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Fiktivität und Kreativität des kollektiven Gedächtnisses – Zu Maurice Halbwachs Freud-Rezeption
Isozaki, Kotaro (Meiji Gakuin University, Institute of the Center for Liberal Arts, Tokio) [BIO]
Email: kisozaki@gen.meijigakuin.ac.jp
ABSTRACT:
Maurice Halbwachs (1877–1945) wird als einer der wichtigsten Anreger für die kulturwissenschaftliche Problematisierung von Erinnerung und Gedächtnis angesehen. Anders als sein Zeitgenosse, Sigmund Freud (1856–1939), dessen Gedächtniskonzept auf individuelle Erinnerungsprozesse ausgerichtet ist, konzeptualisiert Halbwachs das Gedächtnis als erster konsequent als soziales Phänomen. So bezeichnet man Halbwachs und Freud in Hinblick auf die Individualität und Kollektivität des Gedächtnisses als zu zwei anderen Polen gehörende. Dies ist überzeugend, insofern sich Freud auf dem Weg der Suche nach dem Inneren seiner Patienten mit der Gedächtnisproblematik auseinandersetzt, und es sich daher bei ihm in erster Linie um einen variablen Geisteszustand des Individuums handelt, während nach Halbwachs, im Unterschied zu seinem Lehrer Bergson, alle Erinnerungen, sogar persönlichste, erst in Bezug auf das Kollektiv, zu dem das erinnernde Subjekt gehört, entstehen. Tatsächlich rezipierte Halbwachs als Soziologe Freud und seine Traumdeutung kritisch. Er versucht im Werk Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen gegen Traumdeutungen, die u.a. Freud versuchte, Einwände zu machen: „Wir haben schließlich möglichst viele Traumbeschreibungen gelesen, ohne jedoch in ihnen zu finden, was wir suchten.“ Denn das von Halbwachs gesuchte Gedächtniskonzept grenzt sich scharf von ihm im psychoanalytischen Sinne ab. Aber mir scheint, dass die beiden Gedächtnistheoretiker gemeinsame Erkenntnisse über die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses haben. Andererseits ersieht man aus Halbwachs‘ Konzeptualisierung eine Möglichkeit, dass neue „Erinnerungskulturen“ entstehen. Dabei gilt es zu klären, ob man diese Möglichkeit als schöpferische Kraft des kollektiven Gedächtnisses bezeichnet und ob und inwieweit das Gedächtnis eigentlich ,kreativ‘ sein kann. Diesen Fragen will ich nachgehen und zugleich in Hinblick auf die Forschungsliteratur das Sektionsthema ergänzen.
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