Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion II: Transformation alter wissenschaftlicher Institutionen

Section II:
Transformation of Old Scientific Institutions

Section II:
Transformation dans les anciennes institutions scientifiques


Michael Werner (Paris)
Die derzeitige Transformation der Philologien

Die Philologien sind heute weltweit in einem tiefgreifenden Mutationsprozess begriffen, den es genauer zu analysieren gilt. Der folgende Beitrag gibt zunächst einen kurzen historischen Überblick, bevor einige aktuelle Fragen aufgegriffen werden.

I.

Die Philologien haben sich in den europäischen Ländern Anfang des 19. Jahrhunderts ausgebildet. Unter Führung der klassischen Philologie verstanden sie sich zugleich als Literaturkritik, als historische Textwissenschaft und als allgemeine Kulturwissenschaft. Bedeutsam wurde einerseits die Trennung von Klassischer Philologie und modernen Nationalphilologien, andererseits das Auseinandertreten von Literaturgeschichte, Textphilologie und Literaturkritik. Parallel dazu verlief die Professionalisierungsbewegung, in deren Verlauf akademische und ausserakademische Beschäftigung mit Literatur getrennt wurden. Ein weiteres wichtiges Merkmal war die Verbindung der Philologien zur Sprachwissenschaft. Beschäftigung vor allem mit der historischen Dimension von Sprache gehörte lange Zeit zum Curriculum philologischer Ausbildung. Schließlich ist auf die besondere Rolle der Philologien als Lehrfach des Sekundarunterrichts zu verweisen. Wie wenige andere Fächer verkörperten klassische und moderne Philologie das enge Band von Gymnasium und Universität bzw. ihren spezifischen nationalen Varianten.

Die große Epoche der modernen Philologien war die der Ausbildung und "Verwaltung" der nationalen Literaturkanons. Hier fielen ihnen entscheidende Funktionen im nationalen Metabolismus zu. Mehr als Musik, bildende Künste und Architektur nahm die Literatur die Rolle einer nationalen kulturellen Praxis ein. In ihr war, vermittelt durch die alten Epen, Sagen, Märchen und Geschichten, angeblich das Wesen der Nation überliefert und Gestalt geworden. Als historische Textwissenschaft bestand eine der Funktionen von Philologie darin, die kanonischen Werke in wissenschaftlichen Editionen (historisch-kritische Ausgaben) zu überliefern und zu sichern (damit auch zu aktualisieren).

Die Entwicklung der Philologien in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwankt zwischen Spezialisierung und Integrierung neuer Untersuchungsfelder. Zugleich waren sie in verschiedenem Ausmaß in die übergreifenden, z. T. theoriegerichteten Bewegungen involviert, die mehrere Kulturwissenschaften durchliefen: Historismus, Geistesgeschichte, Stukturalismus, Formalismus, Semiotik, nouvelle critique, New Historicism usw. Heute sind sie vor eine Reihe von spezifischen Herausforderungen gestellt, deren wichtigste im folgenden kurz skizziert werden sollen.

II.

  1. Mit der Entwicklung der neuen Medien hat die Literatur ihre kulturelle Leitfunktion eingebüßt. Auf Film und Radio hat die Literaturwissenschaft erst mit großer Verspätung reagiert. Vielfach hat sie die Spezifizität dieser Medien nur mit Einschränkungen wahrgenommen und ihre Produktionen zunächst als Texte interpretiert. Die rasante Verbreitung des Fernsehens und der neuen Informationsmedien hat eine Situation geschaffen, in der die Philologien nicht mehr mit ihrem traditionellen Instrumentarium arbeiten können. Das trifft sowohl für die Analyse der Medienproduktion wie die der Rezeption bzw. Konsumption zu. Die Benutzer der neuen Medien sind kaum noch mit den früheren Lesern zu vergleichen. Sie sind zugleich aktiver und ungeduldiger bzw. wählerischer. Die Frage, ob sich die Literaturwissenschaften in Medienwissenschaften zu verwandeln haben, soll hier nicht prinzipiell mit ja oder nein beantwortet werden. Doch scheint zumindest soviel klar, dass sich die Philologien in grösserem Umfang den neuen Medien öffnen müssen, wenn sie nicht zu sogenannten "kleinen" Fächern heruntergestuft werden wollen.
     
  2. Spätestens im Zeitalter der Globalisierung ist klar geworden, dass wir an einem Punkt angelangt sind, wo die Existenz der Nationalliteraturen fraglich geworden ist. Freilich wäre hier zu differenzieren. In den europäischen bzw. nordatlantischen Ländern trifft die Feststellung vom Ende der alten Nationalliteraturen weitgehend zu. Der klassische Literaturkanon wird nur noch eingeschränkt tradiert. In vielen Fällen ist er historisch geworden und hat seine normative Funktion eingebüßt. Die zeitgenössische Literatur ist in vieler Hinsicht internationalisiert. In den Literaturen der früheren Kolonialmächte kommen entscheidende Impulse von Autoren aus ehemaligen Kolonien oder überseeischen Landesteilen. Englisch-, französisch- und spanischsprachige Literaturen sind nicht mehr national zu definieren. Auf der anderen Seite kann Literatur in "jungen" Nationen durchaus noch eine nationale, identitätsstiftende Rolle übernehmen. Selbst dort steht sie indessen in Konkurrenz zu anderen Medien, etwa dem Film. Insgesamt ist der Trend zur Internationalisierung - oder auch Regionalisierung - von Literatur unaufhaltsam. Die Konsequenzen daraus für die meist in nationalen Institutionen betriebene Philologie sind noch nicht abzusehen.
     
