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<<< Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Migration als Leben in permanentem Ausnahmezustand. Zu Terézia Moras Roman Alle Tage
Christine Wilhelm (Universität Bayreuth, Internationales Promotionsprogramm „Kulturbegegnungen“) [BIO]
Email: chr.wilhelm@yahoo.de
ABSTRACT:
„Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand dieser Welt. Alles mal die unbekannte Größe P.“, heißt es in Terézia Moras Roman Alle Tage (2004). In dem so benannten Ausnahmezustand treffen wir auf den Helden des Romans, den vor einem drohenden Bürgerkrieg in seiner osteuropäischen Heimat in eine westeuropäische Metropole geflüchteten Übersetzer Abel Nema. Die erzählte Welt, die die Welt des (westeuropäischen) Lesers ist, erscheint - aus der Perspektive des Migranten Abel geschildert - zutiefst befremdlich, wie in einem permanenten Ausnahmezustand befindlich: Sie stellt ein Labyrinth dar, in dem sich Abel immer wieder verläuft, eine Erfahrung, die der Leser mit ihm teilt, da er seinerseits in der zyklischen Struktur des Romans die Orientierung verliert. Dass der Verlust von Orientierung ein zentrales Merkmal des Ausnahmezustandes ist, äußert sich weiterhin darin, dass Wahrheit zu kennen in Alle Tage unmöglich ist. Weder können die anderen Figuren der histoire die permanent angezweifelte Wahrheit über Abel erfahren, noch kann der Leser aus dem Stimmengewirr des Romans eine zuverlässige Wahrheit herauslesen. Die alle Ebenen des Textes dominierende ontologische Unsicherheit macht jegliche Form von Orientierung zunichte.
Innerhalb dieses allgemeinen Ausnahmezustandes erlebt Abel gleich einer mise en abyme weitere Zwischenzustände wie Rausch, Delirium und Panikattacken; Ausnahmezustände im Ausnahmezustand sozusagen. Sie signalisieren, dass hier nicht nur Ausnahme und Regel ineinander übergehen, sondern die Ausnahme gänzlich zur Regel wird. Dies verdeutlicht zudem der Romantitel Alle Tage, der Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Gedicht entliehen ist, in dem es heißt: „Das Unerhörte ist alltäglich geworden.“ Schließlich wird der Ausnahmezustand derart zum Normalzustand, dass dies am Ende des Romans nicht einmal mehr artikuliert werden kann: „Panik ist nicht ---, Panik ist ---.“
Der in Alle Tage geschilderte Ausnahmezustand ist der des Migranten, denn das Leben der displaced person stellt eine oft genug zur Dauer werdende Übergangslösung dar, sei es das Warten auf den Erhalt der „richtigen“ Papiere, sei es das Ersehnen der Rückkehr in die Heimat. Beunruhigend ist Moras Roman insofern, als die Figur Abels sich nicht darauf beschränkt, Migrant zu sein, sondern vielmehr metaphorisch für den Menschen an sich steht. Dieser ist seit der Vertreibung aus dem Paradies ein Fremder in der Welt; der Ausnahmezustand wird so zur allgemein menschlichen Erfahrung.
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