Das Problem der Schriftlichkeit durchzieht den Mann ohne Eigenschaften wie ein roter Faden. Seine narrative Thematisierung erfährt es im bekannten Kapitel 122 des zweiten Teils des ersten Bandes mit dem Titel "Heimweg". Dort handelt der Erzähler vom "berühmten "Faden der Erzählung", aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht"(1), und fügt dem hinzu, daß "[d]ie meisten Menschen [...] im Verhältnis zu sich selbst Erzähler" seien (GW I, 650). Ulrich aber ist dieses "primitiv Epische" (ebd.) abhanden gekommen, was der Entwicklung des öffentlichen Lebens entspreche, wo "alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem Faden mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet." (ebd.) Dieses "Abstraktwerden des Lebens" (GW I, 649) kann der moderne Roman nicht mehr aufheben, indem er sich einer simplen "erzählerischen Ordnung" (GW I, 650) anvertraut, sondern er muss mit der Unmöglichkeit, das zu Erzählende in eine lineare Folge bringen zu können, leben. Im Interview mit Alfred Polgar beschreibt Musil diese "Dichtung der Zukunft" folgendermaßen:
Die Dichtung der Zukunft wird etwas von der Prosa der Zeitung haben, nichts von ihrem falschen Ethos, sondern von ihrer prosaischsten Prosa, und die Art, in der Polgar schreibt, ist schon aus den beiden dabei grundlegenden Elementen aufgebaut. Er hat vor einiger Zeit ein Buch herausgegeben, das "An den Rand geschrieben" heißt, und schreibt darin der Seele des zeitgenössischen Menschen, die bekanntlich schmerzlich vermißt wird, kleine, unpathetische Bemerkungen an den Rand; wenn man zur Mitte hinblickt, wo sie sein müßte, ist alles durchstrichen und es bleibt dort nichts, aber in der Randkorrektur, den Fußnoten, dem Dolchstoß praktischer Betrachtung in den Rücken der poetischen, in dieser sich immer tiefer zerspaltenden Heterodoxie der Vorbehalte, scheinbar also in einer unheilbaren Auflösung, zeigen sich mit einemmal ihre Linien; denn auch das Leben hat heute keinen Text, sondern nur Zusätze, Einschränkungen, Durchführungsbestimmungen und jeden Tag neue Novellierungen, vale Ehrwürdiges, was uns lieb war, dankt ab: aber das Leben war wohl immer die sozusagen konstituierende Auflösung einer Versammlung.(2)
Der MoE kann als eine solche "konstituierende Auflösung einer Versammlung" verstanden werden. Er schreibt sich an den Rändern des modernen Menschen, seiner geistigen und Gefühlswelt, entlang und lässt diese gewissermaßen in absentiae entstehen. Schrift, Literatur erscheint dabei als privilegierter Ort des "Möglichkeitssinns" (GW I, 16), dem es darum geht, die Wirklichkeit in einem "bewussten Utopismus" "als Aufgabe und Erfindung" (GW I, 16) zu behandeln und damit über sie hinauszugelangen. Besonderes Augenmerk muss dabei den "Heiligen Gesprächen" (GW I, 746ff.) zwischen Ulrich und Agathe gelten.
(1) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt, 1978. (= Gesammelte Werke in zwei Bänden, Bd. I) S. 650. In der Folge zitiert als GW I.
(2) Robert Musil: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt, 1978. (= Gesammelte Werke in zwei Bänden, Bd. II), S. 1159.