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Internationale
Kulturwissenschaften International Cultural Studies Etudes culturelles internationales |
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Sektion X: | Mehrsprachigkeit: Regionen, "Nationen", Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität | |
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Multilingualism: Regions, "Nations", Multiculturalism, Interculturalism and Transculturalism | |
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Plurilinguisme: régions, "nations", multiculturalité, interculturalité, transculturalité |
Dagmar Kostálová (Bratislava, Slowakei) [BIO] |
Am Beispiel der aus der Slowakei stammenden und in der Schweiz lebenden und deutsch schreibenden Autorin Irena Brezná möchte ich in meinem Beitrag ganz kurz auf die Begriffe Multi-, Inter- und Transkulturalität eingehen, mit denen auch die kulturwissenschaftlich orientierte Germanistik gerne arbeitet. Daß die Kulturalismus-Debatte in Human- und Sozialwissenschaften in deren Vielschichtigkeit mittlerweile sehr unterschiedliche Standpunkte hervorbrachte, ist bekannt. Im zunehmenden Interesse nicht nur der Wissenschaft an der kulturellen Praxis kann man - die verschiedenen Standpunkte zusammenfassend - eine Ambivalenz sehen. Je nachdem, welche Gründe von welchem Standpunkt aus für dieses Interesse angeführt werden bzw. in dessen Hintergrund vermutet werden können, funktioniert es einerseits als Mittel der Zivilisationskritik, gerichtet gegen den technologisch-ökonomischen Globalisierungsprozeß des Westens und dessen Ethnozentrismus, andererseits, wie manche meinen, arbeitet es durch die Ablenkung der Aufmerksamkeit von sozialen und ökonomischen Problemstellungen im Grunde versteckt gerade für diesen. Auf jeden Fall steigern die weltweit ansteigende Mobilität, die sich intensivierende Bevölkerungsmigration, um so mehr nach dem Fall der ideologischen Ost-West-Grenze, die Wahrnehmungsfähigkeit aller Betroffenen für kulturelle Spezifik, für die Alterität(1), für das jeweils Kulturfremde jenseits der Grenze des Eigenen(2). Die Kultur als in deren Ganzheit immer wieder anders gestaltete Lebensart, the whole way of life, wird zum Ort der identitätsstiftenden Konfrontation, sie wird zum the whole way of conflict(3). Brzezinski und andere vermuteten diese Entwicklung bereits vor Huntington(4).
Eine faszinierende Begleiterscheinung der Migration sind die Migrantenschriftsteller, zu denen auch Irena Brezná gehört. Seit ihrem 18. Lebensjahr, inzwischen 31 Jahre, lebt sie in der Schweiz. Nach dem Studium der Russistik, Psychologie und Philosophie arbeitete sie zuerst als Lehrerin und Psychologin. Als Mitglied der Amnesty International begann sie sich später an vielen Orten der Welt als Schriftstellerin und Journalistin für die Entrechteten und Verfolgten zu engagieren: sie half russischen Oppositionellen in der früheren Sowjetunion, berichtete über die heimkehrenden Krimtataren, sammelte Unterrichtsbücher für Schulen in Afrika. Im Tschetschenien-Krieg besuchte sie immer wieder das zerstörte Land, schrieb über die begangenen Greueltaten, versuchte tschetschenischen Frauen und Kindern zu helfen. Während des Kosovo-Kriegs arbeitete sie für das Schweizer Rote Kreuz. Seit 1989 reist sie regelmäßig auch in ihre alte Heimat zurück und berichtet über das Geschehen.
Dem ersten, von ihren Eltern erzwungenen Grenzübertritt vor 31 Jahren folgten also weitere, sie wurden für Brezná zu einer Art selbstgewählte Lebensform. Die Schweiz blieb der kultivierte Wohnort, ein Zufall, Kreuzungspunkt der vielen Reiserichtungen. Das überzeugendste Bekenntnis zum Weltbürgertum verkörpert Breznás schwarzer Sohn, die wohl ergreifendste Herausforderung der vielen Begegnungen mit der Fremde. Selbstgewählt ist auch Deutsch als Sprache von ihren Texten, in der sie - einer allmählich gewachsenen neuen Lunge vergleichbar - aus der erstickenden Stummheit der frühen Emigration heraus zu schreiben begann(5).
