Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007

<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive


 

Der Normalzustand als Ausnahmezustand. Moderne, Langeweile und Krieg in Musils Mann ohne Eigenschaften

Sebastian Hüsch (Universität Basel, Philosophisches Seminar) [BIO]

Email: Sebastian.huesch@unibas.ch

 


 

ABSTRACT:

„La France s’ennuie“ hieß es im Frankreich des Jahres 1913, wie schon zuvor 1848 und 1870; und der Deutsche Georg Heym klagte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „Ach, es ist furchtbar. […] Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte. ... Sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne. Er kann ungerecht sein.“ Existentielle Langeweile – das ist die eigentümliche Stimmung, die die europäische Gesellschaften der Moderne am Vorabend krisenhafter Ereignisse zu prägen scheint. Aus dieser Einsicht heraus lässt Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften für das Österreich des Jahres 1913 ironisch „die Parole der Tat“ ausgeben – damit endlich wenigstens irgendetwas geschehe. Die Hauptfigur steht folglich recht allein mit ihrer Forderung, eine Tat müsse einen Sinn haben.

So scheint paradoxerweise vor großen Eruptionen der Normalzustand der Ausnahmezustand zu sein – was die Erkennbar- bzw. Prognostizierbarkeit eines solchen erheblich erschwert. Peter Sloterdijk ist der Ansicht, dass sich Vorkriegsgesellschaften gleichsam „neurotisch aufladen“, bevor sie sich dann enthusiastisch in die Apokalypse stürzen. Dies widerspricht der Diagnostik einer scheinbaren Normalität keineswegs, werden doch neurotische Aufladungen durch existentielle Leere begünstigt. Allerdings stellt sich dann die Frage, wann aus dem Normalzustand einer als essentiell langweilig erfahrenen Moderne der Ausnahmezustand einer Krisenzeit wird.

Paradoxerweise wird der Normalzustand zum Ausnahmezustand erst ex post. Musils Roman verdankt einen guten Teil seiner ironischen Wirkung deshalb nicht zuletzt einer doppelten Perspektivität: Die Beschreibung eines sich endlos perpetuierenden Seinesgleichen Geschieht bricht sich ironisch in der dem Leser bekannten weiteren Entwicklung, die eben gerade nicht durch Kontinuität, sondern durch einen fundamentalen Bruch markiert wird. Langeweile kann nur dann existentiell bewusstseinsprägend werden, wenn sie als dauerhaft angenommen wird. Mithin darf die Vorkriegssituation eben gerade nicht als „Ausnahme-“, sondern muss als „Normalzustand“ erlebt werden. Es ergibt sich folglich die paradoxe Diagnose, dass 1913 beides ist: Der Normalzustand einer unendlichen Fortdauer des Seinesgleichen Geschieht – als der er von den Zeitgenossen erlebt wird – und der Ausnahmezustand einer krisenhaften Zuspitzung – als welcher er in das historische Bewusstsein eingehen kann.

Diese Dialektik von Ausnahmezustand und Normalität, die Musil in seinem Roman paradigmatisch illustriert, lässt sich, wie ich zeigen möchte, in fruchtbarer Weise anbinden an Überlegungen, die anschließen an Gerhard Schulzes Konzept der Erlebnisgesellschaft und zwar insofern sich eine intrinsische Beziehung finden lässt zu einer Dialektik von Langeweile und Erlebnis als Charakteristikum der Moderne.

 


Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

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Wien, 6. bis 9. Dezember 2007