ABSTRACT:
'Zigeuner' gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den bevorzugten Gegenständen literarischer, aber auch ethnographischer und anthropologischer Schriften, die sich der Erkundung unbekannter Landstriche und Menschengruppen widmeten.
In der Reiseliteratur über die östlichen Provinzen der österreichischen Monarchie (Banat, Siebenbürgen, Bukowina) werden die 'Zigeuner' als mysteriöse halbwilde Landstreicher 'entdeckt'. Zu ihrer Einordnung in die Auffassungen über Zivilisation und Wildheit entsteht ein breites, teilweise widersprüchliches Spektrum an Bildern und Argumentationsmustern. So werden die 'Zigeuner' aufgrund ihrer angeblichen Unveränderlichkeit mit dem Stereotyp des ewig gleich bleibenden Juden verglichen - gleichzeitig attestieren ihnen aber anthropologische Schriften die Zugehörigkeit zu den 'Ariern'. Im Zuge der positiven oder negativen Stilisierung der 'Zigeuner' mittels unterschiedlicher Stereotypen (etwa als Bewahrer 'unverfälschter' indo-germanischer Mythologie, als 'edle Wilde' oder aber als geborene 'asoziale Verbrecher') geraten strukturelle politische und ökonomische Probleme, mit denen die als 'Zigeuner' bezeichneten Menschen tatsächlich konfrontiert wurden, oft völlig aus dem Blick.
Neben der Erörterung verschiedener Etappen der 'Entdeckung' osteuropäischer 'Zigeuner' während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird es in meinem Vortrag um Wechselbeziehungen zwischen Reiseliteratur und ethnographischen sowie anthropologischen Texten gehen. Dabei kann als selbstverständlich gelten, dass auch die 'wissenschaftlichen' Texte ihren Anspruch auf Objektivität nicht einlösten: Ihnen geht es häufig vielmehr darum, einen weiteren Beweis für die Stimmigkeit eines bereits vorhandenen Weltbildes mittels der Entdeckung, Beschreibung und Klassifizierung der 'Zigeuner' zu erbringen.