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Sektion VI: | Kunst und "Globalisierung" | |
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The Arts and "Globalisation" | |
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Art et "globalisation" |
Nevzat Kaya (Izmir) |
Die Stadt Istanbul, wie sie dem Leser in Orhan Pamuks Romanen entgegentritt, weist Ähnlichkeiten mit Alfred Kubins "Perle" auf, es handelt sich um einen hermetischen Ort der Wandlung bzw. der Verwandlung. Unvereinbares wird in bizarrer Manier aneinandergefügt, Persönlichkeiten werden wie Hemden gewechselt und ähnlich wie im Wien der Jahrhundertwende erweist sich das Ich als unrettbar. Istanbul ist mit diesen Eigenschaften die Hauptstadt der postmodernen Décadence: sie erweist sich als ein ergiebiges, mit den widersprüchlichsten Ingredienzen ausgestattetes Laboratorium, welche dann Orhan Pamuk in intertextueller Manier aneinanderheftet.
Daß Istanbul die Domäne Venedigs als Stadt des Untergangs und der Läuterung übernommen hat, dürfte seit dem italienisch-türkischen Film "Hamam - Das türkische Bad" einsichtig geworden sein. Venedigs Rätsel sind gelüftet, es handelt sich um eine verkommene Touristenmetropole. Istanbuls postmoderne "Venedigisierung" zeugt widersprüchlicherweise von der Europäisierung dieser Stadt: was wäre denn Europa wenigstens ohne eine hermetische Stadt, die genauso wie das fin de siècle-Venedig Orient und Okzident vereint? Der Bosporus stellt sich als der Zerberus, d.h. als der groteske Hüter der letzten öst-westlichen Begegnung heraus. Denn die Istanbuler Version der Apokalypse, nämlich die Austrocknung des Bosporus, fördert diese Bizarrerien an das Tageslicht. Es wird u. a. erschrocken bemerkt, "daß die Gebeine der Kreuzritter samt ihrer miesmuschelbedeckten Symbole und Waffen den direkt daneben stehenden schwarzen Cadillac bewachen."(1) Diesem visuellen Panoptikum ist in literarischer Hinsicht das Register der literarischen Tradition von "Dostojewski, Ibn Tufeyl, Daniel Defoe, Veliyyüddin Efendi, Kant"(2) bis zu "E.T.A. Hoffmann"(3) an die Seite zu stellen.
Istanbul erweist sich als der labyrinthische Hort der Weltkultur, in welcher die Protagonisten Pamuks - ähnlich wie Hans Castorp in zauberbergschen Schneegefilden oder Franz Biberkopf in Berlin - "umkommen". Depersonalisation gehört hier zur Tagesordnung, Altbekanntes bekommt einen fremden Zug und bei Fremdem scheint es sich um Althergebrachtes zu handeln.
Der Diskurs des Hodschas aus dem Roman "Die weiße Festung" weist einen europäisch-exotistischen Diskurs auf, wenn er von den Europäern als den "Anderen" spricht, ironisch überspitzt durch das Vorhaben des versklavten Venezianers, der nach seiner Freilassung ein Buch über die Türken schreiben will. Die Konfusion ist komplett, da der Roman aus der Perspektive des Europäers wiedergegeben wird. Aber die west-östlichen Dioskuren werden eines Besseren belehrt. In ihrer Doppelgängereigenschaft manifestiert sich auch die Austauschbarkeit von Venedig und Istanbul, und dieses Thema zieht sich leitmotivisch durch den Roman "Die weiße Festung". Am Ende des Romans ist es sehr schwer zu durchschauen, wer wer ist: der Hodscha scheint zum Venezianer mutiert und nach Italien gegangen zu sein, der Venezianer verbringt den Rest seines Lebens in der Nähe von Istanbul - in seiner Eigenschaft als Hodscha: ein gelungenes multikulturelles Experiment, wie es scheint. Worin liegt der Mechanismus des reibungslosen Gelingens dieses besagten Experiments? Das Neue entpuppt sich wieder einmal als das ganz Alte: der Osten lockert die festen Bande der Persönlichkeit, der Westen führt gezwungenermaßen zur Ausbildung einer Persönlichkeit. Der Venezianer gibt seine ganze individuelle Vergangenheit auf und wird zum anonymen Hodscha, er macht eine Entindividualisierung durch; im Gegensatz zum Hodscha, der gemäß der Dekadenztheorie von Paul Bourget dem selbständig werdenden Teilchen innerhalb eines Ganzen entspricht: er formiert sich, animiert von dem Venezianer, eine "westliche" Persönlichkeit.
