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Kunstfreiheit versus Recht?
Die Auseinandersetzung um Johannes R. Becher in der Weimarer Republik (1925–1928)Michael Ansel (München) [BIO]
Email: michael.ansel@gmx.de
ABSTRACT:
Nachdem Becher sich 1923 definitiv von seinen expressionistischen Anfängen abgewandt und zu einem kommunistisch-agitatorischen Kunstverständnis bekannt hatte, ermittelte die deutsche Justiz seit Februar 1925 gegen ihn. Die Publikation des provokativen Gedichts Der Leichnam auf dem Thron, mit dem er auf die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten reagierte, trug ihm drei Monate später eine auf den einschlägigen Paragraphen des Gesetzes zum Schutz der Republik von 1922 und des Reichsstrafgesetzbuches basierende Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Aufreizung zum Klassenhass, Beschimpfung der republikanischen Staatsform und Gotteslästerung ein. Obwohl sich Becher in seinem literarischen Kurs davon nicht beirren ließ und mit seinem im Auftrag des Moskauer Internbüros verfassten Roman (CH Cl=CH)3As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg (1926) den bewaffneten Aufstand der Arbeiterklasse in Deutschland eingestandenermaßen ideologisch vorzubereiten beabsichtigte, kam es Anfang 1928 aufgrund massiver, internationale Dimensionen annehmender öffentlicher Proteste zu einer Verschiebung und schließlich nach den Reichstagswahlen im Mai 1928 zu einer Aufhebung des Hochverratsprozesses gegen ihn.
Aus der Perspektive von Bourdieus Feldtheorie stellt sich der Konflikt um Johannes R. Becher als felderübergreifende Auseinandersetzung zwischen Akteuren bzw. Institutionen des literarischen und des juristischen Feldes dar. Er ist aus mehreren Gründen interessant: Erstens verfolgt Becher seit 1923 mit publizistischen und künstlerischen Texten eindeutig politische Zielsetzungen und kann deshalb im Gegensatz zu seinen expressionistischen Anfängen nicht mehr mit der Unterstützung der Konsekrationsinstanzen des literarischen Feldes rechnen. Obwohl man zweitens aus historischem Abstand zweifellos Sympathie für seine Attacken gegen Großindustrie und Klassenjustiz aufbringen kann, ist andererseits prinzipiell anzuerkennen, dass Becher zu Recht angeklagt wurde. Ohne in eine Einzelprüfung der ihm vorgeworfenen Straftatbestände eintreten zu müssen, kann man nämlich von Bechers offen bekundeter, vor propagandistischen Überzeichnungen nicht zurückschreckender Bereitschaft zur Zerstörung des Weimarer Staats ausgehen. Angesichts dieser Ausgangsbedingungen ist es daher drittens doppelt überraschend, dass Becher nach der Anklageerhebung mit einer breiten, weit über kommunistische Kreise hinausreichenden Unterstützung bis hin zu gemäßigt-konservativen Autoren rechnen konnte.
Der Vortrag soll diese doppelte Unwahrscheinlichkeit auf der Grundlage des von Bourdieu bereitgestellten Analyseinstrumentariums erklären und sich dabei im Wesentlichen mit der Frage beschäftigen, ob bzw. inwiefern im vorliegenden Fall ästhetische Normen und juristische Kodifizierungen miteinander in Konflikt geraten sind.
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