ABSTRACT:
1969 wurde die nach jahrelanger Recherchearbeit Dario Fos in der Bibliothek von Ragusa entstandene Spielmannsdichtung "Mistero Buffo" uraufgeführt. Das Stück signalisiert den Übergang Fos vom frühen Revuetheater zum politischen Theater nach 1968.
Es zeigt Ausschnitte einer Kultur, wie sie in den offiziellen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, und zwar aus der Sicht derer, die Geschichte zwar machen und erleiden, aber nicht schreiben.
Diese plebejische Sicht arbeitet den Mystifikationen der bürgerlichen Kultur entgegen und entlarvt die Kirche als Machtapparat. Das Stück ist im paduanischen Dialekt des 14. Jahrhunderts geschrieben, doch jeder Szene geht eine Vorrede voraus, die Kommentare und Parallelen zur Gegenwart enthält. Fo sieht sich als zeitgenössischer Giullare, also in der Tradition der mittealterlichen Spielleute (der joculatores) , die aus dem Volk hervorgingen, vom Volk her ihre Wut nahmen, "um sie dem Volk mittels der Groteske, mittels der ‚Vernunft' wieder zurückzugeben, damit das Volk sich seiner eigenen Lage bewusst wurde."(1) Die mittelalterlichen Mysterien bringen eine andere Sicht auf die Welt zum Ausdruck. Fos Theater als Instrument der Kommunikation wird exemplarisch im "Mistero Buffo" gezeigt, denn es handelt sich um eine Szenenfolge, die Fo bis heute häufig modifiziert und aktualisiert hat (sie wurde allerdings selten nachgespielt, weil sie einen anderen Typ Schauspieler als den der Guckkastenbühne verlangt). Fo hat das "Mistero Buffo" in wenigen Jahren mehr als tausend Mal aufgeführt; er will das Publikum dadurch dazu einladen, sich seine eigene Kultur wieder anzueignen, um der Gelehrtenkultur etwas entgegen setzen zu können.(2) Mit dieser Collage von Texten wollte Fo die gesellschaftliche Bedeutung der mittelalterlichen Theatertradition aufzeigen "und dieser Tradition all ihre authentischen Werte zurückgeben: der Protest gegen eine auf Unterdrückung ausgehende Weltanschauung und folglich der Kampf um die Anerkennung einer neuen Weltanschauung, die der herrschenden Klasse fremd ist."(3)
Fos politisches Theater war immer auch als Volkstheater gedacht, das Teil einer alternativen Kultur oder Produkt der Kultur des Marktplatzes war. Im "Kleinen Handbuch des Schauspielers" bezieht er sich auf A. Hausers Soziologie der Kunst und definiert die Kunst der Spielleute in ihrer Bindung an die unteren Schichten, die ihre Richtlinien aus den unmittelbaren Erfahrungen mit dem Publikum schöpften.(4)
1977 wird in Bologna "Die Geschichte einer Tigerin" aufgeführt, ein Gleichnis, das Hoffnung in auswegloser Situation wecken möchte. Fo hatte die Geschichte vor der Niederschrift 2 Jahre aus dem Stegreif gespielt. Die Zuschauer nehmen Teil an der kollektiven Vernunft des Volkes, die gewonnenen Erfahrungen werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln vorgeführt. Durch diese Orientierung auf kollektive Interessen potenzieren sich die individuellen Kräfte der Zuschauer. In China lautet die allegorische Bedeutung von "wer den Tiger hat": er leistet auch in einer ausweglos scheinenden Situation Widerstand.
Das Gramelot - eine bewegliche, nicht-normierte Sprache
Die einfachste Form des Gramelot sprechen die Kinder, die mit ihrer unbändigen Phantasie so tun, als redeten sie völlig klar; Fo bezeichnet das Gramelot als onomatopoetische Vortäuschung der Rede (ursprünglich nach dem Konzil von Trient 1545 im Volkstheater verbreitet um die Zensur zu umgehen); sie wird willkürlich ausgeführt, und stellt zusammen mit den sie unterstützenden "Gesten, Rhythmen und Tönen einen vollständigen Vortrag" her. Dieser "Brei von Tönen, die dennoch den Eindruck erwecken, als hätte die Rede einen Sinn" lässt sich nur über Intuition verstehen, doch je "einfacher die Gesten zu verstehen sind, die das Gramelot begleiten, desto leichter fällt das Verständnis der Erzählung", deren Kennzeichen Fo so zusammenfasst: "Onomatopoetische Klänge, klare und sinnfällige Gestik, Timbre, Rhythmus, Koordination und, vor allem, eine starke Vereinfachung."(5)
Fo orientiert sich an der Umgangssprache, erfindet aber wie der mittelalterliche Giullare, der sich aus hunderten von Dialekten seinen eigenen Dialekt zusammenstellte, eine Sprache von hoher Expressivität. Das Zitieren unterschiedlicher Dialekte verweist darauf, dass das Volk seine eigene Sprache behalten soll, die im Widerspruch zur aseptischen Sprache der Massenmedien steht.