In seinem Roman "Das schwarze Buch" löst Orhan Pamuk die Ost-West-Polarisation in einem ironischen Nichts auf:
"Das Gerede von den Werken, die der Orient vom Okzident oder der Okzident vom Orient gestohlen haben soll, führt mich stets zu folgenden Gedanken: Wenn das von uns die Welt genannte Reich der Träume ein Haus wäre, durch dessen Tür wir wie Traumwandler hineinstolpern, dann läßt sich alles Schrifttum mit Wanduhren vergleichen, die in den Räumen dieses Hauses hängen, an das wir uns gewöhnen möchten."(4)
Diese Ironie richtet sich letztenendes doch gegen westliche Eitelkeit, wenn behauptet wird, daß z.B. Ibn Tufeyl 600 Jahre vor Defoe eine Robinsonade niedergeschrieben hat.(5) Das Tor zu diesen "Austauschbarkeiten" und relativierenden Perspektiven bildet jedoch die magische Pforte Istanbul. Vor allem "Das schwarze Buch" ist auch unter die Sparte "Großstadtroman" einzuordnen: die Stadt erweist sich als eine Enzyklopädie, aus welcher das Romangeschehen schöpft; eine Bezüglichkeit rührt auf intertextuelle Weise leitmotivisch an eine andere; somit stellt sich der Romanschauplatz als das Haus heraus, in welche die Träumer hineinstolpern. Davon zeugen auch die Epigraphien, welche jedem Kapitel vorangestellt sind: das erste einleitende Hauptepigraph ist aus der Enzyklopädie des Islam, das letzte ist von Edgar Allan Poe. Edgar Allan Poe steht auch für das verfallende, die Persönlichkeit bildende, einzige "Ich". In "Die weiße Festung" kommt die Furcht des Venezianers, lebendig begraben zu werden, welche eines der Hauptmotive bei Poe bildet, zum Ausdruck, jedoch unter dem Vorzeichen der Depersonalisation:
"So beschrieb ich die Ängste einer nicht enden wollenden, schlaflosen Nacht, das Gefühl der Nähe zu einem Jugendfreund durch die gemeinsam erlangte Fähigkeit, im gleichen Augenblick das gleiche zu denken, erzählte von seinem späteren Tod und meiner grauenhaften Furcht, womöglich auch für tot gehalten und mit ihm bei lebendigem Leibe begraben zu werden."(6)
Somit werden nicht nur die Persönlichkeiten ausgetauscht, sondern auch indirekt die Schicksale der betreffenden Personen werden austauschbar. Wie jedoch Galip in "Das schwarze Buch" sich wie im Traum selbst "sehen" kann,(7) handelt es sich bei dem Jugendfreund des Venezianers höchstwahrscheinlich um sich selbst bzw. sein alter Ego.
Stilistisch erweist sich das ganz alte "Neue" jedoch als eine gekonnte Pastiche-Montage, die ihre Überzeugungskraft aus der gekonnten Zusammensetzung schöpft: eine Technik, der sich auch Patrick Süskind in seinem Roman "Das Parfum" bedient hat. Ein wichtiger Unterschied zu Süskind besteht jedoch in der Tatsache, daß die Pastiches nicht nur aus westlichem Gedankengut schöpfen, sondern auch orientalischen Ursprungs sind. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist es unerläßlich, die Fortsetzung des oben erwähnten Zitats mit den Uhren in dem "Weltenhaus" der träumenden Menschen zu zitieren. Sie erweist sich somit als verkappte romantische Ironie hinsichtlich der literarischen Vorgehensweise Pamuks:
"Demnach ist es
1. unsinnig zu sagen, eine der in den Zimmern des Traumhauses tickenden Uhren gehe richtig oder falsch;
2. auch unsinnig zu sagen, eine der Uhren in den Zimmern gehe, im Gegensatz zu den anderen, fünf Stunden vor, denn mit gleicher Logik könnte man daraus schließen, sie gehe sieben Stunden nach;
3. und ebenso unsinnig, wenn eine Uhr im Hause fünfunddreißig Minuten nach neun zeigt, nachdem irgendwann vorher eine andere Uhr ebenfalls fünfunddreißig Minuten nach neun gezeigt hatte, daraus zu folgern, daß die zweite die erste Uhr nachahmen würde."(8)
Mit dieser fast schon literartheoretisch zu nennenden Äußerung verwehrt sich Pamuk jegliche Kritik, deutet er doch damit an, daß die Literatur der Postmoderne anders gar nicht "funktionieren" kann: der Literat stellt sich als "Jäger" heraus, je größer sein Jagdrevier desto mannigfaltiger kann er umso mehr "Uhren" stellen. Als größte Handlangerin und Komplizin Pamuks erweist sich somit Istanbul, die Stadt zwischen Orient und Okzident. Dieser Schauplatz ermöglicht es ihm, die Register von arabischen Philosophen über deutsche Romantiker bis hin zu französischen Décadents zu ziehen: wo anders noch könnten Kreuzritterskelette Chevrolets bewachen? An dem Ort, wo es die meisten Nuancen zwischen schwarz und weiß gibt...
ANMERKUNGEN
1 | Orhan Pamuk: Das schwarze Buch, Frankfurt a. M., 1997, S. 27. |
2 | Gürsel Aytaç: Çadap Türk Romanlary Üzerine Yncelemeler, Ankara, 1999, S. 326. |
3 | Orhan Pamuk: Beyaz Kale Üzerine, in: Beyaz Kale, Istanbul, 1993, S. 187. |
4 | Anm. 1, S. 171. |
5 | Ebd., S. 172. |
6 | Orhan Pamuk: Die weiße Festung, Frankfurt a. M., 1995, S. 80. |
7 | vgl. Anm. 1, S. 125-135 ("Das Auge") |
8 | ebd., S. 171. |
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