Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
<< Theater und Fest - Ursprünge und Innovationen in Ost und West

Dionysos-Reflexionen
Fest und Präsenz in Sophokles/Brechts Antigone

Ulrich J. Beil (Universität München, Deutschland)

 

ABSTRACT:

Bislang galt Fragen des Festes und des Dionysischen in Zusammenhang mit Sophokles' Antigone, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine besondere Aufmerksamkeit. Zu Unrecht: Denn Dionysos, Kultgott der Tragödiendichter, ist auch in der Antigone denkbar gegenwärtig. So verweisen die Chorlieder nicht nur auf die kultisch-festliche Basis des Stückes, sondern lassen auch eine hochkomplexe Form der Autoreflexion erkennen. Im Hymnos kletikos (Vs. 1115-1154), zusammen mit der Parodos der Euripideischen Bakchen das eindringlichste Lied, das die antike Tragödie auf ihren Gott anstimmt, wird Dionysos in höchster Not angerufen. Er soll zu Hilfe eilen, was er dann auf tragisch-schreckliche und zugleich kathartische Weise auch tut - wobei das Stück im Moment der Anrufung selbst schon von der Ankunft des Gottes zeugt, der tragisch-kultischen Bewältigung eines längst vergangenen ethisch-politischen Skandalons. Das, was gewünscht wird, ist immer schon eingetreten, sobald man sich im Stück (im gedruckten, tausendmal aufgeführten) befindet, und es muss doch, als performance, als Präsenz, immer von neuem dramaturgisch oder auf dem Weg der Lektüre realisiert werden. Auch Brechts an Hölderlin angelehnte réécriture der sophokleischen Antigone verzichtet nicht auf Dionysos; sie säkularisiert ihn zu einer Chiffre für Erotik und Vitalität, ironisiert ihn aber als Gott, da er auf das tragische Geschehen nicht mehr Einfluss nehmen kann. Während Präsenz bei Sophokles eine Art von inszenierter Erinnerung im Zeichen des Dionysos ist, bricht sie bei Brecht als politische Aktualität von außen ins Stück ein und degradiert den Gott des Kultus zum ohnmächtigen Zuschauer.


Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9 - 11 december 2005

H O M E
WEBDESIGN: Peter R. Horn 2005-11-22