Ehrenschutz: Bundespräsident Dr. Heinz Fischer

KCTOS: Wissen, Kreativität und
Transformationen von Gesellschaften

Wien, 6. bis 9. Dezember 2007

<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive


 

Das Ghetto im Kontext der Shoah in der polnischen Literatur

Monika Tokarzewska (Universität Thorn) [BIO]

Email: monikat@uni.torun.pl

 


 

ABSTRACT:

Giorgio Agamben hat das Phänomen „Ausnahmezustand“ parallel neben dem homo sacer und dem Lager (Auschwitz) reflektiert. Zwar wird das Lager in der Studie Ausnahmezustand nicht mehr behandelt, doch gelten in Agambens Überlegungen der Muselmann als das auf die quasi ‚natürliche’ Nacktheit degradierte Leben und das Lager als vorbildlicher Ort der Anomie. Beides: nackte Natur und Anomie, stellen im Ausnahmezustand wesentliche Kategorien dar.

In meinem Beitrag möchte ich mich auf einen anderen Ausschnitt der Shoah-Wirklichkeit konzentrieren: auf das Ghetto. Da es im Kontext der Shoah meistens als Vorstufe des Vernichtungslagers gesehen wird, mag es auf den ersten Blick scheinen, dass es im Vergleich zu ‚Auschwitz’, also zum tatsächlichen anomischen Ausnahmezustand, zweitrangig sei. Ich glaube allerdings, dass eine solche Sicht irreführend ist – denn ab Frühjahr 1942, als die ‚Endlösung’ in Gang gesetzt wurde, gab es für die allermeisten Juden kein Leben, auch nicht als Muselmann im Lager, nach Abtransport aus dem Ghetto mehr; es kann also nicht als Vorstufe für etwas anderes als den (Gas)tod gelten. Darüber hinaus stellt das Ghetto ein Phänomen für sich dar. Im Gegensatz zum Lager wird hier – sowohl von den tatsächlichen Machthabern, als auch, aus Gründen der Hoffnung, von den gettoisierten Juden – ein mehr oder weniger ‚normales’, natürlich im Rahmen der neuen, durch die Deutschen bestimmten Ordnung, Leben vorgetäuscht. Es funktionieren die Judenräte, es gibt eine Polizei, Ämter und Arbeitsplätze, Kranken- und Kaffeehäuser. Alles ist jedoch von einer tiefen Ambivalenz bestimmt: der Judenrat hat Macht über Leben und Tod, zugleich ist er aber machtlos und kann keinen tatsächlichen Einfluss auf das Geschehen ausüben. Es gibt Verordnungen: es wird allerdings sowohl für Verstöße gegen sie, als auch für deren Nicht-Befolgung bestraft. Ein solcher Ausnahmezustand ist nicht ein Ort der Anomie im Sinne Agambens, sondern sein Ziel ist es, die Menschen an das permanente Fehlen einer Gesetzeslogik und an die allgegenwärtige Lebensgefahr zu gewöhnen. In einem noch breiteren Kontext spielt das Ghetto im Generalgouvernement die Rolle eines ‚Ausnahmeortes’. Hier sind fast alle Gettos geschlossen, von Mauern umgeben. Zugleich weiß der Rest der Gesellschaft genau, was sich dort abspielt. Eine Untersuchung dieses breiteren Kontextes bestätigt die These Agambens, dass der Ausnahmezustand nicht ein ‚Außen’ des Systems ist, sondern in dessen Innern seine Funktion ausübt: als Instrument des Abschreckens oder auch der Einbindung der Polen in die Ausbeutung der Schwächsten.

 


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