werden sollten. Denn auch wenn der Text als Text analysiert werden soll, so sind doch die anderen Faktoren genauso zu bewerten, und es wäre daher von Wechselwirkungen und nicht von Dominanzen auszugehen, was sich auch in der Struktur der Datensammlungen (bzw. deren Vernetzungen) sowie der Darstellungsform ausdrücken müßte. Viertens: Nicht nur der Text, sondern auch die Textrealisierung (in Theater, Film, Internet usw.) sollte erforscht werden. Denn gerade durch die Konfrontation von Text, Textrealisation und Textkritik zeigen sich vielfältige Potentialitäten. Fünftens: Beibehalten sollte auch werden, daß in der begleitenden Diskussion auf Großkonferenzen Themen zur Sprache gebracht werden bzw. im Mittelpunkt stehen sollten, die einen ganz allgemeinen kulturwissenschaftlichen Charakter haben und nicht nur unmittelbar im Zusammenhang mit Österreich oder österreichischer Literatur stehen (z.B. Datenmengen, Wissenschaftsorganisation, moderne Technik und heutige Darstellungsmöglichkeiten usw.).
Es ist daher zu wünschen, daß von dieser Konferenz ein Anstoß ausgeht, Partikularismus, Standesdenken, veraltete Organisationsformen zu überwinden. In diesem Sinne wäre die Erarbeitung einer österreichischen Literaturgeschichte mit einem grundlegenden Prozeß einer Umorientierung im literatur- und sprachwissenschaftlichen Arbeiten in Europa verbunden, in den sie ihre spezifischen Ergebnisse einbringt, die nicht auf eine österreichische Literaturgeschichte allein beschränkt bleiben wird.(22) Sie wäre ein Experimentierfeld für wesentlich größere zukünftige Vorhaben, wie sie in anderen Bereichen der Kulturwissenschaften mit Datenerfassungen usw. bereits realisiert wurden oder werden.
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Donald G. Daviau/Herbert Arlt (Hgg.): Geschichte der österreichischen Literatur. Teil I. St. Ingbert: Röhrig, 1996 (=Österreichische und internationale Literaturprozesse, Bd.3, Teil I). S. 13-23.
Anmerkungen:
(1) Überarbeitete Fassung des Beitrags zur Konferenz "Austrian Literary History" vom 19.-23.4.1995 in Riverside (University of California).
(2) Donald G. Daviau und seine Mitarbeiter in Riverside hatten bereits am Beginn der 90er Jahre rund 500 Beiträge registriert, die sich dem Thema "österreichische Literatur" widmeten. Vgl. zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund auch: Herbert Arlt: Geschichte der Germanistik in der Habsburgermonarchie (Vortragsmanuskript, masch.) und zur Entwicklung vom 18. bis 20. Jahrhundert Studien von Herbert Arlt: Österreichische Literatur "Strukturen", Transformationen, Widerspruchsfelder. Studien zur österreichischen Literatur vom 18.-20. Jahrhundert. St. Ingbert 1999.
(3) Beginn eines Großexperiments. Ein Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse. In: Wiener Zeitung, Lesezirkel, Kulturmagazin Nummer 3, Oktober 1995, S.18/19.
(4) Herbert Arlt: Zur Wissenschaftsorganisation der Germanistik. In: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.1/1996.
(5) Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1994.
(6) Vgl.: Zur Geschichte der Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Polen. St. Ingbert 1996 (= Ost-, Mittel- und Südosteuropäische Literatur-, Theater und Sprachwissenschaft, Bd. 1.)
(7) Vgl. dazu die Dokumentationsgespräche in der Zeitschrift "Jura Soyfer" mit Kurt Krolop (2.Jg., Nr.3/1993), Eduard Goldstücker, Lajos Némedi (3Jg., Nr.1/1994), Leslie Bodi, Jurij Archipow, Penka Angelova (3.Jg., Nr.4/1994), Rainer Rosenberg (4.Jg., Nr.1/1995), Johann Marte, Walter Methlagl (4.Jg., Nr.2/1995).
(8) Vgl. dazu das Dokumentationsgespräch mit Anil Bhatti. In: "Jura Soyfer", 4.Jg., Nr.3/1995.
(9) Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981.
(10) Daraus ergäbe sich die Chance, Kunst in neuer Weise sich entfalten zu lassen. Bisher fehlen dazu aber sowohl die kulturwissenschaftlichen als auch die politischen Einsichten. Es verbleibt eine "ideologische Abrüstung", die aber eigentlich eine "Versteppung" der Kulturlandschaften mit allen Folgen nach sich zieht.
(11) Ich zitiere hier nur als eine von sehr vielen denkbaren Varianten: Jürgen Lodemann: Der Mord. Das wahre Volksbuch von den Deutschen. Frankfurt am Main 1995.
(12) Werner M. Bauer hat dazu in Riverside einen wichtigen Beitrag geleistet. S. auch das Dokumentationsgespräch mit ihm in "Jura Soyfer", 4.Jg., Nr.2./1995.
(13) Vgl. dazu die Studien von Leslie Bodi, der der Spezialist für diesen Bereich ist.
(14) Grenzüberschreitende Wirksamkeit von Gattungsformen hat zum Beispiel Tamás Lichtmann in einer Reihe von Arbeiten analysiert (insbesondere anhand der Verwendung von Kabarett-Formen in Budapest und Wien, wobei auch gleiche Sprachelemente berücksichtigt wurden).
(15) Die Position von deutscher Literatur als Fiktion wird zum Beispiel von Krzysztof Lipinski (Kraków) vertreten.
(16) Vgl. das Dokumentationsgespräch mit Eduard Goldstücker in "Jura Soyfer", 3.Jg., Nr.1./1994.
(17) Wolfgang Höppner hat in seiner Arbeit "Das 'Ererbte, Erlebte und Erlernte' im Werk Wilhelm Scherers" (Köln, Weimar, Wien 1993) auf die Differenz zwischen literaturhistorischer Darstellung und Poetik, auf die Widersprüchlichkeit innerhalb der Poetik verwiesen. Die nationale Beschränkung gilt - wie das auch Schmidt-Dengler, Archipow u.a. hervorheben - nur für die Literaturgeschichtsschreibung.
(18) Eine Übersetzung von Arnot Kraus ist als Band 3 der Reihe "Ost-, Mittel- und südosteuropäische Literatur" in Vorbereitung.
(19) Zu Castle vgl.: Sebastian Meissl: Wiener Ostmark-Germanistik. In: Gernot Heiß u.a.: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Wien 1989, S.136f.
(20) Die zeitgenössische Literatur Österreichs. Hrsg. von Hilde Spiel. München 1976. (Ich verweise hier im Zusammenhang mit der Öffnung der Literaturgeschichtsschreibung durch die Einbeziehung von Massenkommunikation auf den Beitrag von Hilde Haider-Pregler.)
(21) Katalog-Lexikon zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. IG Autoren Autorensolidarität. Wien 1995. 4 Bde. (Bereits in der Vergangenheit wurde durch Handbücher auf den breiten Literaturprozeß in Österreich aufmerksam gemacht. Die IG Autoren hat in diesem Zusammenhang dazu beigetragen, eine breite Forschungsperspektive zu entwickeln.)
(22) Zur Bedeutung der Auseinandersetzung auch mit kleineren "Entitäten" vgl. das Dokumentationsgespräch mit Schmidt-Dengler in "Jura Soyfer", 5.Jg., Nr.2./1996.
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