Angenommen Literatur und Wirklichkeit bedingen sich wechselseitig (Bachtin), dann wäre es naheliegend, in dem historischen Jahr 1989 auch für die europäische Literatur eine Epochenschwelle zu vermuten. Eine sich verändernde Wirklichkeitserfahrung und Weltwahrnehmung scheint zur Erweiterung der Ausdrucksformen aufzufordern (Cassirer). Nur wen fordert sie auf, gar heraus? Denn nicht für jeden europäischen Schriftsteller markiert das Ende des Kalten Krieges zwangsläufig einen prägenden Einschnitt im eigenen Leben.
Unter den derzeit gefeierten Debütanten befinden sich erstmals AutorInnen, für die die politische Wende mit dem Übergang vom Kind zum Erwachsenen zusammenfällt. Von Julia Schoch (*1974), die in diesem Sommer den Preis der Jury in Klagenfurt erhielt, wird dies als die grundlegende Erfahrung eines Bruchs thematisiert: "Es ist nicht die DDR, die den Westdeutschen fehlt. Es ist die Erfahrung eines absoluten Bruchs - und die Wende war so ein Bruch. Es ist die grundlegende Erfahrung, dass das, was da ist, nicht selbstverständlich ist."(1) Mit Musil gesprochen, zeigt sich der 'Wirklichkeitssinn' gegenüber dem 'Möglichkeitssinn' geschwächt und erklärt das vehemente Eintreten der Autorin für ein Sich-Widersetzen gegenüber der Wirklichkeit der Gegenwart.(2) Die Brucherfahrung erschüttert für Antje Rávic Strubel (*1974) die Selbstverständlichkeit des Erzählens,(3) mit dem 'Lebensfaden' wird auch der 'Faden der Erzählung' brüchig. Gegenüber ihren westdeutschen/-europäischen Altersgenossen geben diese Autorinnen daher eher Novatoren als Archaisten ab.
Nun wäre es nicht nur zu einfach, zwischen Innovatoren und Archaisten gemäß des Eisernen Vorhangs zu sondieren, es würde der Bedeutung von 1989 auch völlig zuwiderlaufen, denn "1989 bedeutete das Ende der Blöcke und der Logik der Oppositionen und der Dichotomie; [...]."(4) Demgegenüber sind komplexe Prozesse des "Weiter-, Um- und Widerschreibens"(5) anzunehmen und im nächsten Schritt ist zu bestimmen auf welcher Ebene Autoren als Archaisten oder Novatoren auftreten.
Um Generalisierungen zu entgehen, steht die jüngste Generation der Literaten im Zentrum meines Vortrags. Exemplarisch an Terézia Moras Debütroman "Alle Tage", ausgezeichnet u.a. mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2005, möchte ich zeigen, wie sich Literatur zwischen den Polen der Innovation und der Reproduktion bewegen kann. Ein Sinnsprung stellt sich bei der Lektüre von "Alle Tage" insbesondere durch das Wiederaufnehmen und Brechen der Form der Odyssee ein. Demnach lebt ein Widerschreiben gerade von einem Um- und Weiterschreiben. Es kommt darauf an, Formen der Vergangenheit auf ihr Ausdruckspotential zu überprüfen und in die Gegenwart zu übersetzen.
(1) So Julia Schoch im Interview "Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland.", in: Die Welt, 09.11.2002.
(2) Vgl. Schoch, J. (2003): Die wattierte Wirklichkeit und ihre Literatur. EDIT 32, S.52-55.
(3) Vgl. Strubel, A.R.(2003): X - Was ist das und kann man es noch benutzen. EDIT 31, o.S.
(4) Bisanz, E. (Hg.) (2005): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland. Münster (Lit) 2005. S.7.
(5) Lachmann, R.; Schahadat, S.: Intertextualität. In: Brackert, H.; Stückrath, J. (Hg.) (2000). Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt). S. 679.