Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VII: "Interkultureller" Austausch, transkulturelle Prozesse und Kulturwissenschaften

Section VII:
"Intercultural" Exchange, Transcultural Processes and Cultural Studies

Section VII:
Echange interculturel, processus transculturel et études culturelles


Eszter Kisery (Debrecen)
Interkulturalität als Lebensform (Emil Szittya)

 

Es gibt zahlreiche Formen "der kulturellen Interferenz, Mehrsprachlichkeit, interliterarischen Kontakt- und Austauschbeziehungen in den südöstlichen Gebieten des habsburgischen Vielvölkerreiches, der österreichisch-ungarischen Monarchie und in deren Nachfolgestaaten" - schreiben Antal Mádl und Peter Mozan, die Herausgeber des Bandes Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen (München, 1999) in ihrem Vorwort. In diesem Raum drängten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts "mehrere Idiome zum literarischen Ausdruck, wobei die dominanten Sprachen infolge von nationalpolitischen Kursänderungen und Grenzverschiebungen einander...ablösten" - lesen wir im Vorwort weiter. Der Sammelband enthält Beiträge über (vergessene) Autoren, "die in der Provinz, fernab von den überregionalen, meinungs- und kanonbildenden kulturellen Zentren der Kommunikation und des Ideenaustausches lebten". (ebd.)

Szittya Emils Laufbahn führt aus dem Donau-Karpatenbecken heraus, in die westeuropäischen Stätten der Kultur und des Ideenaustausches. Er tritt aus der Situation der Provinzialität heraus, ohne jedoch für sich eine zentrale Position erringen zu wollen oder zu können. Als Randfigur vieler Neuansätze begegnet uns sein Name im Zusammenhang mit Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus usw. In dem Lexikon "Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen" Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts. (München 1988. S.267-272.) sind die folgenden Daten der zehnspaltigen Würdigung und Analyse zu Szittya, Emil vorangestellt:

"Szittya, Emil (d.i. vermutlich Adolf Schenk) geboren am 18. August 1886 in Budapest, gestorben am 26. November 1964 in Paris. Maler, Kunstkritiker, Erzähler. Von 1906 bis 1914 in Paris, von 1915 bis 1919 in Zürich, von 1921-1926 in Berlin, seit 1927 ständig in Paris."

Er ist also in Budapest geboren, seit 1906 lebte er aber nicht mehr in Ungarn. Obwohl sein Name für die Kenner der ungarischen Literatur und Presse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht völlig unbekannt ist, - bis 1917 sind von ihm z.B. nach eigener Angabe 182 Schriften in ungarischen Zeitungen erschienen, - finden wir nur in einem ungarischen Lexikon (Ungarisches Biographisches Lexikon. Budapest, 1978-1991. S.867-868) etwas über ihn. Seine in deutscher und französischer Sprache geschriebenen Werke - Romane, Essays, Kritiken - sind nicht ins Ungarische übersetzt worden. Seinerzeit sind sie in Potsdam, Konstanz, Paris erschienen. Im Jahre 1986 brachte von ihm der Wiener Löcker Verlag den Nachdruck seines populärwissenschaftlichen Buches Selbstmörder (1925) und kurz darauf die Erstausgabe eines in Typoskript gebliebenen utopistischen Romans heraus. (Der Mann, der immer dabei war, hrsg. von Sabine Haaser und Manfred Lamping, Wien: Löcker, 1986) Der selbe Verlag gab 1987 sein Werk Träume aus dem Krieg heraus. Seine Laufbahn wurde in zwei Dissertationen bearbeitet: das Antiquarehepaar Weinek in Salzburg ist den in vielen Städten Europas zerstreuten Spuren dieses seltsamen ewigen Wanderers nachgegangen.

Szittya als Maler lernte das Publikum in den Ausstellungen in Paris 1958, 1962, in Zürich 1964, in Wien 1985-86, in Budapest 1989 kennen. Sein Nachlass wird in Marbach aufbewahrt.

