ABSTRACT:
Wie bekannt, geht die Stammvaterschaft des attischen Theaters auf Dionysos und die mit ihm verbundenen Kulte zurück. Der ägyptenkundige Herodot sieht hinter Dionysos den Gott Osiris, dessen Ermordung, Zerstückelung und Auferstehung im Mittelpunkt des wichtigsten ägyptischen Theater-Festes standen. Am Beginn waren also Kult und Theater eng miteinander verknüpft. In der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik hat Nietzsche die theaterschaffende Kraft des Dionysisichen hinreichend beschrieben. Schon Hölderlin hatte in seiner Antigone-Übersetzung durch die Akzentuierung des Archaisch-Orientalischen die Verknüpfung der Figur und Handlungsweise der thebanischen Königstochter mit dem Dionysischen wieder in den Vordergrund gerückt, die Verbindung allerdings zum Kult auch nicht wieder herstellen können. Damit traf er den Nerv, denn, während im klassischen Theater der Rekurs auf die griechische Mythologie eine durchgehende Praxis ist, - man denke nur an Goethes "Klassische Walpurgisnacht" oder an Kleists Amphitryon - bleibt die Beziehung zum Kult, bzw. Fest unterbrochen. Das ist, so weit ich sehe, auch der Fall im modernen Theater, wo immer wieder Bearbeitungen des Mythos vorgenommen werden, wie Georges Steiner in seinem grundlegenden Werk für den Antigone-Komplex auch im Drama festgestellt hat und wie es, allgemein gesprochen, die Aufsätze des Bandes Il mito nel teatro tedesco(1) darlegen, kaum aber je wieder ein Bezug zum Kult aufscheint.
Was ich in meinem Vortrag zeigen möchte, ist gerade das Gegenteil, dass sich nämlich, allem Anschein zum Trotz, auch im modernen Theater Beziehungen zum Fest auffinden lassen, bzw. neue geknüpft werden und zwar nicht nur zum heidnischen Kult, sondern auch zu den festlichen Grundpfeilern des Judentums und der christlichen Kirche. Drei Dramen stehen sozusagen emblematisch für die möglichen Demonstrationsobjekte dieser Hypothese: Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1890/91), Gabriele D'Annunzios La figlia di Iorio (1903), Else Lasker-Schülers Arthur Aronymus und seine Väter (1932).
Im Mittelpunkt des letzten steht der Konflikt zwischen Juden und Christen in einem beunruhigenden Kontext von Antisemitismus und Hexenwahn. Was das Fest der Geburt Christi, Weihnachten, nicht vermag, nämlich Versöhnung und Frieden zwischen Juden und Christen zu stiften, gelingt dem katholischen Bischof am jüdischen Passahfest. Die "Judenjüngerin des Gottessohnes", als die Else Lasker-Schüler sich selbst definierte, vermag also Christus und Jahwe als gleichwertig nebeneinander zu stellen. In Wedekinds Stück dagegen lebt im Erwachen der jugendlichen Sexualität das dionysische Element wieder auf, das der tödlichen Starre der Erwachsenenwelt nicht gänzlich zum Opfer fällt. Im vermummten Herrn der berühmten Friedhofsszene, der den Protagonisten vom Selbstmord abhält und ihn ins Leben zurückführt, könnte man nämlich den vom Christentum zerstückelten, im Zeichen des antibürgerlichen Vitalismus wieder auferstandenen Dionysos en travestie sehen.
Es ist aber in D'Annunzios "pastoraler Tragödie", wo das christliche Fest und die christlichen Symbole die offensichtlichste Folie für das archaisch-mythische Ambiente und Geschehen liefern. Die tragische Handlung setzt am Johannistag am 24. Juni ein, in dem unschwer das heidnische Erbe der Sonnenwende und der Anthesterien zu erkennen ist und fährt im zweiten Akt mit dem Herbst-Äquinoktium fort, der Zeit der Weinernte und der Dionysien: Was mit Hochzeitsvorbereitungen beginnt, endet mit Vatermord und der Verbrennung von Iorios Tochter auf dem Scheiterhaufen. Über seine Figuren äußerte D'Annunzio: "La sostanza di queste figure è l'eterna sostanza umana: quella di oggi, quella di duemila anni fa". ("Das Wesen dieser Figuren ist das ewig menschliche, das von heute, das von vor zweitausend Jahren".)
Dass Christus durch Dionysos ersetzt wird und durch die christlichen Feste die heidnischen durchscheinen, sich gar mit ihnen vermischen, geht nicht nur aus der Hervorhebung der Folgen des falschen Genusses von Wein hervor, der für den sexuell überhitzten Zustand der Erntearbeiter und die Melancholie des Bräutigams im ersten Akt verantwortlich gemacht wird, sondern auch aus einer expliziten Äußerung: "E fallito è quel sogno di Cristo", sagt Aligi, der untreue, von Iorios Tochter betörte Bräutigam. ("Und jener Traum von Christus, er ist misslungen".) In Dionysos und seinen Festen kondensieren sich die tragischen Motive. Aligis Vater bedroht Iorios Tochter und will sie mit Gewalt aus der Höhle schleppen, wo sie zusammen mit seinem Sohn Zuflucht gefunden hat, um sich während der Weinernte nach Belieben mit ihr zu vergnügen. Deswegen wird er von seinem Sohn getötet. Und noch ganz zum Schluss ist es der Wein, dem eine entscheidende Rolle zufällt, als sich nämlich die Tochter Iorios des Vatermords und der bösen Zauberei bezichtigt, um den von ihr geliebten Aligi zu retten. Sie behauptet, den "gastfreundlichen" Wein verfälscht und zum Zaubertrank des Hasses zwischen Vater und Sohn gemacht zu haben. ("Il vino ospitale falsai/non bevvi, adoprai per fattura") ("Den gastfreundlichen Wein habe ich vergiftet/ ich trank nicht, ich tat den bösen Zauber"). Auch oder besonders in D'Annunzios "Hirtentragödie" beherrscht also Dionysos die Szene, Nietzsches "kommender Gott".
(1) Hermann Dorowin/Rita Svandrlik/Uta Treder, Il mito nel teatro tedesco. Studi in onore di Maria Fancelli, Perugia 2004.