Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Zimmer mit Aussicht? Thomas Bernhard im Gasthof Italien*

Paola Bozzi (Mailand)

dies war von mir das erste
lied, darin zitronen blühn,
daß ich nicht vor sehnsucht berste
sei von heut ab mein bemühn.
(1)

Wie äußert sich im Werke Thomas Bernhards sein Interesse an Italien? Auf den ersten Blick scheint es sich bei dem Österreich-Beschimpfer um ein nicht so bedeutendes Thema zu handeln. In der Nachkriegszeit fiel aber der Autor dem Südweh und der Italiensehnsucht anheim und unternahm Reisen in den Süden, nach Italien und in das damalige Jugoslawien. Bernhard ist natürlich ein Reisender aus der Ära des Baedekers, und deshalb auch kein Reisender mehr, sondern eher ein Tourist. Darüber hinaus gestattet seine letztlich begrenzte Behandlung italienischer Gegenstände sicherlich nicht, seinem Werk eine führende Rolle in der Tradition literarischer Italienbilder zuzuweisen: Vergeblich sucht man in der einschlägigen Forschungsliteratur zum Thema Italiendichtung den Namen Bernhards.(2) Trotzdem stellt Italien eine kleine, aber wichtige Präsenz im Werk des Schriftstellers dar.

I. Auf der Erde und in der Hölle

Italien taucht nämlich bereits in seiner ersten Gedichtsammlung Auf der Erde und in der Hölle (1957) auf.(3) Der umfangreichste Gedichtband(4) des Autors beschreibt die Etappen einer fiktiven Reise, die zur Entdeckung der urbanen Welt führen soll und eine familiäre, religiöse, geographische und spirituelle Dimension hat. Die Reiseerlebnisse, zu denen auch die Begegnung mit Italien zu zählen ist, führen nicht nur zur Erweiterung des begrenzten Erfahrungshorizonts des lyrischen Ich, sondern auch zur Welt- und Selbsterkenntnis. Der Band ist in fünf Teile gegliedert, die den Stationen der Reise entsprechen und dem dichterischen Bemühen um die Darstellung menschlichen Bewußtwerdens entspringen. Das lyrische Ich nimmt Abschied von der ländlichen Heimat (l. Sektion Hinter den Bäumen ist eine andere Welt) und bricht in die Städte auf (2. Sektion Die ausgebrannten Städte): Venedig und Chioggia(5) sind die letzten europäischen Städte, die das lyrische Ich in seiner fiktiven Fahrt besucht. Die entsprechenden "Italiengedichte" (GG 52 bzw. GG 53f.) befinden sich eben am Ende, d.h. an exponierter Stelle des zweiten Teils der Sammlung. Man kann hier zwei Aspekte ausmachen: das Auftreten italienischer Gestalten durch name dropping und Italien als Kulturlandschaft, als ersehntes Reiseziel, ja gleichsam als Mythos.

Wie bereits bei Hugo von Hofmannsthal, Joseph Gregor und Werner Riemerschmid(6) finden die Kunst Giorgiones und die historische Figur des Condottiere Colleoni auch in Auf der Erde und in der Hölle einen würdigen Platz. Immerhin setzt Bernhard auch in diesem Fall das eigene Werk zu anderen Persönlichkeiten in Beziehung: schon über ihre Namen zu ihrer Biographie bzw. zu ihren Werken. Im Zusammenhang mit einer traditionellen Metapher der Verwesung und des langsamen Todes(7) präsentiert das Gedicht Venedig (GG 52) durch Assoziation und als "Metapher in der Metapher" die Erinnerung (beim Essen!) an die "angefressenen Wolkenfetzen" des berühmtesten Bildes Giorgiones: La tempesta (1505-1508). Das lyrische Ich ist vom Himmel des Gemäldes noch geheimnisvoll bezaubert. Gegenstand dieser fiktionalisierten Rezeption scheint die Suggestivität einer malerischen Naturbeschreibung zu sein, die Natur und Mensch in und außer dem Bilde zum wunderbaren Einklang bringt. In der Namensnennung des Malers spricht sich vermutlich die nostalgische Bewunderung à la Burckhardt(8) für eine - in der Kultur der Renaissance (1860)(9) noch mögliche - harmonische Sicht der Welt und einen lyrischen Pantheismus aus.(10) Als Gespenst ferner Zeiten taucht auch der italienische Condottiere Colleoni auf, der exemplarisch die längst abgestorbene Pracht der Republik Venedig und die vergangene Grandezza Italiens symbolisiert. Denn der Ruhm der Lagunenstadt ("Maria della salute. Ca d'Oro,/ [ ...] Palazzo Ducale") wächst nun vielmehr aus der Faulheit und der Verwesung ("Aus den faulen Fischen/ aus den faulen Katzen, unter den zerquetschten Sommerfrüchten"). Der Tod ist wie ein Krebsgeschwür überall in der Lagune, und der Blick wendet sich von der pittoresken Vedute zur furchterregenden Landschaft, zum locus terribilis. So kann man im Gedicht Chioggia (GG 53f.) lesen:

Wir sahen die Fische nicht sterben und sahen soviel Qual,
wir hörten kein Stöhnen und Klagen aus dem Hospital,
wir fanden die Fenster offen gegen das Meer,
von den Inseln trug der Wind die Schatten der Toten her...

"Strahlend und fatal", Schüsselworte aus Rilkes Spätherbst in Venedig(11) charakterisieren hier auch Geschichte und Ambivalenz der Serenissima, aber auch die Italienreise des lyrischen Ich. Wenn die (österreichische) Heimat zur poetischen Chiffre des Verfalls, des Leidens und des Todes wird, in der der Dichter die idealisierte Welt des Vaters nicht mehr finden kann, stellt die untergangsgeweihte Stadt keine Alternative dar: Bernhard reiht sich nicht in die Schlange der Venedigbewunderer ein, die im Zeichen Nietzsches zwischen melancholischem Untergangsbewußtsein und dionysischem Schönheitskult schweben. In seiner ersten lyrischen Sammlung ist das Lokalkolorit rein äußerlich - Venedig bleibt dem 'festen Land' fern, als Grenzexistenz und nur morbide Atmosphäre, die aber im Gegensatz zu Hofmannsthal keine Traumvisionen mehr erlaubt.

