Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
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Mythos Czernowitz

Dieter A. Binder (Universität Graz)

 

ABSTRACT:

Seit Karl Emil Franzos heftig bekämpfter Definition von Czernowitz als blühende Insel der Kultur in "Halb-Asien" gehen die Darstellungen des "jüdischen" Czernowitz mit dem "deutschen" Czernowitz Hand in Hand. Zweifellos findet man im assimilierten jüdischen Milieu dieser Stadt jene charakteristische Mischung aus jüdischer Identität und deutschem Bildungsideal, die typisch ist für weite Bereiche gerade des jüdischen Österreichs der Monarchie. Nicht zuletzt ist ja Franzos selbst ein beredtes Beispiel für diese Positionierung. Nun ist aber dieses Bild gegenüber dem tatsächlichen Befund abzuwägen. Das Czernowitzer Judentum besteht aus einer reichen Palette unterschiedlichster jüdischer Positionierungen und Formen im religiösen und politischen Selbstverständnis. Neben orthodoxen, chassidischen, reformorientierten Gruppen, rund 400 Synagogen und Bethäuser im Großraum Czernowitz findet sich eine sprachliche Pluralität und ein äußerst differenziertes kulturelles Selbstverständnis. So ist dieser Ort von wesentlicher Bedeutung für den Aufbruch des Jiddischen als Hochsprache, als nationales Bekenntnis. In der Rezeption des jüdischen Czernowitz durch christliche Autoren ist dennoch eine auffallende Tendenz zur Verkürzung zu beobachten, die vielfach ins Anekdotische ausweicht, um an die Stelle eines konkreten Befundes eine plakative, vielfach an die Bilderwelt Chagalls erinnernde Simplifizierung zu erzielen, deren pittoresker Charme letztlich die eigen Position im nationalen und sozialen Diskurs überhöht. Mit der Zerstörung und Vernichtung des multikulturellen Czernowitz, einsetzend mit der rumänischen Politik nach 1920, gesteigert durch den Kahlschlag der ersten sowjetischen Säuberung und "vollendet" im Mord an den Czernowitzer Juden während des Nationalsozialismus, entsteht eine Erinnerungslandschaft, die gleichermaßen von jüdischen Autoren (Paul Celan, Rose Ausländer, Josef Burg) wie von nicht jüdischen Autoren (Gregor von Rezzori) getragen wird. Angesichts der zerfallenden bipolaren Welt des Kalten Krieges, der Wiederentdeckung jenes Mitteleuropas, das zwischen 1945/46 und 1990 jenseits des Eisernen Vorhangs lag, wird ein häufig falsch verstandener "Habsburger Mythos" lebendig, der in der Sichtweise sich an Karl Emil Franzos annähert und die Geschichte zwischen 1945 und 1990 weitgehend ignoriert. Im heutigen Czernowitz, im Czernowitz der Ukraine, wird förmlich ein "synthetisches" Judentum geschaffen, das als Lokalkolorit in das "Freilichtmuseum" Czernowitz eingebracht, darüber hinwegtäuscht, dass die Shoa und ihre Folgen aus Czernowitz einen "Ort des Erinnerns" gemacht hat, ein Erinnern, das weitgehend extern artikuliert wird.


Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9. - 11. december 2005

H O M E
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