Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007

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Urbane Linguotope: Sprachkontakt und Polyphonie im grossstädtischen Dickicht

Norbert Dittmar (FU-Berlin, Institut für deutsche und niederländische Philologie) [BIO]

Email: nordit@zedat.fu-berlin.de

 


 

ABSTRACT:

In meinem Beitrag gehe ich zunächst auf die Sprachenvielfalt in einem großstädtischen Raum wie Berlin ein, der in den letzten Jahren im Turbotempo mehrsprachig geworden ist. Wie ist das Gewicht der im urbanen Raum benutzten Sprachen im Alltag, in den Institutionen, im Bewusstsein der Öffentlichkeit? Das Prestige einer Sprache ohne nennenswerte Anwesenheit der Gruppe (Languages without face) wiegt tausendmal mehr als die Präsenz einer Sprache mit hunderttausenden Gesichtern wie z.B. das Türkisch der türkischen Minderheit. Für alle diejenigen, die in dieser Stadt berufliches Auskommen, gutbürgerliche Existenz und urbane Kultur in Tuchfühlung erleben wollen, heißt die versteckte Agenda („hidden agenda“): Entspanntes Hochdeutsch, umgangssprachliches Gemein-deutsch der Nähe, mit kleinen englischen Anteilen, kein oder nur höchstens gemäßigtes Berlinisch, absolute Sicherheit im Schriftdeutschen hat Priorität!

Negative face haben die ethnolektalen Varianten aus den Niederungen des melting pot in Vierteln mit schlechter Bausubstanz, zentraler Stadtlage und Migrantenkultur gemischt mit Singles schriftnaher muttersprachlicher Kulturen. Sicher sind diese Sprachmischungen höchst kreativ, haben soziales Gewicht, aber überhaupt keine Anerkennung und kein Prestige; daher sprachmäandern sie zwischen Protest und Anpassung dahin. Diese Linguotope haben ein provozierendes Potential, sie bedrohen die Werte der Schule und den Schulerfolg, sie dringen bis zu den Medien durch (Rap, Hip Hop, Mtv und Viva etc.)

Typisch für die polyphone Urbanität einer Stadt wie Berlin sind die wuchernden Sprachhybride, die in schriftfernen Linguotopen hervorsprießen, aber auch im Umfeld anderer kultureller Cluster in distinktiver Form entstehen (in der kulturellen Aura der Botschaften, der Kulturzentren wie des Centro d’ Italia oder des chinesische oder russischen Zentrums), die Musik- oder Theaterwelt. Diese Hybride sorgen für eine urbane Kreativität, die nur mit einer Chaostheorie zu erklären ist. Aber auf der anderen Seite erzeugen sie das, wofür Städte stets anfällig sind: Abweichende Normen, Abkehr vom Mainstream, „abgedrehtes“ („krankes“?) Deutsch, wenn man mal die Gesundheitsnormen des Deutschen im Duden zugrunde legt.

Anhand von empirischem Material aus unterschiedlichen Vierteln gehe ich dem „Zwitschern“ der Sprecher im Dickicht der Plattenbauten nach, dem „Switchen“ zwischen den Sprachen (Türkisch, Russisch etc.). Ich frage mich, welche positive oder negative Rolle Nischen des Sprachgebrauchs abseits der Metropole spielen („Linguotope“).

Wir gehen der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen nach: dem lebendigen Berliner Dialekt im Ostteil der Stadt mit einem immer noch präsenten unterschwelligen DDR-Bewusstsein, dem hyperkorrekten Standarddeutsch, der neu heranwachsenden Ostberliner Bildungsschicht in ihrer übertriebenen Distanzierung vom traditionellen volksnahen Berlinern, dem nähesprachlichen standardisierten Duktus der Westsprecher mit ihr kulturelles Kapital aufbessernden englischen Fertigteilen in ihrem Diskurs.

Nur ein Teil der urbanen Polyphonie kann in diesem Beitrag transparent gemacht werden. Im Übrigen muss vieles im „Dunkeln“ des Dickichts bleiben, da das kommunikative Unterholz das Futter urbaner Kreativität ist, das, wenn es im hellen sprachkritischen Scheinwerferlicht transparent werden würde, eine Statt-, aber nicht mehr Stadtkultur wäre.

 


 

Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

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Wien, 6. bis 9. Dezember 2007