Italien ist aber trotz allem eine wichtige Etappe einer Reise, die zum Entwicklungsmoment von transzendentem Ausmaß, zur Lebensfahrt wird. Der Titel deutet nämlich motivgeschichtlich auf Vergils Aeneis und Dantes Inferno hin, in Auf der Erde und in der Hölle handelt es sich um einen Unterweltsbesuch sui generis. So stellen die Verse des Auftaktgedichts Der Tag der Gesichter zum Schluß durch ihre chiasmatisch-diaphorische Disposition den Weg zu Gott als Weg durch die Hölle dar:

Warum muß ich die Hölle sehen?
Gibt es keinen
anderen Weg
zu Gott?
Eine Stimme: Es gibt keinen anderen Weg! Und dieser
Weg
führt über den Tag der Gesichter,
er führt durch die Hölle. (GG 11)

Der zyklische Weg der Sammlung führt das Ich von der ländlichen Heimat durch das mit ihren Motiven ausgemalte Leiden geläutert zu ihr zurück. Erst als auch in Italien Zerstörerisches und Verelendetes entdeckt wird, wird die Sehnsucht nach einer glücklicheren, unversehrten Zeit größer und damit auch die Konzentration auf die eigene Innenwelt, um sich allmählich einer transzendenten Dimension zu nähern (3. Sektion Die Nacht, die durch mein Herz stößt). Das lyrische Ich blickt dann auf die Reise zurück, evoziert den eigenen Tod, die nächsten Verwandten und die Heimat (4. Sektion Tod und Thymian) und kehrt anschließend in die vertraute ländliche Heimat zurück (5. Sektion Rückkehr in eine Liebe). Gegen jede Erwartung scheint hier das Goethesche Modell der Metamorphose und der Wiedergeburt(12) irgendwie noch wirksam zu sein: das nicht mehr so schöne Italien ist immerhin der rituelle Auftakt zu einer - dichterischen - Initiation.

II. Ave Vergil

1981 kam es dann zur Veröffentlichung eines einzigen langen Gedichts, das laut einer Notiz im Anhang 1959 und 1960 in England und auf Sizilien entstanden sein soll. In Ave Vergil werden über den jeweiligen Ortsnamen wieder die Etappen einer fiktiven, ziellosen Reise erwähnt, die, auf der Suche nach den durchaus literarischen - "Stimmen vom anderen Ufer" (GG 238), von Österreich (Zell) aus zuerst nach London und später nach Italien, von Südtirol bis nach Sizilien (Etsch, Verona, Rom, Kalabrien, Sapri, Reggio Calabria, Ätna, Taormina, Catania, Syrakus) geht, um schließlich wieder in Österreich zu enden (die siebte und letzte Sektion heißt nämlich Mit mir und mit meinem Land).

Der geminierende Titel Ave Vergil bezeichnet zugleich das Thema eines Diskurses sowie den Diskurs als solchen. Er ist thematisch und konstitutiv symbolisch, weil der lateinische Gruß eine doppeldeutige Formel ist: ave heißt sowohl "sei gegrüßt" (bei der Ankunft), als auch leb' wohl" (beim Abschied). Ave Vergil ist vor allem ein Zitat-Titel(13) mit kulturellem Effekt und Konnotationswert. Es wird deutlich, daß das lyrische Ich in seiner ‘Erzählung’ je nach Sprechsituation entweder beschreibt, was es durch die ,Brille' seines Führers sieht - auf dieser Ebene spielt sich die erste Sprechhandlung, ab - oder aber, was es aus seiner Perspektive erkennt bzw. nachträglich reflektiert - dies bezieht sich auf die zweite Art von Sprechhandlung. Auf wirksame, doch sparsamere Weise als ein Motto soll all das den Text durch Echos ergänzen, indirekte Bürgschaft eines anderen Textes und das Prestige einer kulturellen Abstammung liefern. So heißt es nämlich im Gedicht:

ehrwürdiger Vater,
nimm mein Gestammel an,
sag mir ein Fürwort (GG 241)

Mir fällt das Wetterleuchten aller Sterne ein,
das mir die Sprache fremder Völker gab,
die Buchstaben Vergils, die Reden meiner Bauern...
(GG 242)

Vergil ist nicht nur ein großer Dichter der römischen Antike, sondern auch jener klassische Heimatdichter, der die laudes Italiae singt(14): Die Aeneis gilt als Epos des Mittelmeers und Nationalgedicht Italiens. Die Begegnung mit Vergil steht nun bei Bernhard im Zeichen der Konzeption eines neuen dichterischen Programms. Der alte Meister vermag nicht nur in diesem Fall wechselvolle und vielseitige Anregungen zu spenden. Er hat einen tiefen Einfluß auf die europäische Dichtung und Kultur ausgeübt - nicht nur von der römischen Kaiserzeit bis zum Barock, sondern auch in der Moderne, von Eliot und Valéry bis zu den italienischen Hermetikern. Vergil steht der modernen Dichtung auch deshalb nahe, weil sie glaubt, in ihm ein antikes Vorbild für das Stilideal zu sehen, das seit Rimbaud, vor allem seit Mallarmé, ihrem ästhetischen Formbegriff im wesentlichen zugrunde liegt. Bei den Symbolisten heißt es "Wort-" oder "Sprachmagie" und gehört, wie H. Friedrich genauer erklärt, konstitutionell zum Wesen der poésie pure (15): einer dem modernen Ideal sich nähernden, hochentwickelten Form des dunklen Zauberstils. Als Dichter unserer Zeit hat auch Bernhard mit dem Verbrauch, dem 'Altwerden' der Sprache zu kämpfen. "Le vieillissement de la langue", nennt es Ungaretti in seinem französischen Vorwort(16), eine Vorstellung, die aber den modernen Dichter dazu zwingt, die Strahlkraft der Sprache, ihre magische Wirkung durch neue kunstvolle und zugleich schwierige Wortgewebe, Wortmischungen, Sinnbezüge wie überhaupt durch vermehrtes Dunkel zu regenerieren. Es läßt sich nicht verkennen, daß die Vergil-Nachfolge Ave Vergil in hohem Maße den Charakter des Experimentellen und Eklektischen trägt. Die Gedichte bilden einen Versuch, den magischen Glanz, die lueur étrange Vergils mit modernen Mitteln neu zu beleben. Dadurch gewinnen sie den Wert von Beispielen, in denen eine Art Zauberdichtung ihre ältere und neuere Tradition synoptisch vereint. Der Trunk des Vergessens, das Auslöschen der sinnlichen Welt und das magische Spiel der Reminiszenzen an die Literatur vermitteln den Eindruck eines letzten romantischen' Abenteuers der humanistischen Tradition.

