Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007

<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive


 

States of Emergency: Ausnahmezustand und Krisenerfahrung in William Shakespeares Measure for Measure

Martin Genetsch (Universität Trier, Anglistik) [BIO]

Email: MartinGenetsch@web.de

 


 

ABSTRACT:

Ausnahmezustände sind im Werk Shakespeares allgegenwärtig. Zu fragen ist jedoch nach der Art des Ausnahmezustands sowie seinem im Einzelfall zu bestimmenden Ort im Stück. In Measure for Measure gibt der Herzog eines fiktiven Wiens seine Macht zu Beginn ohne äußeren Zwang an einen Stellvertreter ab, der diese Macht missbraucht. Shakespeare fragt bei diesem durch ein Rechtsvakuum gekennzeichneten staatspolitischen Ausnahmezustand weniger nach der Legitimität des Herrschers, als nach den Mechanismen des Herrschaftsvollzugs, wobei besonders der moralische Rigorismus Angelos kritisch reflektiert wird, dessen Aussagen auf zeitgenössische, puritanische Diskurse über Verbrechen und Strafe rekurrieren. Das Liebespaar Claudio und Juliet sowie das Geschwisterpaar Claudio und Isabellas werden zum Ziel des fanatischen Strafens Angelos, der nicht zu trennen weiß zwischen maßvoller und unangemessener Rechtssprechung sowie zwischen Amt und Neigung, und illustrieren den Nexus zwischen politischem Ausnahmezustand und persönlicher Krise, der dem Stück zugrunde liegt. Angelos Handeln führt nicht nur zur Problematisierung zeitgenössischer Auffassungen eines guten Herrschers, sondern auch zur Problematisierung von Vertrauenskonzepten, insofern das Verhältnis zwischen Untertan und Herrscher, zwischen Liebenden sowie zwischen Bruder und Schwester schweren Belastungen ausgesetzt ist.

Ein permanenter Ausnahmezustand auf politischer Ebene ist in Measure for Measure insgesamt nicht nachzuweisen; im Gegensatz zu Agambens provokanten Thesen ist der Ausnahmezustand in Measure for Measure kein „Paradigma des Regierens“, sondern kann sich nicht nachhaltig durchsetzen. Vom Herzog ursprünglich inszeniert, um seinen eigenen, vermeintlich zu laxen Regierungsstil nachträglich zu korrigieren, wird der Ausnahmezustand in der Folge ironischerweise zu einem Korrektiv, das einen politischen Paradigmenwechsel gerade verhindert. Die Ursache für diesen Umschlag liegt in der Reaktion des Volkes, das Angelos Handeln Widerstand entgegen bringt und den Herzog dazu bewegt, seine bisherige Beobachterrolle zu überdenken und den Ausnahmezustand durch seine Rückkehr ins Amt zu beenden. Das politische Experiment scheitert also nicht zuletzt, weil der Ausnahmezustand von außen als solcher erlebt wird. Vermutet werden darf, dass der Ausnahmezustand als Dauerzustand paradoxerweise der Diskretheit bedarf, also genau der Art politischen Handelns, die Angelos auf Öffentlichkeit, Rituale und Opfer ausgerichteter Regierungsstil nicht kennzeichnet.

Gezeigt werden soll, dass Shakespeare in Measure for Measure den Ausnahmezustand als Testfall heranzieht, um die Tragfähigkeit von Beziehungen innerhalb der politischen Klasse, zwischen Herrscher und Untertan sowie zwischen Familienmitgliedern in den Blick zu nehmen. Während hinter der künftigen Tragfähigkeit persönlicher Beziehungen ein deutliches Fragezeichen aufscheint und insbesondere interpersonales Vertrauen in der Folge des im Stück vorgeführten Ausnahmezustandes auf der Strecke bleibt, ist für die staatspolitische Dimension entscheidend, ob sich das Staatswesen in Measure for Measure durch den Ausnahmezustand und die damit einhergehenden Krisen regeneriert bzw. ob Ausnahmezustände und die mit ihm verbundenen Opfer periodisch notwendig zur Stabilisierung des Gemeinwesens sind. Zu untersuchen ist insonderheit, ob ein stabiles Gemeinwesen bei Shakespeare mit Vertrauen in den Staat und seine Repräsentanten einhergeht und ob der durch einen Ausnahmezustand bedingte Verlust dieses Vertrauens durch Opfer restituierbar ist.

 


Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007