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<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Ausnahmen als Normalität des Übergangs. „Semi-Barbaren“ als Regel des transitorischen Ausnahmezustands der römischen Spätantike in geschichtsphilosophischer Perspektive
Peter Seele (KWI Essen, Institute for Advanced Study in the Humanities) [BIO]
ABSTRACT:
Am 24. August 410 wurde Rom durch den Einbruch brandschatzender Goten unter der Führung des Königs Alarich und im Zuge der katastrophalen Niederlage zerstört. Dieses punktuelle Ereignis ist eingebettet in graduelle Transformationsprozesse. Exemplarisch wird diese philosophische Transformationstheorie belegt am dokumentierten Begriff der „Semi-Barbaren“. So ist der Untergang Roms nicht nur politisch und geostrategisch signifikant, sondern auch für die kulturelle Sinnstiftung. In den Worten Maiers wird Rom als „zeitliche Gestalt eines bestimmten geschichtlichen Raumes und Ablaufs, und als überzeitliche Form menschlicher Lebenshaltung und politischer Weltordnung“ (1955: 11) deutlich, wodurch die Einnahme Roms durch die Barbaren eine Zäsur bedeutet, durch die das Zeitalter der ‚Romideologie’ durch die Barbaren beendet wurde und somit der ‚geschichtliche Raum’ zu einem Ende kommt.
Um den Gradualismus dieses Prozesses darzustellen, soll der Begriff des „Semi-Barbaren“ vorgestellt werden. Valerio Manfredi (2003: 63) führt beispielhaft Stilicho an, der unter Theodosius Reichsfeldherr wurde, nachdem er sich im Kampf gegen die Goten (391–92) als besonders heldenhaft ausgezeichnet hatte. Ein ‚Halbbarbar’ war er aufgrund der Tatsache, dass er der Sohn eines Vandalen und einer Römerin war. Doch diese Tatsache ist nur eine Voraussetzung für den militärischen Erfolg Stilichos. Die Bedingung dafür war, dass der Zusammenfluss fremder Elemente im römischen Reich „so groß wurde, dass keine Assimilation mehr möglich war“, worauf der langsame Zusammenbruch der Strukturen begann: „Zuerst war das Heer, die tragende Stütze des Reiches, betroffen. Für einige Zeit blieben die Truppenführer noch Römer. Später machten einige besonders fähige und energische barbarische Führer Karriere bis zum Oberkommando“ (Manfredi 2003: 63). Der Hinweis auf die ‚Semibarbaren’ kann als Indikator für den Übergang angenommen werden, da in dieser Beschreibung eine ‚Halbheit’ zutage tritt, die als Kipppunkt fungieren kann, der in diesem Fall epochal zu nennen ist.
Analog zu den „Semi-Barbaren“ wird in dem Aufsatz der Begriff des ‚Semi-Römers’ eingeführt für diejenigen Römer (z. B. Salvian), die freiwillig - um den hohen Steuern zu entgehen - in die von Barbaren kontrollierten Territorien jenseits der Grenze des römischen Reichs gezogen sind. Diese Hybridisierung kultureller Identitäten in Zeiten massiven kulturellen Wandels folgt dem Ansatz Agambens wonach die Unterscheidung von Ausnahme und Regel, zwischen Innen und Außen lediglich zwei Seiten eines übergreifenden Prozesses realer Geschehnisse sind.
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