Der traditionelle Aspekt Vergils, sein Ruf als "Magier" bestimmt im wesentlichen die Art der Wirkung, die er auf die moderne Lyrik ausübte.

Die erste und älteste Funktion, die Vergil innehat, ist allerdings die eines Führers in die Unterwelt, in das Reich der Toten. Als großer Meister und Heiliger unter den Heiden - weil er nach Auffassung des Mittelalters in der vierten Ekloge der Bucolica die Geburt Christi vorausgesagt hatte - hatte er schon Dante in seiner Divina Commedia durch die Hölle und das Fegefeuer geführt. Der alte Dichter steht für die Konstellation von Führer und Geführtem: Das ist die Rolle, auf die er seitdem als dichterisches Vorbild im wesentlichen festgelegt ist. Sie geht zurück auf diejenigen Teile seines Werkes, in denen sich Vergil als Kenner der Wege, Schicksale und Verhältnisse im Jenseits erweist - vornehmlich auf das sechste Buch der Aeneis, in dem Vergil den Abstieg seines Helden in den Erebus schildert. Das hat traditionell zu der Überzeugung geführt, daß allein dem Dichter die Aufgabe und die Fähigkeit zukomme, zwischen den Lebenden und Hingeschiedenen zu vermitteln, den 'Übergang' ins Totenreich zu finden und authentisch von Dasein, Wesen und Schicksal der Bewohner des Jenseits zu künden. Der durch seine Aeneis und seine Führerrolle in Dantes Divina Commedia als unterweltskundig ausgewiesene Vergil - beide Autoren werden hier übrigens in GG 271 als "Eroberer der Welt" bezeichnet - wird von Bernhard im Titel seines Gedichts als begleitendes Zitat durch die Hölle der Erde' begrüßt, wo die büßenden und sich läuternden Seelen wie bei den antiken und mittelalterlichen Vorbildern dem Wanderer ihre Schicksale erzählen.

Die Auffassung vom Wesen und Zweck des Dichtertums, die im Hinweis auf diese Vorbilder liegt, zeugt von dem Bemühen, auf das ursprüngliche, archaisch-legendäre Dichterbildnis zurückzukommen, das sich in der Gestalt des sagenhaften Urdichters der Griechen, in Orpheus(17), verkörpert. Eine moderne, besser gesagt, aktuelle Note gewinnt diese Auffassung von der ursprünglichen Bestimmung des Dichters indessen dadurch, daß Bernhard dessen Sinnbild in die Gegenwart versetzt und hier in einer Art Kontamination durch die Odysseussage als "Heimkehrer" erscheinen läßt (die siebte Sektion heißt Mit mir und mit meinem Land). So kann sich der Autor innerhalb des eng umschriebenen Bezirks der Literatur durch seine metaphorische Rede zum Heimkehrer erklären, damit er das 'Andere' seiner Herkunft, das er schmerzlich als sein 'Eigenes' empfindet, durch sein Rollenspiel zum ‘ganz Andern’ erklären darf: in der Hoffnung, daß, wer sich künstlich, durch Kunst, von sich selbst entfremden kann, kein 'Fremder' mehr zu sein braucht.

Der ‘Dialog’ mit den Schatten bleibt allerdings einseitig (GG 272:"Wenn du fragst, sind alle tot, gestorben"; GG 275: "nicht eines einzigen Urteils Spruch/ erfand mich in deinem Schatten...") und verrät die ironische Bedeutung des Titels. Der Dichter bestimmt sich mit ihm nicht "als einer, der eine Aufgabe hat und angelegt ist auf große Gesänge". Der Gedichtband wird nicht, wie Peter von Matt meint, erkennbar "als entsprungen aus dem Willen, den antiken Gestus des epischen Gesangs wiederzugewinnen mitten in der brandschwarzen Moderne".(18) Denn der Titel ist ja doppeldeutig. Das alles läuft auf die These hinaus, daß unsere Zeit jenen "Übergang", den die alten Dichter kannten und vorzeichneten, nicht nur verabschiedet, sondern verschüttet hat. Trotzdem trägt auch die moderne Bernhardsche Umdichtung dazu bei, das Ideal des Dichters in seiner vergilisch-danteschen Rolle zu bekräftigen. Das Schicksal des Schriftstellers Thomas Bernhard scheint hier im wesentlichen darin zu bestehen, ein verhinderter ‘alter’ Dichter zu sein, dem Ideal des Dichters als des ‘Seelenbewegers’ treu zu bleiben, ohne es verwirklichen zu können.

Das Werk Vergils scheint auch bei Bernhard vor allem geeignet, jene Grundlage der menschlichen Existenz zu beantworten, die notwendig aus dem Bewußtsein irdischer Nichtigkeit und Vergänglichkeit hervorgeht, die Frage nämlich, welchen Sinn es hat, unter diesen Umständen dennoch Dinge von bleibendem Wert und Dauer schaffen zu wollen. Man kann sich kaum vorstellen, daß die Deutung Vergils in existentieller und ästhetischer Hinsicht, wie sie hier vollzogen und angewandt wurde, überboten oder auch nur fortgesetzt werden könnte.(19) Dem Leitmotiv der "Einsamkeit", des Verlassen- und Verlorenseins begegnet man an beliebiger Stelle des "Gedichts" in immer neuen Varianten.

