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<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Ausnahmezustand und Opferritual. Ein Vergleich zwischen René Girard, Carl Schmitt und Giorgio Agamben
Johannes Scheu (Universität Freiburg i.Br.) [BIO]
Email: johannesscheu@gmx.net
ABSTRACT:
Indem Giorgio Agamben die Figur des homo sacer zum Leitmotiv seiner Theorie des Ausnahmezustands deklariert, bezieht er die Sphäre des Religiösen zwar unmittelbar in sein Denken mit ein, schließt gleichzeitig jedoch einen Zusammenhang zwischen dem »heiligen Leben« und dem Phänomen des »Opfers« kategorisch aus. Diese von Agamben aufgezogene Kluft zwischen Ausnahme- und Opfertheorie täuscht allerdings über mitunter erhebliche strukturelle Analogien hinweg, die jenen Theoriefeldern bei aller Differenz gemeinsam sind.
Mittels eines Vergleichs zwischen der Opfertheorie René Girards einerseits und der Theorie des Ausnahmezustands von Carl Schmitt und Giorgio Agamben andererseits ist es Ziel des Vortrags, die wichtigsten Aspekte jener Strukturanalogie aufzuzeigen. In einem ersten Schritt wird die Begriffstrias »Naturzustand – Entscheidung – Ausnahmezustand«, wie sie sich bei Schmitt finden lässt, derjenigen von »Mimetischer Krise – Entscheidung – Opferritual« bei Girard gegenübergestellt. Beide Denker sehen den Ursprung von Ordnung aus einer eminenten Entscheidung hervorgehen; und im selben Maße, wie die verfestigte Regel laut Schmitt im Notfall »nur von der Ausnahme lebt«, kann Girard zufolge allein das Opferritual inmitten einer Ordnungskrise »regeln, was sich jeder Regel entzieht«.
Zwar existiert für Agamben spätestens mit Beginn der Moderne keine Ordnung mehr, in Bezug auf deren Erhalt der Ausnahmezustand – oder in Girardscher Analogie: das Ritual – als Letztinstanz die Aufgabe zugesprochen bekäme. Doch laufen Girard und Agamben auf einer anderen Analyseebene aufeinander zu. Nicht nur entwickelt Girard durch seinen Bezug auf das altgriechische Opfer des pharmamkos gleichsam eine »Ausnahmefigur«, die wie der homo sacer durch eine soziale Anomalie geprägt ist und außerhalb jeglicher Ordnung steht. Des Weiteren weist Girards Beschreibung der »Opferkrise« eine Struktur auf, die der Juxtaposition des homo sacer – seiner nichtopferbaren Tötbarkeit – aufs Äußerste gleicht. Denn wie die doppelte exceptio des heiligen Lebens, so versinnbildlicht auch die »Opferkrise« einen Zustand der Ausnahme, in dem auf profanes oder göttliches Recht sich zu berufen unmöglich geworden ist.
Durch die Gegenüberstellung der vorgestellten Autoren wird gezeigt, dass sich eine Theorie des Opfers und eine Theorie des Ausnahmezustands in einen analytisch fruchtbaren Zusammenhang bringen lassen. Ein Zusammenhang, der angesichts des mitunter erheblichen konzeptionellen Unterschieds zwischen dem Untersuchungsfeld der archaischen Religionen (Girard) einerseits und dem der politischen Souveränität (Schmitt/Agamben) andererseits umso signifikanter erscheint.
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