Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007

<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive


 

Der Zerfall Jugoslawiens: „Ausnahmezustand als permanente Struktur“

Boris Previšić (Universität Basel, Deutsches Seminar) [BIO]

Email: b.previsic@bluewin.ch

 


 

ABSTRACT:

Im Homo sacer, der sich thematisch vor allem auf den Ausnahmezustand des Konzentrationslagers der Judenvernichtung bezieht, wird der aktuelle Bezug an drei Stellen zum Zerfall Jugoslawiens hergestellt. Zunächst verwundert dies natürlich nicht, schrieb doch Giorgio Agamben sein Buch anfangs der 90er Jahre, während der Krieg in Kroatien und Bosnien ganz Europa aufschreckte. Erstaunlich hingegen ist, mit welcher Vehemenz der Autor aufzeigt, dass es sich bei diesen kriegerischen Auseinandersetzungen um eine potenzierte Form des Ausnahmezustands im Vergleich zur Nazizeit handelt – und dies gerade in doppelter Weise:

  1. „Die staatliche Auflösung der traditionellen staatlichen Organismen“ ist „nicht als eine Wiederkehr des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand“ zu betrachten, „der das Vorspiel zu neuen sozialen Verträgen wäre; vielmehr ist es das Zutagetreten des Ausnahmezustands als permanente Struktur“. Es handelt sich „um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den neuen nómos der Erde ankündigen“.
  2. Diese Potenzierung zeigt sich im „Lager der ethnischen Vergewaltigung“, durch die sogar „die Einschreibung des Lebens in die Città“ scheitert. Agamben nennt sie „localizzazione dislocante“, eine völlig neuartige Matrix der Politik. Ihr Symbol sei „der Körper der bosnischen Frau von Omarska, ein perfektes Beispiel für die Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Biologie und Politik“.

Das spannendste Moment von Agambens Argumentation besteht nun darin, dass er den Zerfall Jugoslawiens nicht – wie üblicherweise in allen Medien kolportiert – als Rückfall, sondern als „vorwarnendes“ Ereignis und permanenter Ausnahmezustand festmacht. Auch aus historischer Distanz hat diese Analyse des noch heute im allgemeinen Diskurs euphemistisch definierten „Transitionsprozesses“ in Ex-Jugoslawien Seltenheitswert. Nichtsdestotrotz kann gerade in der Literatur aus dieser Region, welche den Verfall aus interner Perspektive beschreibt, eine Diskurslinie verfolgt werden, welche Agambens Argumentation beängstigend genau nachzeichnet.

Im Tagungsbeitrag werde ich nach einer genauen Situierung dieses neuartigen Ausnahmezustands im Homo sacer auf literarische Beispiele insbesondere von Dubravka Ugrešić und Slavenka Drakulić ausführlicher eingehen. Dadurch soll einerseits die Potenzierung des Ausnahmezustands in Form der Massenvergewaltigung, andererseits die Bedrohung durch den Ausnahmezustand „als permanente Struktur“ nachgezeichnet werden. Zusätzlich können aus dieser Perspektive auf den kriegerischen Zerfall von Jugoslawien alternative Modelle für den Frieden entwickelt werden: Gerade das antizipierende Moment dieses Konflikt lassen global inszenierte Konfliktlinien – als Stichworte seien nur „Clash of Civilization“ oder „9/11“ genannt – in einem neuen Licht erscheinen, in dem der permanente Ausnahmezustand auch wieder als Regel bedrohlich auftritt.

 


Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

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Wien, 6. bis 9. Dezember 2007