Die subversive Macht der Komik
Satire ist bei Fo Waffe des Volkes, höchster Ausdruck des Zweifels und wichtigstes Signal für Vernunft. Daher ist politisches Theater bei Fo immer unterhaltend, auch wenn es um ernste Themen geht. Er sieht die Komödie als wirksamste Form des Theaters an, denn über das Gelächter stellt sich das Erkennen ein. Die Farce setzt hinter einer geregelten Wirklichkeit eine Welt voll von verkehrter Ordnung frei. Dass das Groteske immer auf einen tragischen Hintergrund und einen utopischen Horizont verweist, zeigt sein Sketch "Gramelot vom Hunger des Zanni".
Spiel der Andeutungen und Unterbrechungen
In Fos "Mistero Buffo" vertritt der Schauspieler eine kollektive Perspektive, eine chronische Haltung; als Material hat er nur seine Stimme, seine Gestik, seine Mimik. Er zerschlägt die vierte Wand(6) des Theaters und richtet sich direkt an die Zuschauer. Die Bühne ist ein Spielgerüst in 2 Ebenen ohne Vorhang und mit einem Laufsteg mitten ins Publikum - die Einheit von Bühne und Zuschauerraum wird betont.
Von Anfang an wird ein Spiel der Unterbechungen, des ständigen Alternierens praktiziert. Im Prolog lösen sich Information und Kommentar, Vergangenheit und Gegenwart abwechselnd ab. So kann nie die Illusion aufkommen, das Spiel sei Wirklichkeit, und nicht eine auf dem Theater für Zuschauer vollzogene Handlung. Der Schau-spieler braucht Improvisationskunst und Körperbeherrschung, er wird zum Schau-sprecher (a-parte-Technik); die Unterbrechungen bieten dem Publikum Zusatzinformationen über nachfolgende Spielsituationen und dem Schauspieler die Chance, dem Gezeigten gegenüber eine souveräne Haltung einzunehmen. Gang und Rhythmus der Aufführung wurden bei Fo entscheidend vom Publikum mitbestimmt, ohne Zwischenfälle kommt sein Thetaer nicht aus. Fo bediente sich dieser Zwischenfälle, manchmal provozierte er sie, denn die Zwischenfälle waren auch der Nerv des Volkstheaters, bevor die Commedia dell'arte entstand.
Der Anti-Mime Fo reduziert Figuren in Sekundenschnelle auf eine Minimalversion, springt von einer Figur zur anderen und appelliert an die kritische Intelligenz der Zuschauer, wobei der Text immer nur ein Sprungbrett zum Spiel darstellt. Seine Mischung aus volkstümlichen Themen und Gags, die Wendung des Komischen zum Grotesken, der Einsatz moderner Spieltechniken wie Verfremdung, Antinaturalismus und Entpsychologisierung wurde bei Aufführungen im Ausland allerdings zu wenig beachtet und dies hat oft dazu geführt, dass man Fo seiner Modernität beraubte. Denn wer im Theater auftritt, muss stets den Eindruck vermitteln, alles ohne Anstrengung zu tun und völlig entspannt zu sein; dabei geht es Fo darum, "in Andeutungen zu sprechen, Hinweise zu geben, das Unausgesprochene zu zeigen und die Phantasie anzuregen- das ist die Arbeit des Schauspielers. Das Theater ist eine Fiktion der Realität, nicht deren Imitation."(7)
Fo kritisiert daher den übertriebenen Gebrauch von Effekten bzw. billigen Gags in ausländischen Aufführungen seiner Stücke; als Grund, warum diese Aufführungen trotzdem "Kasse bringen" (und deswegen würden seine Stücke, so vermutet er, so häufig gespielt und nicht wegen ihrer Botschaft oder der politischen Argumentation), führt er an, "dass das Publikum im Ausland häufig nicht sehr wählerisch ist."(8)
(1) Fo, Dario: Mistero Buffo, Verona 1973, S. 20.
(2) Vg. Dario Fo über Dario Fo, S. 100f.
(3) Chotjewitz, Peter O./Jungblut, Helga: Dario Fo und sein Theater. In: Dario Fo: bezahlt wird nicht! Berlin 1977, S. 93.
(4) Vgl. Fo, Dario: Kleines Handbuch des Schauspielers, Frankfurt a. Main 1989, S. 133
(5) Ebd., S. 85 und 87.
(6) Fo, Kleines Handbuch des Schauspielers, S. 108f: "Die vierte Wand zerschlagen. Der größte Teil des Theaters, auch des modernen, ist so konzipiert, dass es das Publikum zu totaler geistiger Passivität verurteilt."
(7) Ebd., S. 261.
(8) Ebd., S. 287.