Der Übertritt aus dem Kultureigenen des totalitären Ostens in die kulturelle Fremde des Westens wurde für Brezná zur multikulturellen Ausgangsbasis des nachfolgenden inter-kulturellen Engagements, das, wie ich meine, mittlerweile spezifische transkulturelle Merkmale aufweist. In diesem Zusammenhang möchte ich heute auf einen sehr kurzen Text näher eingehen, einen von Breznás letzten, der anläßlich des Kosovo-Kriegs entstand, als Zeitungs-Kolumne erschien und den Titel trägt: Die Mutter, die Journalistin, ich und der Krieg. Tagebucheintragung am 31. März 1999 (6).
Dieser Text ist Ausdruck einer dringenden, zugleich aber wohl überlegten Antwortsuche der in Basel am Schreibtisch sitzenden Autorin auf die Frage nach ihrer Identität als Privatperson, Mutter und Journalistin. Anlaß sind ein Traum vom Ausbruch des Kriegs in Jugoslawien noch vor Beginn der Nato-Bombardierungen und spätere Flüchtlingsbilder im Fernsehen. Das Gefühl, das die grenzerfahrene Weltbürgerin im Traum vom Krieg durchfährt, ist trotz des Wissens, es geht um Jugoslawien, sofort das Gefühl vom existentiellem Mitbetroffensein. Obwohl vom Geschehen isoliert, versteckt sie sich mit dem Sohn unter einem Bett. Der ältere Sohn, das weiß sie auf einmal ganz sicher, stirbt im geträumten Krieg einen qualvollen Soldatentod. Der Urschmerz aller Mütter, wie sie schreibt, läßt ihre Verzweiflung sich ins ganze Universum ausdehnen. Der isolierte Raum und das Bett als nur scheinbaren Schutz bietende Metaphern von Staats- und in diesem Fall auch Kulturgrenzen kommen gegen das grenzenbrechende menschliche Mit-leiden, das sich fremdes Leid sofort selbst einverleibt, nicht an. Das Leiden am Krieg wird als kulturübergreifendes instinktives Leiden der Mutter schlechthin erfahren, das nicht nur ein lebenswertes Leben sondern auch den Tod unmöglich macht:
Da kam ins Zimmer ein Flüchtlingsmädchen, entkräftet und blieb schweigsam in der Mitte des Raumes stehen. Wir krochen unter dem Bett hervor, und auf einmal durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Strahl, (...), daß mein älterer Sohn am Krieg als Soldat teilnimmt. (...) Vom Bauch stieg in langgezogenen Sekunden der Urschmerz aller Mütter hoch, die tiefste aller Verzweiflungen, die sich ins ganze Universum ausdehnte.
So beschreibt Brezná ihre unmittelbare Reaktion auf das Kosovo-Geschehen. Es wiederholt sich, was sie mit ihrem Einsatz an vielen Orten der Welt immer wieder unter Beweis stellte: ihre zur Tat drängende menschliche Solidarität. Doch sie problematisiert gleich diese ihre spontane Einstellung, indem sie schreibt:
Und keine Frage nach dem Warum, keine Empörung, kein Gedanke (...) in dem kantenlosen Abgrund, der ich selbst war und in dem das Bild meines verstümmelten Kindes unklare Umrisse annahm. Etwas sehr Schwaches wie ein Schimmern vom Denken mag darin gewesen sein, eine vage Sehnsucht nach Konturen, (...), nach dem Wissen, was geschieht.
