ABSTRACT:
Seit der Antike ist die Figur der Wasserfrau ein beliebtes Motiv in der Kunst und in der Literatur, indem sie unter verschiedenen Formen und Namen erscheint: Sirene, Skylla, Melusine, Undine, Wassernymphe, Loreley. Um das Bild der Meeresjungfrau haben sich im Laufe der Jahrhunderte eine Reihe von Symbolen, Metaphern, Andeutungen gruppiert, die sich immer wieder neu kombinieren und epochenbedingte religiöse, philosophische, ästhetische, soziale Bedeutungen gewinnen. So wurde z.B. in der Antike die Verbindung der Sirene mit Kunst, Wissen, Weissagung, Verführung betont; im Mittelalter standen die christlichen Motive der Versuchung und der Seelensuche, des Doppellebens (Frau und Ungeheuer), der Mahrtenehe, im Vordergrund; in der Romantik fanden in der widersprüchlichen Beziehung zwischen Menschen und Wasserfrauen die Entfremdungsgefühle des modernen Individuums ihren Ausdruck; im 20. Jahrhundert kehren all diese Themen in Bildern wieder, die sich von der femme fatale bis zur emanzipierten Frau ausbreiten. So wurden SchriftellerInnen wie Th. Mann, O. Wilde, Tomasi di Lampedusa, I. Bachmann von der Figur der Wasserfrau fasziniert. In der Tat ist die Sirene, Mensch und Übermensch zugleich, Schöne und Biest, Verführerin und Verführte, Hexe und Opfer von Zaubereien, ein Paradoxon, das zum bevorzugten Motiv einer Literatur geworden ist, die Gegensätze und Unterschiede zusammenzubringen versucht. Als hybrides Wesen wird die Wasserfrau zum Symbol der Kunst in ihrer Widersprüchlichkeit, Unfaßbarkeit, Mobilität, und als Grenzgängerin zwischen den Sphären bietet sie noch heute Anlaß zu Überlegungen über die Verhältnisse zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Kultur und Natur, Weiblichkeit und Männlichkeit, Anpassung und Andersartigkeit.