Vergil hatte das idealisch-ferne Arkadien als Schauplatz gewählt, in dem Ruhe und feierabendlicher Frieden herrschten. Gerade indem das Naturgedicht (vor allem in der vierten Ekloge) die idyllische Utopie des irdischen Friedens entwarf und italienisches Bauerntum als die wahrhafte Quelle römischer Kraft besang, stellte es bereits eine ernste Warnung an die eigene Zeit dar. Die Vorstellung, daß die leidvolle Not der Gegenwart nicht mehr zu lösen sei, ist bei Bernhard aufs höchste gesteigert: Seine drastische, pathetisch-groteske Sprache vermag das Glück des Goldenen Zeitalters nicht mehr heraufzubeschwören. Der Kontrast von Gestern und Heute wird akzentuiert: Arkadien ist nicht mehr, Bucolica gehören der Vergangenheit an, die Wiege des klassischen Altertums ist zum Literaturarchiv geworden.(20) In der ländlichen Umgebung eines wüsten Landes(21) kränkelt der Sprecher in der Kälte: Er schließt mit der Welt ab und schickt sich an, sein eigenes sterbendes Land ohne Hoffnung auf eine Lösung zurückzulassen.

Wenn Platon im Ion formuliert hatte, daß der Dichter ‘außer sich’, ‘inspiriert’ sein mußte, um schreiben zu können, so hatte er sich das schwerlich in jenem konkreten Sinn vorgestellt, in dem das "Ich" sich hier seiner vorgegebenen Vor-Bilder Vergil und Dante ent-äußem will. Wenn das lyrische Ich Antworten auf seine Fragen in den Worten der "Eroberer der Welt:/ Dante, Vergil" (GG 271) sucht, bekommt er von ihnen nur Schweigen bzw. Worte, die den Tod nicht verschweigen können, die vor seinem großen Rätsel stumm bleiben. Das Selbstverständnis, das in der Lyrik gewonnen wird, steht im Zeichen des Verlustes, denn auch die großen "Erfinder" des lyrischen Sprechers sind gestorben (GG 251). Das Prinzip der Relativierung der Positionen, der Selbstkritik des Wortes, der Unterminierung jeglichen dogmatisch-offiziellen lyrischen Monologismus, der Profanierung des Heiligen und Hehren mündet hier schließlich in die subversive Infragestellung von Autorität.

III. Der Italiener

Im Bernhardschen Werk taucht Italien wieder in einem Titel auf, der allem Anschein nach auch thematisch sein sollte: Im Fragment Der Italiener (1963)(22) ist aber von einem Lusthaus auf dem Landgut Wolfsegg, in dem Theatervorstellungen stattgefunden hatten, die Rede, von dem Selbstmord des Vaters des Ich-Erzählers, der sich "auf die bekannte grauenhafte Weise in seinem Zimmer erschossen" (I 84) habe, von Politik und politischen Verbrechen. Karl Liebknecht, Klara Zetkin und Rosa Luxemburg werden erwähnt. Was hat nun hier ein Italiener zu suchen? Bernhard läßt hier den erzählenden Sohn auf einen italienischen Geschäftsmann zugehen, dem dann diesmal keine Erinnerungen an Vergil, Dante oder das Reich der Toten, sondern - durch eine mise en abyme Gedenken der Ereignisse aus dem Dritten Reich angetragen werden: Im Fragment geht es nun viel konkreter um ein älteres Massengrab, das anläßlich eines Begräbnisses zum Gesprachsthema wird. Selbst die faktische Wirklichkeit des Belegbaren, d.h. der Name jenes Dorfes mit Schloß in der Nähe von Ohlsdorf und nicht weit von Salzburg, wo Bernhard gelebt hat, scheint hier von dieser Geschichte zu erzählen. Wie eine Erinnerung an Gewaltsszenen klingt sie aus dem archaischen Namen Wolfsegg durch die Assoziation mit den Wölfen, mit "diese[n] Bestien, die einst hier gehaust haben sollen".(23) Der Name Wolfsegg erweckt aber auch eine andere Assoziation, die mit dem Führerhauptquartier "Wolfsschanze" bei Rastenburg/ Ostpreußen verbunden ist. An diesem Ort entging Hitler einem Attentat am 20. Juli 1944 mit leichten körperlichen Verletzungen. Das Landgut ist hier, wie meistens bei Bernhard - die topographische Verräumlichung und -gegenständlichung der österreichischen Geschichte: jenes Wolfs-Eck von Faschismus und vor allem Krieg, das zerstörerisch ins Wesen (aber auch ins Werk, denn die Erzählung ist ja Fragment geblieben) hineinragt und ihn beschädigt.

Der Sohn, der Erzähler, der sich mit politischen Studien befaßt, spricht nur mit einigen der angereisten Trauergäste darüber. Der im Titel genannte italienische Geschäftsmann ist ihm "als der Interessanteste, auch als der weitaus Intelligenteste der ganzen Gesellschaft" (I 82) begegnet und hat genauso eine Familie, die "bei ihm zu Hause in Florenz alljährlich Theater" spielte (I 85) und spricht noch dazu irritierend gut deutsch (ebd.). Der Sohn seinerseits bedauert, "kein Wort Italienisch zu können" (I 86): "Das Italienische" in ihm und der Familie hätte aber ihn und die Familie "für die Schauspielerei inspiriert" (I 85). Österreicher und Italiener haben also irgendwie einiges gemeinsam. Er erzählt dem Italiener, über zwanzig polnische Soldaten, die von Deutschen kurz vor Ende des Zweiten Weltkkrieges erschossen wurden, seien in diesem Massengrab verscharrt. Weiterhin berichtet der Sohn dem italienischen Geschäftsmann, daß sein Vater ihm von diesen Ereignissen erzählt und er selbst als Kind die Schreie der Polen bei der Erschießung gehört habe. In diesem Gespräch thematisiert Bernhard den Grund, weshalb nicht so leicht über die Vergangenheit gesprochen wird: einerseits aus Rücksichtnahme gegenüber anderen und andererseits wegen eigener Blockierung.

