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<<< Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur
Die Faszination des nackten Lebens. Zur Semantik des Lagers bei Christian Kracht und Giorgio Agamben
Leander Scholz (Köln, Deutschland)
Email: l.scholz@uni-koeln.de
ABSTRACT:
Das chinesische Umerziehungslager, in dem der Protagonist aus Christian Krachts Roman 1979 nach einer langen Reise durch mehrere Länder und Kontinente ankommt, erscheint auf paradoxe Weise zugleich als ein locus terribilis und als ein locus amoenus. Befreit von jedem Entscheidungsdruck unter dem totalen Zugriff der Macht scheint das Lager als ein letzter idyllischer Ort auf, in dem das einfache Leben, das außerhalb desselben zunehmend unmöglich geworden ist, Zuflucht gefunden hat. Allabendlich sitzen die Insassen familiär zusammen und schnitzen Mao-Figuren, nachdem sie sich unter den drastischen Maßnahmen der Umerziehung von jeglicher Form der Innerlichkeit gereinigt haben. Was kein Versprechen von der Konsumgesellschaft bis zur religiös-revolutionären Verheißung geleistet hat, nämlich das Erlebnis einer Gemeinschaft, löst ausgerechnet die Lagererfahrung scheinbar problemlos ein. Auch in der politischen Philosophie Giorgio Agambens ist das Lager keineswegs bloß der grausamste Ort der Unmenschlichkeit, auf den die abendländische Geschichte von ihren griechischen Ursprüngen an zielsicher zusteuert, sondern auch der Ausgangspunkt für eine neue Politik der Gemeinschaft. Das nackte Leben, dessen Produktion und Exklusion für Agamben das Paradigma moderner Biopolitik darstellt, verheißt ein Leben in Gemeinschaft, gerade weil es sich allen Aufteilungen und Kategorisierungen der abendländischen Metaphysik entzieht. Der Vortrag will anhand einer Gegenlektüre von Krachts 1979 und Agambens Homo sacer die Faszinationen nachzeichnen, die von der Figur des nackten Lebens ausgehen, und die Resemantisierung des Lagers diskutieren, die damit als Ort einer paradoxen Sehnsucht nach Ganzheit einhergeht
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