  3. Mit dem Ende der Nationalphilologien hängt auch zusammen, dass die Philologien ihr Erklärungsmonopol für fremde Hochkulturen verloren haben. Sinologie, Indologie, Arabistik, Romanistik, Anglistik, Slawistik usw. waren zunächst philologisch fundierte Wissenschaften. Die Kenntnis von Sprache und Literatur galt als Voraussetzung für die kompetente Beschäftigung mit einer fremden Kultur. Inzwischen haben die Sozialwissenschaften eigene Legitimationen im Zugang zu fremden Gesellschaften entwickelt und durchgesetzt. Das ist nicht nur eine Frage der Spezialisierung und Differenzierung des Analyseinstrumentariums, sondern auch der Erweiterung des Blickfelds. Die derzeitigen Probleme dieser Gesellschaften sind mit philologischen Kompetenzen kaum adäquat zu analysieren. Da überdies auch die Sozialwissenschaften reflexive Sichtweisen entwickelt haben, die die Relativität der wissenschaftlichen Konzepte berücksichtigen, können die philologischen Disziplinen auch kein hermeneutischens Monopol mehr in der Erklärung des "Fremden" beanspruchen.

III.

Die kurz angedeuteten Entwicklungen, welche die traditionelle Basis der Philologien bedrohen, eröffnen auf der anderen Seite aber auch eine Reihe von neuen Möglichkeiten. Auch hier beschränke ich mich auf drei Punkte, die mir besonders aufschlussreich erscheinen:

  1. Der linguistic turn der Sozialwissenschaften hat die literarische Dimension der Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen in einer Reihe von Fächern offen gelegt. Mehr noch: In Disziplinen, die wie Geschichte, Ethnologie, Kunstwissenschaften usw. narrative Elemente in ihren Publikationen verwenden, besitzt die literarische Darstellung nicht nur formale, sondern auch heuristische Qualitäten. Ohne Geschichtswissenschaften oder Soziologie auf "Literatur" reduzieren zu wollen und die Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse in Frage zu stellen, ist festzuhalten, dass die Literaturwissenschaft für die Analyse dieser Vorgänge besser gerüstet ist, als die betroffenen Fächer. Der Philologe vermag die Verfahrensweisen narrativer Geschichtsschreibung und ihre Effekte in der Regel genauer unter die Lupe zu nehmen als der Historiker. Ebenso scheint die hermeneutische Dimension ethnologischer Praxis ein Gebiet, das Literaturwissenschaftler mit Erfolg bearbeiten könnten. Schließlich ist auf das Problem der Beschreibung zu verweisen, mit dem alle Sozial- und Kulturwissenschaften konfrontiert sind und zu dessen Bearbeitung Literaturwissenschaftler besonders qualifiziert sind.
     
  2. Die Auflösung des traditionellen Literaturbegriffs führt zu einer enormen Erweiterung des Gegenstandsbereichs von Philologie. Themen wie z.B. Erinnerung und Gedächtnis, Tradition und Überlieferung, das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Gefühlskulturen, Physiognomik, Identitätsaufbau und -vermittlung, Kulturtransfer und Akkulturation - um nur einige zu nennen - wurden in den letzten Jahren von Literaturwissenschaftlern und Philologen mit Erfolg aufgegriffen. Sie zeigen, dass zahlreiche Literaturwissenschaftler die Chance der derzeitigen Krise genutzt haben, um neue Ufer zu erkunden. Viele dieser neuen Themenhängen mit einer Entwicklung zusammen, die man als Anthropologisierung der Sichtweisen auf Literatur bezeichnen kann.
     
  3. Damit ist angedeutet, dass die Philologien bei dem Aufbau einer neuen Kulturwissenschaft eine besondere Rolle zu spielen berufen sind. Zusammen mit Vertretern anderer Fächer, die dieser Entwicklung aufgeschlossen gegenüber stehen, geht es um die Begründung einer differenzierten Betrachtung der Kulturen, die in ihrer Diversität, Vielfalt und Eigengesetzlichkeit zu untersuchen sind. Dabei können die Literaturwissenschaftler zum einen an die alte integrative Funktion von Philologie anknüpfen. Schon immer ging es dem universalistisch eingestellten Philologen um ein globales Verständnis von Kultur, in das eine Vielzahl von Wissenkomponenten und Kompetenzen eingehen sollten. Als Wissenschaft von der Erkenntnis des Erkannten (cognitio cogniti, A. Boeckh) besitzt sie von Anfang an die nötige reflexive Einstellung und bezieht prinzipiell alle Wissensgebiete in ihr Untersuchungsfeld ein. Zum anderen verfügen Philologen über ein besonders differenziertes Instrumentarium kritischer und hermeneutischer Methoden, die der Analyse kultureller Prozesse zugute kommen können. Auch ihr historisches Bewusstsein wird eine wichtiger Bestandteil der neuen Kulturwissenschaften sein. Schließlich müsste Philologie als Wissenschaft der Entwicklung von Wissen und Kultur gegen die Essentialisierungstendenzen gewappnet sein, die Kultur als invariante Systeme festschreiben möchten. Sie ist im Gegenteil aufmerksam für die Veränderbarkeit und den Prozesscharakter von Kultur.



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