Der Italiener macht auf den Erzähler den Eindruck, sich vor dem Anblick des Toten zu fürchten. So hat der Sohn einen guten Grund, Rücksicht zu nehmen und mit seinem Bericht über das Massengrab abzuwarten. Das Grab aber betrifft in einer weiteren Hinsicht auch den Italiener, denn sein Land hat genauso wie Österreich eine faschistische Vergangenheit. In Bernhards Fragment ist diesmal dieser Teil der (auch) italienischen Geschichte gegenwärtig. Diese ist die größte Gemeinsamkeit zwischen dem Österreicher und dem Italiener. Und die Tatsache, daß der Sohn zuvor bereits einem Österreicher und einem Ungar diese Ereignisse um das Massengrab antrug, ist sicher kein Zufall. Bewußt oder unbewußt gemahnt der politisch interessierte Erzähler mit einem solchen Verhalten an die sogenannten Römischen Protokolle, auf die sich Dollfuß für Österreich, Gömbös von Jáfka für Ungarn und Mussolini für Italien 1934 einigten. Auf diese Weise kristallisiert sich ein Konflikt zwischen Rücksicht und Angriff heraus.

Aus reiner Höflichkeit erzählt nämlich der Sohn dem italienischen Gesprächspartner von seinem Plan, demnächst einen Gesteinsforscher auf Sizilien zu begleiten. Bernhard spielt hier übrigens maliziös auf den unentwegt nach Halbedelsteinchen sich bückenden Goethe in Begleitung des ununterbrochen zeichnenden und malenden Kniep an. Durch den versteckten Hinweis auf den mit einem nicht allzu sensiblen Auge begabten Adepten Winkelmanns während seiner Wallfahrt im Ursprungsland der Kunst - wo auch die Natur "herrlich leuchtet" und sich "ein frisches Leben" hoffen läßt(24) - appelliert der Schriftsteller an den Leser, damit er sich vom parodierten Vorbild distanziert und fordert ihn zur Änderung des traditionsreichen, aber anachronistischen Italienbildes auf.

In der Unterhaltung mit dem italienischen Geschäftsmann schiebt der Sohn aber auch die Erwähnung des Massengrabes immer wieder auf, obwohl er selbst berichtet, gerade schon zweimal davon erzählt zu haben. Die belastende Geschichte wird offenkundig, und deutlich manifestiert sich die damit zusammenhängende Blockierung, die sie nicht zu Wort kommen läßt: "ich beherrschte mich im letzten Augenblick" (I 89), dann wieder "das noch rasch Fürchterlichere zurückdrängen" (ebd.). Endlich wird sie doch ausgesprochen: "Hier gibt es ein Massengrab, und zwar in der Lichtung, aus der wir uns gerade entfernt haben. In der Lichtung sind zwei Dutzend Polen begraben. Verscharrt." (190.) Die Blockierung scheint überwunden zu sein, und ein Gefühl von Befreiung wird suggeriert: Der Erzähler betont dem Italiener gegenüber, das Schreien der Polen bei der Erschießung habe ihn sein Leben lang verfolgt, und er habe damit "zwei Jahrzehnte" zu kämpfen gehabt, "bis zum heutigen Tag" (I 90f.). Der Italiener, der nun über die Umstände im Bild ist, kann dem Tod ins Gesicht sehen: Die beiden gehen schließlich zu dem aufgebahrten Gutsbesitzer.

Die Begegnung des Sohnes mit dem Italiener ändert die Einstellung der beiden zum gewaltsamen Tod in der Geschichte bzw. in der Gegenwart: Der eine - der Österreicher - kann reden; der andere - der Italiener - kann hinschauen. Der Tod eines Dritten ist außerdem zum Anlaß geworden, daß einige Trauergäste von jenen historischen Todesfällen hören: eine schuldbeladene Geschichte wird nicht vergessen, und der Erzähler kann sich im Gespräch darüber teils von dieser Last befreien und teils sie als mahnendes Gedächtnis bewahren. Dieses Thema Mitteilen von schuldbeladener Geschichte als Befreiung davon und Erinnerung daran - führt Bernhards spätere Prosa Auslöschung (1986) im großen Format aus.

IV Auslöschung

Die umfangreichste Prosa des Autors knüpft an das Fragment an.(25) Wie im Italiener, so findet auch in Auslöschung ein Begräbnis auf dem Landgut Wolfsegg statt: nun aber mit drei Toten. Auch hier wurde einmal Theater gespielt: nicht in einem Lusthaus, sondern in einer zauberhaften, vor zweihundert Jahren wirklich für Kinder gebauten Kindervilla, in der sich früher Hunderte von Theaterkostümen für Kinder befanden. Und es geht erneut um eine belastende Vergangenheit. Denn ausgerechnet in der Kindervilla fanden in der Nachkriegszeit alte Nazigrößen ein Versteck, das sie der Verfolgung und der Rechenschaft entzog. Bernhard hatte übrigens die politische Aktualität der Entstehungszeit des Romans (1986) ins Buch aufgenommen, allerdings in künstlerischer Umsetzung sodaß weder Präsident Waldheim noch Jörg Haider Anlaß zu einer juristischen Klage hatten.

Nicht einmal drei Tage umfaßt die reale Erzählzeit. Der erste halbe Tag (und der erste Teil des Buches Das Telegramm) spielt in Rom, nachdem Murau die Todesnachricht erhalten hat. Die beiden anderen Tage, mit Muraus Ankunft, den Begräbnisvorbereitungen auf Wolfsegg und dem Begräbnis selber, bilden den zweiten Teil. Die Teile sind raffiniert ineinanderkomponiert, vom Rom-Teil aus zurück nach Rom erzählt. Anläßlich der Bestattung seiner Eltern und seines älteren Bruders - Autounfall im Jaguar - erinnert sich der aus Rom angereiste Murau: Seine Eltern waren Nationalsozialisten - das ist der Ausgangspunkt von schmerzlichen und zornerfüllten, melancholischen und verzweifelten Ausbrüchen. Wieder in Rom zurück, schreibt Murau dann an seiner großangelegten rücksichtslosen Abrechnung namens Auslöschung, die uns eben als Text von Bernhard vorliegt.

Bernhards Einstellung zu Italien scheint sich gegenüber dem Italiener geändert zu haben. Im Fragment ging der Ich-Erzähler auf den Italiener zu und zwar in Österreich. Im Roman dagegen lebt und arbeitet der erzählende Murau selbst in Italien. Dort stand die Verbindung mit Italien im Rahmen einer gemeinsamen faschistischen Vergangenheit. Hier ist Murau in Rom, d.h. in der Hauptstadt jenes Landes, das traditionell als Gegenkultur zu den deutschsprachigen Gefilden gilt. Diese Situation ist am besten wieder ambivalent zu verstehen. Daß es Murau gerade nach Italien zog, zeigt zwar, daß er sich trotz aller Bemühungen um einen radikalen Schnitt selbst mindestens in dieser einen Weise traditionsgemäß verhält. Aber der utopische Akzent, der in seinem Aufenthaltsort liegt, ist auch nicht zu unterschätzen.

