ABSTRACT:
Die fast schon sprichwörtlich gewordenen guten deutsch-polnischen Beziehungen ragen heute über das semantische Feld hinaus. Zugleich aber muss sich der deutsche Polendiskurs und der polnische Deutschdiskurs von einer manchmal hartnäckigen Stereotypie befreien, um noch bevorstehende Versäumnisse und Forschungsdefizite anzusprechen. Es gibt heute genügend ernste Untersuchungen, die das Thema "Erinnern und Identität" behandeln und im Zuge einer Enttabuisierung stereotype Vorstellungen und Assoziationen - auch von Schlesien und über Schlesier - "entgiften". Das bunte Mosaik der Nachbarschaft gestalten Menschen durch Ideen, Institutionen, Tagungen, Begegnungen und Bildungsreisen. Nach 1989 ist das Interesse an Geschichte und Kultur der heutigen Bewohner Schlesiens beträchtlich lebendiger geworden, was mit einem steigenden Regionalbewußtsein verbunden ist. Es ist zu hoffen, dass dieser uns verbindende kollektive und geistige Dialog über den Kulturraum Schlesien eine gewichtige Stimme im Diskurs sein wird, den wir vielleicht Postregionalismus nennen können, wie es übrigens in der literarischen Diskussion um die sogennannten "kleinen Heimaten" geschieht. Zwar sprechen wir heute fast alle mit einer Stimme über die wünschenswerte Einheit Europas und vergessen manchmal, dass dieses Europa dennoch ein Kontinent der Unterschiede ist, ein Kontinent einer geradezu spektakulären Vielfalt von Sprachen, Kulturen und Religionen. Ist Schlesien nur irgendeine Region in Europa, wie es viele sind oder kann man in diesem Fall von einem "Sonderstatus" sprechen? Wir müssen uns auch fragen, wie wir im Zeitalter der Globalisierung, im Rausch der rasanten Medienereignisse mit den Begriffen Region und Europa in ihren vielen Verästelungen zurechtkommen.
Eine globale Kommunikation kann nicht das Gespräch der Menschen in den Regionen über Europa ablösen. Das heutige Schlesien hat sich glücklicherweise aus der schlechten Versuchsphase einer Polonisierung befreit und realisiert seit mindestens zwanzig Jahren eine glaubhafte und überzeugende Fusion von verschiednenen Erinnerungen. Heute gehört es nicht nur zu einer Selbstverständlichkeit, sondern auch zur festen Norm, das Erbe deutscher Kultur zu behüten, um es ohne Lügen und ohne Verschweigen für die Zukunft zu bewahren (Jan Josef Lipski)