ABSTRACT:
In diesem Vortrag möchte ich, an Hand einer Lektüre des Prosabuchs brütt oder Die seufzenden Gärten (1998), den Subjektivitätsraum erörtern, der sich in Mayröckers Texten über die Strategien der Wiederholung, der Aneignung und Verwandlung entfaltet.
Die Ich-Figur aus deren Perspektive brütt geschrieben ist, präsentiert sich als alt, genauer: als über einen alten Körper verfügend. Der alte, schwache Körper ist nicht mit negativen Konnotationen verbunden, sondern wird als Chance erfahren, als Möglichkeit, ein ‘Experiment’ (im Sinne Foucaults) durchzuführen, das Körper und Geist verwandelt.
Dieses Experiment der Verwandlung wird von Affekten, die auf die Materialität des alten Körpers einwirken, angeregt. In brütt verfolgt die Dynamik der Affekte intertextuelle und intermediale Spuren, namentlich in der Auseinandersetzung der Ich-Figur mit den Gemälden von Francis Bacon. Die Ich-Figur wird sehr stark von dem Prozess der Entkörperung, der sich auf Bacons Gemälden abspielt, berührt. Zwischen dem Ich und den Gemälden entwickelt sich eine Beziehung von mehrfacher gebrochener Spiegelung. Die Ich-Figur wiederholt den auf den bGemälden stattfindenden Prozess, sie ahmt die Figuren auf den Gemälden nach, eignet sich deren Dynamik an.
Die Lektüre dieser Dynamik erinnert an den französischen Philosophen Gilles Deleuze. Obwohl er in brütt nicht erwähnt wird, scheinen sein Denken, vor allem seine Figuration des "organlosen Körpers", und seine Auseinandersetzung mit Bacon (in Logique de la Sensation) den Prozess der Aneignung zwischen der Ich-Figur und den Baconschen Figuren maßgeblich zu inspirieren.
Aus der Erörterung dieser intertextuellen und intermedialen Spuren und ihrer Rolle in der Entfaltung der Subjektivität der Ich-Figur werden Schlussfolgerungen für den Subjektbegriff bei Mayröcker gezogen. Mayröckers von Wiederholung, Aneignung und Verwandlung geprägtes Subjekt gestaltet sich als energisch und experimentierfreudig. Dieses Subjekt ist alles andere als selbstbestimmt oder souverän; im Gegenteil, es ist von körperlichen Beschränkungen und Verletzbarkeit (in brütt vor allem im Folge des hohen Alters) geprägt. Es versteht aber seine beschränkte Materialität als Chance: über das Affiziertwerden des Körpers vollzieht sich eine radikale Transformation, bei der die Beziehung zwischen dem Ich und seiner Umgebung von einer affektiven Appellstruktur bestimmt wird.
So entwirft Friederike Mayröcker, die als radikale Erneuerin der deutschsprachigen Literatur gilt, inspiriert und affiziert von Wahlverwandten in Kunst, Literatur und Philosophie, einen höchst innovativen materiell-ästhetischen Subjektbegriff.