Fünf Bibliotheken - von kunstfreudigen Vorfahren errichtet, durch die gegenwärtigen Besitzer abgeriegelt - beherbergt das Unglücksschloß Wolfsegg in Oberösterreich, aus dem der Geisteskopf Franz-Josef Murau nach Rom geflohen ist. Das Raffinierte, ja eigentlich Geniale des Romans, der Metapher Wolfsegg liegt nun eben darin, daß sie, paradox genug, auch das enthält, was dem Ort fehlt: Das Geistige. Bereits in Ave Vergil wurde die mediterrane Welt gegen die "blöde Provinz" (AV 244) gesetzt: In Auslöschung findet Murau in Rom, der "Stadt für den Kopf" (A 207), "einen neuen Anhaltspunkt, einen neuen Anfang" (AV 202), mit einem Wort, "die Geisteswende" (A 203). Im Spätwerk gerinnen die abstrakten, quasi-mystischen Transzendenzvisionen der Lyrik zum konkreten Jenseits Italien, das "nicht nur entsetzlich ist" (A 206), ja sogar Errettung verspricht.

Die am liebevollsten geschilderten Geh-, Denk- und Beobachtungspartner der Protagonisten sind jedenfalls ‘römische Gestalten’.(26) Sie sind, wie der Vatikandiplomat und Kleriker Spadolini, elegant gekleidet, kultiviert, üben schon durch ihren Akzent einen regenerierenden, erfrischenden Einfluß auf den Erzähler aus (A 8f.) und können stets mit Anregungen, Neuigkeiten, interessantem Gesprächs- und Denkstoff aufwarten. Die Gespräche mit ihnen sind ein großes Vergnügen, denn sie erweisen sich, wie Gambetti, als gute Zuhörer (was sonst?!) und haben ein "geschultes Ohr für den Wahrheitsgehalt" (A 10) einer Aussage. Bernhards Italiener sind durchweg gebildete Menschen mit aufklärerischem und höchstem Horizont: Wer in Italien häufig lebt, wie der Erzähler in Auslöschung, genießt den Überblick des Außenstehenden und sieht aufgrund dieses Erkenntnisvorsprungs den katastrophalen Zustand des Inlands so, wie er wirklich ist.

Rom erscheint als Gegen-Welt zur verhaßten deutschsprachigen Tradition, des österreichischen Staates und der Familie. Dort kann Murau atmen, aufatmen (was angesichts der römischen Realität nur als Metapher nachvollziehbar ist), ist Österreich, der Familie und der familiären Qual- und Quälkonstellation entkommen: aber nur scheinbar. Denn die Handlung des Romans beschreibt nur am Rande und lediglich kontrastiv das römische Leben des naturgemäß reichen, weil von immensen Familienvermögen zehrenden Murau. Während dieser mit seinem Schüler Gambetti vor einer malerischen Kulisse spazierengeht, auf dem Pincio, attackiert er in einer Polemik eine ganze Reihe deutschsprachiger Autoren. Anschließend kommentiert Murau sein kritisches Lehrprogramm mit den Worten, daß er eine "Art literarischer Realitätenvermittler" sei: "ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen" (A 608, 615). Murau vermittelt seinem italienischen Schüler in Rom Werke der deutschsprachigen literarischen Tradition (Jean Paul, Kafka, Bernhard, Musil, Broch), aber auch seine - diesmal offen thematisierte - Goethe- Ablehnung.(27) Trotz vergleichsweise intensiver und einfühlsamer Passagen, die sich mit Rom und einigen wenigen römischen Freunden beschäftigen, geht doch der Blick Muraus zwanghaft zurück zur Familie, zu seiner Jugend, zu den Erfahrungen während des Nationalsozialismus. Die aufgeführten Kennzeichen römischer Topographie lösen das Land in Landschaft auf und führen sie zurück auf das Land, das gemeint ist: Im Zentrum stehen die Vergangenheit auf Wolfsegg, die der Familie und die trostlose, aus der Vergangenheit zwangsläufig sich ergebende Gegenwart. In Italien kommt Murau von seiner Heimat, von seinen privaten Problemen, Selbstzweifeln und Einsamkeiten nicht los - sie werden hier nur akuter.

Im ersten der beiden Teile beschreibt Murau, wie er in Rom das Telegramm mit der Todesnachricht erhält und daraufhin sich und seinen Onkel in fortwährenden Antithesen mit den Angehörigen vergleicht, an die er mit Hilfe von Photographien zurückdenkt. Anschließend erinnert er sich, wie er mit seinem Schüler Gambetti in Rom abends auf der Piazza del Popolo saß und die Gebäude und Parkanlagen von Wolfsegg beschrieb, dann, wie er ihm gegenüber auf das eigene Vorhaben zu sprechen kam, im Sinne der Antiautobiographie des Onkels die Auslöschung zu verfassen (A 199). Das Exil in der italienischen Hauptstadt bleibt der familiären Konstellation verhaftet: Aus der Vaterstadt ist Murau nur in die Stadt des Liebhabers der Mutter gezogen. Der 'Kirchenfürst' Spadolini, den der Erzähler bei allem Abscheu vor jedwedem Katholischen wegen seiner 'Schauspielkunst' bewundert, war Jahrzehnte lang der Liebhaber seiner Mutter. Und der doppelte Blick, die Attitüde des Mimen, die Distanz zu den Dingen und zu sich selbst - all das ist auch die Intention und die Perspektive Muraus. Aber im Gegensatz zu Spadolini ist für ihn Wolfsegg kein Platz unter vielen, sondern der lebensentscheidende Ort; die Mutter kein Mensch unter anderen, sondern Garant von Unterdrückung und unentrinnbarer Prägung. Aus dem Gefängnis der Vergangenheit gibt es für Bernhards Protagonisten keinen endgültigen Ausweg: im Werk des Autors präsentiert sich ein Italien, dem seine Funktion als Fluchtort deutscher Sehnsucht abhanden gekommen ist.