Laut eines Nachrufs auf Szittya war er "eines der ältesten Mitglieder der deutschen Boheme der Vor-Hitlerzeit (...) ein kleiner, unscheinbarer, aber von der Liebe zu den Künsten besessener Mann, (...) der mit den literarischen und künstlerischen Pionieren seiner Zeit eng verbunden war..." Die New Yorker Zeitschrift Aufbau, in der der zitierte Nachruf erschien, nennt Szittya ein Mitglied der deutschen Boheme. Heißt es, daß der aus Budapest stammende, in Paris gestrorbene Szittya schlichtweg als deutscher Künstler registrierbar ist? Kann man über ihn in den Kategorien "Nationalität", "Identität", "Muttersprache" etwas sagen? Im folgenden versuche ich zu zeigen, inwieweit Szittyas Existenzform und Leistung mit der er die Aufmerksamkeit vieler seiner Zeitgenossen auf sich zog, nicht mit den eben genannten Kategorien beschreibbar sind. Er war ein Grenzüberschreiter ein Wanderer auf den Landstraßen Europas, ein Wanderer zwischen den Kulturen und Sprachen. Wie er lebte und was er hervorbrachte, das stellt eine spezielle Form der Interkulturalität dar.

(Der Name) Der Name Szittya ist ein selbstgewählter: da er nach seinem Vater hätte Schenk heißen müssen, ist diese Wahl von mehrfacher Bedeutung. Er wählt einen Namen, den in Ungarn nicht viele haben, einen Namen, der in der Atmosphäre der ungarischen Jahrhundertwende, kurz nach dem Millennium einen direkten Hinweis auf das Asiatische, Nomadische, Urmagyarische darstellt. In diesem Sinne ist diese Wahl eine selbstgewollte Trennung von der Welt des Vaters, der Ahnen - vermutlich jüdischer Herkunft. Adolf Schenk ist spurlos verschwunden, eine neue Person ist entstanden: Szittya Emil. Der bedeutungsstarke Name, mit dem die Person Szittya Emil sich konstituierte, ging in die ungarische Literaturgeschichte ein, aber nicht weil er selber ein Literat war, sondern weil Kassák Lajos, der ungarische Künstler der Avantgarde über die gemeinsamen Wanderungen mit Szittya auf den Landstraßen Europas in seinem autobiographischen Roman Das Leben eines Menschen und in dem langen dadaistisch-surrealistischen Gedicht "Das Pferd stirbt..." schrieb.

(Die Existenzform) Szittyas Spuren führen in die Landschaft der europäischen Avantgarde. Zeitschriftengründungen (Les Hommes Nouveaux, Der Mistral, Horizont-Hefte, Die Zone), Entdeckung von jungen Künstlern (Blaise Cendrars, Marc Chagall) sind Formen und Ergebnisse seiner Kontakte zu der übernationalen Gemeinschaft der Künstler. Er stand nicht in der ersten Reihe - sein Wesen hatte aber etwas herausfordernd Faszinierendes, das in Erinnerungen seiner Zeitgenossen mehrfach dargestellt wurde. (Blaise Cendrars, Hugo Ball) Auch der bereits erwähnte Kassák Lajos zeichnet in seiner erwähnten Autobiographie ein Szittya-Bild. Während der Fußreise durch Europa (Juli 1909 - Dezember 1909) an der Seite des "verwunschenen Königssohnes" - so sieht Kassák den jungen Szittya, der sich seinerseits "einen geborenen Herrscher" nennt - erlebt der junge ungarische Dichter nicht nur Not und Freiheit. Er begleitet Szittya nicht nur, wenn dieser in den Kirchen die Christusbilder registriert, hört in seiner Gesellschaft nicht nur Anarchisten mit Christus-Bart zu, sondern er lernt durch die Konfrontation mit Szittya sich selbst kennen. Der Vagabund Szittya erscheint in seiner Erzählung, als jemand, der stundenlang über Böcklin sprechen kann, der ein imponierendes Format beim Betteln hat und der sich für einen Anarchisten hält, den "keine moralischen Regenwürmer" stören.

