Die derzeitige Transformation
der Philologien
Die Philologien sind heute weltweit in einem
tiefgreifenden Mutationsprozess begriffen, den es genauer zu analysieren
gilt. Der folgende Beitrag gibt zunächst einen kurzen historischen
Überblick, bevor einige aktuelle Fragen aufgegriffen werden.
I.
Die Philologien haben sich in den europäischen
Ländern Anfang des 19. Jahrhunderts ausgebildet. Unter Führung
der klassischen Philologie verstanden sie sich zugleich als Literaturkritik,
als historische Textwissenschaft und als allgemeine Kulturwissenschaft.
Bedeutsam wurde einerseits die Trennung von Klassischer Philologie
und modernen Nationalphilologien, andererseits das Auseinandertreten
von Literaturgeschichte, Textphilologie und Literaturkritik. Parallel
dazu verlief die Professionalisierungsbewegung, in deren Verlauf
akademische und ausserakademische Beschäftigung mit Literatur
getrennt wurden. Ein weiteres wichtiges Merkmal war die Verbindung
der Philologien zur Sprachwissenschaft. Beschäftigung vor
allem mit der historischen Dimension von Sprache gehörte
lange Zeit zum Curriculum philologischer Ausbildung. Schließlich
ist auf die besondere Rolle der Philologien als Lehrfach des Sekundarunterrichts
zu verweisen. Wie wenige andere Fächer verkörperten
klassische und moderne Philologie das enge Band von Gymnasium
und Universität bzw. ihren spezifischen nationalen Varianten.
Die große Epoche der modernen Philologien
war die der Ausbildung und "Verwaltung" der nationalen
Literaturkanons. Hier fielen ihnen entscheidende Funktionen im
nationalen Metabolismus zu. Mehr als Musik, bildende Künste
und Architektur nahm die Literatur die Rolle einer nationalen
kulturellen Praxis ein. In ihr war, vermittelt durch die alten
Epen, Sagen, Märchen und Geschichten, angeblich das Wesen
der Nation überliefert und Gestalt geworden. Als historische
Textwissenschaft bestand eine der Funktionen von Philologie darin,
die kanonischen Werke in wissenschaftlichen Editionen (historisch-kritische
Ausgaben) zu überliefern und zu sichern (damit auch zu aktualisieren).
Die Entwicklung der Philologien in der zweiten
Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
schwankt zwischen Spezialisierung und Integrierung neuer Untersuchungsfelder.
Zugleich waren sie in verschiedenem Ausmaß in die übergreifenden,
z. T. theoriegerichteten Bewegungen involviert, die mehrere Kulturwissenschaften
durchliefen: Historismus, Geistesgeschichte, Stukturalismus, Formalismus,
Semiotik, nouvelle critique, New Historicism usw. Heute sind sie
vor eine Reihe von spezifischen Herausforderungen gestellt, deren
wichtigste im folgenden kurz skizziert werden sollen.
II.
- Mit der Entwicklung der neuen Medien hat
die Literatur ihre kulturelle Leitfunktion eingebüßt.
Auf Film und Radio hat die Literaturwissenschaft erst mit großer
Verspätung reagiert. Vielfach hat sie die Spezifizität
dieser Medien nur mit Einschränkungen wahrgenommen und ihre
Produktionen zunächst als Texte interpretiert. Die rasante
Verbreitung des Fernsehens und der neuen Informationsmedien hat
eine Situation geschaffen, in der die Philologien nicht mehr
mit ihrem traditionellen Instrumentarium arbeiten können.
Das trifft sowohl für die Analyse der Medienproduktion wie
die der Rezeption bzw. Konsumption zu. Die Benutzer der neuen
Medien sind kaum noch mit den früheren Lesern zu vergleichen.
Sie sind zugleich aktiver und ungeduldiger bzw. wählerischer.
Die Frage, ob sich die Literaturwissenschaften in Medienwissenschaften
zu verwandeln haben, soll hier nicht prinzipiell mit ja oder
nein beantwortet werden. Doch scheint zumindest soviel klar,
dass sich die Philologien in grösserem Umfang den neuen
Medien öffnen müssen, wenn sie nicht zu sogenannten
"kleinen" Fächern heruntergestuft werden wollen.
- Spätestens im Zeitalter der Globalisierung
ist klar geworden, dass wir an einem Punkt angelangt sind, wo
die Existenz der Nationalliteraturen fraglich geworden ist. Freilich
wäre hier zu differenzieren. In den europäischen bzw.
nordatlantischen Ländern trifft die Feststellung vom Ende
der alten Nationalliteraturen weitgehend zu. Der klassische Literaturkanon
wird nur noch eingeschränkt tradiert. In vielen Fällen
ist er historisch geworden und hat seine normative Funktion eingebüßt.
Die zeitgenössische Literatur ist in vieler Hinsicht internationalisiert.
In den Literaturen der früheren Kolonialmächte kommen
entscheidende Impulse von Autoren aus ehemaligen Kolonien oder
überseeischen Landesteilen. Englisch-, französisch-
und spanischsprachige Literaturen sind nicht mehr national zu
definieren. Auf der anderen Seite kann Literatur in "jungen"
Nationen durchaus noch eine nationale, identitätsstiftende
Rolle übernehmen. Selbst dort steht sie indessen in Konkurrenz
zu anderen Medien, etwa dem Film. Insgesamt ist der Trend zur
Internationalisierung - oder auch Regionalisierung - von Literatur
unaufhaltsam. Die Konsequenzen daraus für die meist in nationalen
Institutionen betriebene Philologie sind noch nicht abzusehen.