Bei ihrer Rückkehr nach Österreich prallen zwei Universen aufeinander, die Biographie fällt auf tödliche Weise mit der Geographie in eins. Die Figur der Heimkehr, einer der großen Topoi der Fiktion, mißt sozusagen die Fallhöhe zwischen der "Vogelperspektive" des Exilierten und dem heimischen Todesboden aus; die Rückkehr wird von den Heimgekehrten als "Beschmutzungseffekt" (A 649) erlebt. Ob als Gedicht (Auf der Erde und in der Hölle bzw. Ave Vergil) oder als episch ausgefaltete Erzählung (Auslöschung) umgesetzt, bewirkt der Topos der Heimkehr als konstante Hintergrundfolie und Vergleichsmaßstab eine Art irdische Entrückung der Figuren, deren Rede über die inländischen Zustände damit wie ein Blick von außen wirkt: ein sicheres und literarisch bewahrtes Mittel, um diesen Zuständen jede Daseinsberechtigung abzusprechen. Der jüngere männliche Erbe, Franz-Josef, das Ich des Textes, verläßt Wolfsegg, um zu leben. Im Rom entwickelt er sich in der Tat zum alles durchschauenden und vieles im Wort auslöschenden Geistesmenschen. Aber - und das überrascht keinen Bernhard-Leser mehr -: Die Flucht vor der Geschichte der Familie und des Staates ist vergeblich, eine definitive Trennung wird nicht erreicht, wird in Wahrheit gar nicht angestrebt. Murau existiert nur durch und wegen und gegen Wolfsegg.

Nicht mehr die Verherrlichung der Vergangenheit, der antiken bzw. mittelalterlichen Welt oder der Kunst der Renaissance bilden die Hauptmotive Bernhards. Er wendet sich aber auch nicht der Gegenwart mit ihren Problemen zu. Die soziale Realität, das Land und die Leute spielen bei ihm immer noch keine große Rolle. Das Bernhardsche Italienbild ist ein ziemlich irreales(28), egal ob das Land im positiven (als Paradies einer vergangenen Pracht bzw. malerische Kulisse) oder im negativen Sinne (als Fegefeuer bzw. Hölle) geschildert wird -der Autor steht somit in einer langen Tradition der besonderen Semantisierung des Raumes Italien in der deutschsprachigen Literatur, auch wenn die Wahrnehmung nicht mehr durch die Brille Goethes erfolgt. Wie in der Erzählung Das dreißigste Jahr (1961) von Ingeborg Bachmann, deren Leben und Schreiben die Figur der Dichterfreundin Maria in Auslöschung angeregt haben soll(29), sind Rom und Italien nicht mehr Orte der Sehnsucht, sondern einer Zwischenzeit. Die Ich-Suche kommt an den Orten der - inzwischen musealen - Erinnerungen nicht an ihr Ziel. Italien ist allenfalls Metapher des 'anderen' Landes, in dem die Auseinandersetzung mit dem alptraumartigen Herkunftskomplex zum Programm erhoben werden kann: Es ist auch bei Bernhard der Gasthof, in dem ein Zimmer mit Aussicht immer frei steht, wo der Dichter sein Werk jedesmal wie gewünscht zaubern kann.

Zur Autorin


Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 6.Jg., Nr.3/1997. S. 10-16.

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Anmerkungen:

(*) Für Anregungen und wichtige Hinweise danke ich Frau Prof. Dr. M.L Roli und Herrn D. Scholler.

(1) H.C. Artmann: Aus meiner Botanisiertrommel. Salzburg 1975, S. 36.

(2) Die einschlägige Forschungsliteratur der letzten Jahre zum Thema zitiert und behandelt nämlich viele zeitgenössische Autoren, doch nicht Thomas Bernhard; vgl. dazu M. Beller: Le Metamorfosi di Mignon. L'Immigrazione poetica dei tedeschi in Italia da Goethe ad oggi. Napoli/ Roma 1987; G.E. Grimm/ U. Breymayer/W. Erhart: "Ein Gefühl von freierem Leben". Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990, insbes. S. 241-301; I.M. Battafarano: L'Italla ir-reale. Descritta dai tedeschi negli ultimi cinque secoli e raccontata agli italiani dal loro punto di vista. Taranto 1995.

(3) Zitiert wird im Text aus folgenden Werken Thomas Bernhards: Gesammelte Gedichte, hg. v. V. Bohn. Frankfurt a.M. 1991 (=GG); Der Italiener. München 1978 (=I); Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt a.M. 1986 (=A).

(4) Zum lyrischen Werk Thomas Bernhards vgl. P. Bozzi: Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/Wien 1997 (Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1996).

(5) Auch in P. Morché (Hg.): Venedig im Gedicht. Frankfurt a.M. 1986, S. 70 (Venedig) bzw. S. 134 (Chioggia) und in G.E. Grimm (Hg.): Italien-Dichtung II. Gedichte. Stuttgart 1988, S. 416 bzw. S. 416-418.

(6) Im Essay Sommerreise (1903) gruppiert H. v. Hofmannsthal Figuren eines Giorgione-Bildes, des Ländlichen Konzertes, nach seinen künstlerischen Absichten um: vgl. dazu W. Vordtriede: Das schöpferische Auge: Zu Hofmannsthal Beschreibung eines Bildes von Giorgione. In: Monatshefte für deutschen Unterricht deutsche Sprache und Literatur 48 (1956), S. 161-168; J. Gregor: Giorgione. In: ders.: Gedichte. Wien/ Prag/Leipzig 1921; W. Riemerschmid: Das Denkmal des Bartolomeo Colleoni. In: ders.: Der Bote im Zwielicht. München 1942.