In seinem Rückblick - an seinem Buch arbeitete er seit 1924 - stellt Kassák seine eigene, sich formende Künstlerpersönlichkeit, "seinen eben erwachten Verstand", der die klare Erinnerung an die Welt der Fabriken in sich trug, der posenhaften, bindungslosen, gemachten Szittyas gegenüber. Der geschilderte Kontrast zwischen ihnen ist nicht einfach biographisch, charaktermäßig, sondern ist ein wichtiger Teil des Kassákschen Selbstverständnisses. Jahre nach der Arbeit an diesem autobiographischen Werk kehrt Kassák immer noch zu dem Bild des Vagabunden zurück, um seinen eigenen gemeinschaftsgebundenen Standort in der Abgrenzung zu dieser anderen Künstler-Existenz zu formulieren.

Was die Vagabondage betrifft, blieb Szittya Zeit seines Lebens ein Wanderer und ein Bohemien, der diese Lebensform in zahlreichen Prosaskizzen und Romanfragmenten beschrieb: z.B. Das Kuriositaten-Kabinett und die zwei bis jetzt nicht herausgegebenen Romane: Das ist ein Roman eines Menschen der viel gelitten hat und Ich bitte um ein Eintrittsbillet oder haben Sie schon einmal Hunger gehabt.

(Die "Weltanschauung") Hatte Szittya eine feste Weltanschauung? Er verkehrte in Künstlerkreisen (z.B. in München um Erich Mühsam, in Ascona: Monte Verita), die auf die erschütternden Ereignisse der Zeit, den Krieg, die Revolution, später auf den Nazismus und wieder Krieg mit heftigen, fieberartigen Reaktionen antworteten. Seine Schriften, die man vor allem als eine Chronik dieser Epoche lesen sollte, sind Dokumente einer starken Resonanzfähigkeit. In den zwei Heften des Mistral, den er mit Hugo Kersten herausgab, wendet er sich gegen die Hoffnungen derjenigen Künstler und Schriftsteller, die den Beginn des ersten Weltkrieges mit patriotischer Begeisterung begrüßt haben. Der zweite Weltkrieg findet ihn schon in Frankreich, wo er - während der Nazi-Zeit ein Verfolgter - die Gründung einer Zeitschrift als Kampfmittel gegen die Barbarei einsetzt. Elisabeth Weinek sagt über die Bedeutung dieser Zeitschriftengründung in ihrer 1987 entstandenen Dissertation (S.54.): "Die Zone ist ein Höhepunkt in seinem literarischen Schaffen. Vorerst nimmt er für keine Partei Stellung. Fernab von jedem Parteiprogramm will er den Nationalsozialismus bekämpfen." Diese Stellungnahmen in den kritischen Zeiten machen ihn aber doch nicht zu einem leicht definierbaren Menschen. In dem einleitenden Kapitel zum Kuriositäten-Kabinett stellt er sich selbst als eine Kuriosität vor. Die Selbstironie, mit der er sich bloßstellend verhüllt, entkräftet nicht den Wert seiner Aussage über die Legenden um seine Weltanschauung. "Man erzählt, ich sei Sozialdemokrat, Syndikalist, Anarchist, Individualist, Spiritist, Theosoph gewesen ...". Szittyas Biograph Christian Weinek (1987 S.192) sieht in diesem Wechsel der Ideologien (der Antimarxismus der 20er Jahre und der Antifaschismus der Kriegsjahre ergänzen noch die Reihe) im Grunde genommen "die Befürchtungen eines Bohemiens ... eines Individualisten ... gelenkt, gewaltet zu werden". Nach der Auflösung der Cafehaus-Boheme der 20er, 30er Jahre, während des 2. Weltkrieges erfolgt dann bei ihm eine Hinwendung zum Kommunismus in Frankreich, die seine Position für den Rest seines Lebens zu bestimmen scheint.

Die um seine Person kursierenden Legenden berichten auch von dem Verdacht, daß er agent policier gewesen sei. Er soll dem Budapester Leiter des deutschen Geheimdienstes Hermann Konsten 1917 über unterschiedliche politische Fragen referiert haben. Wegen dieser Tätigkeit wurde er in der ungarischen Presse angegriffen.

