Der Komplex von Gedächtnis und Erinnerung steht als kulturwissenschaftliches
Thema in der Sektion zur Diskussion. Das menschliche Gedächtnis
ist mehr oder weniger fiktiv, insofern man das Erinnerte als keine reine
Tatsache, sondern als rekonstruierte Vergangenheit bezeichnet. Das Erinnerte
unterliegt zeitlichen Wirkungen der Gegenwart, aber auch der Zukunft.
Denn bekanntlich beeinflusst eine Vorausschau auf die Zukunft den Akt
des Erinnerns, wie man etwa anhand einer Aussage eines Angeklagten,
der vor Gericht steht und einen kommenden Urteilsspruch fürchtet,
sieht. Das Gedächtnis ist eine so genannte Mischung von vergangenen,
gegenwärtigen und künftigen Phänomenen und deshalb ist
es als Datenträger zwar unzuverlässig, aber es hat schöpferische
Kraft.
Bei Gedächtniskonzepten geht es nicht nur um ein Individuum,
sondern auch um ein Kollektiv. Nach M. Halbwachs gibt es ein kollektives
Gedächtnis, das Leute in der Nähe, bzw. in ihren Gruppen als
erlebte Geschichte teilen und sich daher von einer einfach geschrieben
Geschichte unterscheidet. Solche Gruppen werden bei Halbwachs im Plural
konzeptualisiert. Wenn man jede davon als eine Kultur bezeichnet, bestehen
in diesem Sinne ‘Erinnerungskulturen’ (Astrid Erll). Ein
kollektives Gedächtnis kann als Gedächtnismedium zum festen
Objekt werden. Z.B. ist das zerstörte World Trade Zentrum in New
York, das A. Assmann als Denkmal des Terrorangriffs erwähnt, aus
dieser Sicht bedeutend.
Verschiedene Gegenstände – inklusive literarischer Werke
–, die als kulturelles Gedächtnis interessant sind, sollen
in dieser Sektion zur Debatte gestellt werden. In der Thematik der Fiktivität
bzw. Kreativität des Gedächtnisses hoffen wir auf Ihre Beiträge,
sowohl anhand von theoretischen als auch anhand von praktischen Beispielen
aus verschiedenen Kulturen.