(7) Vgl. dazu P. Requadt: Venedig: Schein und Wirklichkeit. In: ders.: Die Bildersprache der deutschen Italiendichtung. Bern/ München 1962, S. 187-251; K. Ipser: Venedig und die Deutschen. Deutsche, Österreicher und Schweizer am Rialto. München 1976; A. Koeniguer: Le Thème de Venise dans la littérature allemande. Étude comparative d'une mode littéraire. Paris, Univ. Diss., 1976; D. und A.E. Maurer (Hgg.): Venedig. Frankfurt a.M. 1983; G. Cacciapaglia (Hg.): Scrittori di lingua tedesca e Venezia. Deutschsprachige Schriftsteller und Venedig. Venezia 1985; C. Schenk: Venedig im Spiegel der Décadence. Literatur des Fin de siècle (= Europäische Hochschulschriften Reihe 18, Bd. 45) Frankfurt a.M./ Bern/ New York 1987; J. Reichel   (Hg.): Der Tod von Venedig. Ein Lesebuch zur literarischen Geschichte einer Stadt. Berlin 1991.

(8) Vgl. ders.: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens. Hg. v. H. Wölfflin. II (=Bd. 4), S. 331ff. In: Jakob-Burckhardt-Gesamtausgabe. Stuttgart/ Berlin/ Leipzig 1929-1934.

(9) J. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Hg. v. W. Kaegi. Bd. 5 (1930) In: ebd.

(10) 1898, im Todesjahr C. F. Meyers, ging auch der junge Rilke, Burckhardts Cicerone in der Hand, durch die Galerien von Florenz, um die Übermacht der Renaissancekunst in sich zu bewältigen. Zum Thema der Bewältigung der Renaissance" vgl. P. Requadt, a.a.O., S. 131-186.

(11) R.M. Rilke. In: ders.: Sämtliche Werke. Werkausgabe. Bd. 2. Hg, v. Rilke-Archiv. Frankfurt a.M. 1975, S. 609f.

(12) Vgl. dazu K. Isper: Aufbruch, um "wiedergeboren zurückzukommen". In: ders.: Mit Goethe in Italien 1786-1986. Berg 1986, S. 11-14.

(13) G. Genette: Paratexte. Frankfurt a.M. 1989, S. 91.

(14) Dazu gehört vor allem der Passus des zweiten Buches der Georgica (V. 136-176), der mit der Feststellung anhebt, daß von den Wandlungen Mediens bis hinab zum Ganges nichts mit dem Lobe Italiens, "laudibus Italiae", wetteifern könne, und der dann die einzelnen Stämme und Landschaften preist.

(15) Vgl. H. Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Erw. Neuausgabe. Reinbek b.H. 1985, S. 135f.; zum Vorbild magischen Dichtens vgl. auch F. Flora: L‘orfismo della parola. Bologna 1953.

(16) Vgl. Quelques refléxions de l'auteur. Vorw. zur französischen Übersetzung des Gesamtwerks Ungarettis (von J. Lescure) Les Cinq livres (Paris 1953), S. 45.

(17) Im vierten Buch der Georgica hatte Vergil die Orpheussage nacherzählt.

(18) Vgl. P. v. Matt: Unbekannter Dichter. Thomas Bernhards poetische Paradiese. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.8.1991.

(19) Vgl. das Vorwort, das Quasimodo zur Begründung seiner Übersetzung der Georgica schrieb: P. Virgilio Marone: Il fiore delle georgiche. Milano 1944, S. 11.

(20) Vgl. GG 258: "du kehrst ein in die Bücher,/ mich hält die Erde zurück/ mit ihren Gedanken" bzw. GG 271: "Wer in dieser Stadt stürbe nicht/ an den Rändern großer Sätze,/außerhalb großer Bücher/ hinunter, wie die Schweine/ hinunter in die Vergessenheit..?"

(21) Bernhard hat das Motto seines Verstextes T.S. Eliots Gedicht The Waste Land (1922) entnommen; zur Bedeutung des Mottos als Projektionsfolie vgl. P. Bozzi, a.a.O., S. 179-181.

(22) Th. Bernhard: Der Italiener. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1965. Frankfurt a.M 1964, S. 83-93. Auch Salzburg 1971, München 1973 und 1978; auch in: Wort und Zeit 1965, H. 6, S. 5-10 und in: Aufforderung zum Mißtrauen. Hg. v. O. Breicha und G. Fritsch. Salzburg 1967, S. 506-512 bzw. in: Th. Bernhard: An der Baumgrenze. Erzählungen. Stuttgart 1986, S. 30-40.

(23) Ders.: Geheimnisse der Ortsnamen. In: Demokratisches Volksblatt, 19.9.1953; vgl. dazu auch H. Höller: Politische Philologie des Wolfsegg-Themas. In: H. Höller/ I. Heidelberger-Leonard: Antiautobiographie. Thomas Bernhards: ‘Auslöschung’. Frankfurt a.M. 1995, S. 38-49.

(24) Vgl. dazu L Kreutzer: Wie herrlich leuchtet uns die Natur? Der Naturwissenschaftler Goethe - Porträt eines Verlierers. In: ders.: Mein Gott Goethe. Reinbek b.H. 1980, S. 30.

(25) Vgl. zur Parallele im einzelnen Jahraus: Das ‘monomanische’ Werk. Eine strukturale Werkanalyse des Oeuvres von Thomas Bernhard. Frankfurt a.M. 1992 (Zugl.: München, Univ., Diss.), S. 51-53.

(26) Zum Thema der Bernhardschen "Umweltverzauberung" in Auslöschung vgl. H. Höller: Menschen, Geschichte(n), Orte und Landschaften. In: ders./ I. Heidelberger-Leonard, a.a.O., S. 217-234.

(27) Goethe gilt hier als negative Projektionsfolie für den Typus des Geistesmenschen und wird als ‘Großbürger’, ‘Dichterfürst’, ‘Biedermann’, ‘Kleinbürger’, ‘Lebensopporturtist’, ‘Gebrauchsdeutscher’ apostrophiert (A 575f.).

(28) Vgl. dazu I.M. Battafarano, a.a.O.

(29) Zur Stellung, Bedeutung und Funktion der Figur von Maria in Auslöschung und der Bachmann im sonstigen Oeuvre Thomas Bernhards vgl. H. Gehle: Maria: Ein Versuch. Überlegungen zur Chiffrierung Ingeborg Bachmanns im Werk Thomas Bernhards. In: H. Höller/ I. Heidelberger-Leonard, a.a.O., S. 159-180.


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