Hatte Szittya im Sinne einer politischen Konzeption gehandelt, wie das Weinek vermutet oder haben ihn seine ständigen Geldnöte erpressbar gemacht? Szittya selbst interpretiert in seiner ungarisch verfassten Verteidigungsschrift mit dem Titel Én Szittya Emil (Ich Sz.E. 1918, S.7.) seine "Referate" als etwas "Harmloses, das nichts weiter gewesen sei, als die Summierung des bereits in den Zeitungen "Formulierten", was "jeder Journalist, der Moral hat", an seiner Stelle geleistet hätte.

Wie dem auch sei, er hat in dieser Periode seines Lebens naiv oder bedenkenlos bestimmte Grenzen der Handlungsmöglichkeiten eines Literaten überschritten und damit den Legenden um die eigene Person, die er für sich und zur Belustigung der anderen ausgedacht hat, eine verdächtige Dimension gegeben.

(Die Sprache) Der frühen Loslösung vom Ursprungsland (1905) zufolge hatte Szittya ein eigenartiges Verhältnis zur Sprache. "Aber ich schreibe ausschliesslich deutsch" erklärt er Kassák gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft. Seit 1930 ist die Sprache seiner Publikationen hauptsächlich das Französische.

Seine Zeitschriftengründungen und ausgedehnten, wechselreichen Beziehungen zu der europäischen Avantgarde setzen eine äußerst große Flexibilität, Kommunikativität und feinen Sprachsinn voraus. Die benutzten Sprachen blieben aber für ihn doch fremde Sprachen. Manfred Lamping der späte Herausgeber des Szittya-Romans Der Mann, der immer dabei war mag recht behalten, wenn er in seinem Nachwort behauptet: "Wer die Manuskripte aus dem Nachlaß Szittyas liest wird diesen Mangel deutlich spüren, denn immer wieder würfelt der Autor stehende Redensarten durcheinander, weil er in mehr als einer Sprache denkt." Dieses in mehr als einer Sprache Denken - dieses in mehr als in einem Land Wohnen ist mehr als ein Wechseln der Orte und Sprachen: es ist eine um den Preis der Not und Heimatlosigkeit erworbene geistige Haltung, die für die europäische Boheme des 20. Jahrhunderts die Dynamik der sprachlich-kulturellen Begegnungen bedeutete.

Auf die private Geschichte Szittyas fiel seit dem Ende des 2. Weltkrieges weniger Licht, die Legenden um seine Person versickerten. Daß er nach der erwähnten Konsten-Affäre noch einmal nach Ungarn gekommen war, kann man nur auf Grund einer offiziellen Eintragung in seinem Reisepass wissen (Elisabeth Weinek 1987 S.6.), aber mit der ungarischen Literaten- und Journalistenwelt hat er seine Kontakte abgebrochen. Diesem Bruch hat er kurz nach dem zweiten Weltkrieg auf indirekte Weise noch einmal Nachdruck verliehen und mit einer merkwürdigen Geste seine Identität festgelegt. Nach dem Bericht des Literaturhistorikers Bodri (Literatura 1980, S.300), der von ungarischer Seite sich bemüht hat, ein Szittya Bild zu zeichnen, suchte Szittya 1945 oder 1946 eine ebenfalls in Paris lebende Ungarin auf und hat sich ihr in französischer Sprache vorgestellt. Auf ihre Behauptung, er habe einen guten ungarischen Namen, soll er mit den Worten reagiert haben: "Il parait ... que mes aillents étaient d'origine hongroise, mais je ne comprends pas un mot cette langue." Szittya Emil leugnete seine Muttersprache ab, Monsieur Szittya, Emil Szittya wollte kein Ungarisch mehr verstehen.



Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VII: "Interkultureller" Austausch, transkulturelle Prozesse und Kulturwissenschaften

Section VII:
"Intercultural" Exchange, Transcultural Processes and Cultural Studies

Section VII:
Echange interculturel, processus transculturel et études culturelles

© INST 1999

Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse

 Research Institute for Austrian and International Literature and Cultural Studies

 Institut de recherche de littérature et civilisation autrichiennes et internationales