- Mit dem Ende der Nationalphilologien hängt
auch zusammen, dass die Philologien ihr Erklärungsmonopol
für fremde Hochkulturen verloren haben. Sinologie, Indologie,
Arabistik, Romanistik, Anglistik, Slawistik usw. waren zunächst
philologisch fundierte Wissenschaften. Die Kenntnis von Sprache
und Literatur galt als Voraussetzung für die kompetente
Beschäftigung mit einer fremden Kultur. Inzwischen haben
die Sozialwissenschaften eigene Legitimationen im Zugang zu fremden
Gesellschaften entwickelt und durchgesetzt. Das ist nicht nur
eine Frage der Spezialisierung und Differenzierung des Analyseinstrumentariums,
sondern auch der Erweiterung des Blickfelds. Die derzeitigen
Probleme dieser Gesellschaften sind mit philologischen Kompetenzen
kaum adäquat zu analysieren. Da überdies auch die Sozialwissenschaften
reflexive Sichtweisen entwickelt haben, die die Relativität
der wissenschaftlichen Konzepte berücksichtigen, können
die philologischen Disziplinen auch kein hermeneutischens Monopol
mehr in der Erklärung des "Fremden" beanspruchen.
III.
Die kurz angedeuteten Entwicklungen, welche
die traditionelle Basis der Philologien bedrohen, eröffnen
auf der anderen Seite aber auch eine Reihe von neuen Möglichkeiten.
Auch hier beschränke ich mich auf drei Punkte, die mir besonders
aufschlussreich erscheinen:
- Der linguistic turn der Sozialwissenschaften
hat die literarische Dimension der Darstellung von wissenschaftlichen
Ergebnissen in einer Reihe von Fächern offen gelegt. Mehr
noch: In Disziplinen, die wie Geschichte, Ethnologie, Kunstwissenschaften
usw. narrative Elemente in ihren Publikationen verwenden, besitzt
die literarische Darstellung nicht nur formale, sondern auch
heuristische Qualitäten. Ohne Geschichtswissenschaften oder
Soziologie auf "Literatur" reduzieren zu wollen und
die Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse in Frage zu stellen, ist
festzuhalten, dass die Literaturwissenschaft für die Analyse
dieser Vorgänge besser gerüstet ist, als die betroffenen
Fächer. Der Philologe vermag die Verfahrensweisen narrativer
Geschichtsschreibung und ihre Effekte in der Regel genauer unter
die Lupe zu nehmen als der Historiker. Ebenso scheint die hermeneutische
Dimension ethnologischer Praxis ein Gebiet, das Literaturwissenschaftler
mit Erfolg bearbeiten könnten. Schließlich ist auf
das Problem der Beschreibung zu verweisen, mit dem alle Sozial-
und Kulturwissenschaften konfrontiert sind und zu dessen Bearbeitung
Literaturwissenschaftler besonders qualifiziert sind.
- Die Auflösung des traditionellen
Literaturbegriffs führt zu einer enormen Erweiterung des
Gegenstandsbereichs von Philologie. Themen wie z.B. Erinnerung
und Gedächtnis, Tradition und Überlieferung, das Verhältnis
von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Gefühlskulturen,
Physiognomik, Identitätsaufbau und -vermittlung, Kulturtransfer
und Akkulturation - um nur einige zu nennen - wurden in den letzten
Jahren von Literaturwissenschaftlern und Philologen mit Erfolg
aufgegriffen. Sie zeigen, dass zahlreiche Literaturwissenschaftler
die Chance der derzeitigen Krise genutzt haben, um neue Ufer
zu erkunden. Viele dieser neuen Themenhängen mit einer Entwicklung
zusammen, die man als Anthropologisierung der Sichtweisen auf
Literatur bezeichnen kann.
- Damit ist angedeutet, dass die Philologien
bei dem Aufbau einer neuen Kulturwissenschaft eine besondere
Rolle zu spielen berufen sind. Zusammen mit Vertretern anderer
Fächer, die dieser Entwicklung aufgeschlossen gegenüber
stehen, geht es um die Begründung einer differenzierten
Betrachtung der Kulturen, die in ihrer Diversität, Vielfalt
und Eigengesetzlichkeit zu untersuchen sind. Dabei können
die Literaturwissenschaftler zum einen an die alte integrative
Funktion von Philologie anknüpfen. Schon immer ging es dem
universalistisch eingestellten Philologen um ein globales Verständnis
von Kultur, in das eine Vielzahl von Wissenkomponenten und Kompetenzen
eingehen sollten. Als Wissenschaft von der Erkenntnis des Erkannten
(cognitio cogniti, A. Boeckh) besitzt sie von Anfang an die nötige
reflexive Einstellung und bezieht prinzipiell alle Wissensgebiete
in ihr Untersuchungsfeld ein. Zum anderen verfügen Philologen
über ein besonders differenziertes Instrumentarium kritischer
und hermeneutischer Methoden, die der Analyse kultureller Prozesse
zugute kommen können. Auch ihr historisches Bewusstsein
wird eine wichtiger Bestandteil der neuen Kulturwissenschaften
sein. Schließlich müsste Philologie als Wissenschaft
der Entwicklung von Wissen und Kultur gegen die Essentialisierungstendenzen
gewappnet sein, die Kultur als invariante Systeme festschreiben
möchten. Sie ist im Gegenteil aufmerksam für die Veränderbarkeit
und den Prozesscharakter von Kultur.
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