Mitleiden ist demnach nicht genug, mehr als ums Gefühl geht es ihr um gedankliche Erfassung des Geschehens, um dessen Verstehen mit dem Kopf. Im Traum als in einer Art freudschem Es bleibt die Berichtende in ihrem Leid als ob autistisch eingeschlossen. Im wachen Zustand beginnt sie dagegen über aufmerksame Beobachtung der Ereignisse über den Krieg, zugleich aber auch über sich selbst zu reflektieren. Aus dem transkulturellen menschlichen Mit-gefühl, das für mich einen wichtigen Aspekt interkultureller Kompetenz(7), auch der transkulturellen Übergangsfähigkeit im Sinne von Wolfgang Welsch(8) ausmacht, wird eine Art identitätsstiftende Befragung des eigenen Kulturumfelds. Die aus Anlaß des neu ausgebrochenen Kriegkonflikts über ihre frühere Berichterstattung in Tschetschenien reflektierende Journalistin erkennt nicht nur, daß auch in umgekehrter Richtung Grenzen keinen Schutz bieten, da die im Fernsehen beobachteten Flüchtlinge ohne ihre Nächsten nicht wirklich gerettet werden können, daß entwurzeltes Leben, auf welche Art auch immer, letztlich keines ist. Ihr wird auch bewußt, daß instinktives Mitfühlen, ihre sofortige Bereitschaft zur Selbstaufgabe für den Anderen, ihr Spiel mit eigenem Leben und Tod in Tschetschenien, etwas von einem seelischen Selbstmordgedanken in sich haben, hervorgerufen durch die lähmende Ohnmacht gegenüber dem immer wieder erfahrenen Grauen in der Welt. Mitbetroffensein oder besser Mitbetroffenseinwollen über Grenzen - Kultur- und ethnische Grenzen, auch Grenzen der gewährten persönlichen Sicherheit in der Schweiz - hinweg erkennt sie als sich selbst rettendes, zugleich aber auch sich selbst verneinendes Zurückweichen des Kopfes, des Denkens, vor dem Unvorstellbaren, Unfaßbaren an in Barbarei mündender Kultur:
Will ich tätig sein, weil ich die Tatsache des Grauens nicht aushalte, weil ich abermals die Welt als die, die sie ist, nicht annehmen will (...)? Wieviel von diesem Drang zu den mir vertrauten Aktivitäten ist ein Sog weg von meinem Zentrum, vom Denken, von den Schlachtfeldern in mir, die der Krieg aufdeckt?
Ich glaube, daß die überrumpelnde Wucht des Bösen, wie es im Text heißt, - der Krieg - als ein im Sinne der sich überlappenden(9) unterschiedlichen Kulturen transkulturelles Artefakt(10) (am Kosovo-Krieg waren drei Kulturen beteiligt) von der Autorin zwar entsprechend als kulturübergreifend wahrgenommen wird, die angesprochenen Schlachtfeldern im eigenen Inneren anschließend aber auf kritisches Prüfen des eigenen, sprich westlichen Kulturumfelds zielen (als Slowakin ist Brezná an dessen Ostrand zu Hause). Um dem gefühldominierten Ohnmachtsgefühl gegenüber der Tatsache des Kriegs abzuhelfen wird dieses nach einer wirksamen Widerstands- und Handlungsmöglichkeit befragt. Sie wird im Denken gefunden und neu bestätigt, das dem Gefühl zuerst entgegengesetzt wird:
Ich fasse dies in Worte, um schreibend, das heißt denkend, mehr über mein Mitgefühl zu erfahren, denn nicht mehr will ich das Gefühl als die höchste und reinste Instanz in mir dulden, sondern es solange anschauen, bis ich seine Natur als einen harten, kristallenen Kern (...) erblicke, mich selbst erblicke als die, die ich in Basel am Schreibtisch sitze und nicht vermengt mit der, die im Kopftuch auf der Flucht aus ihrem brennenden Dorf ist.
In der Gegenüberstellung von Gefühl und Denken kommt der intrakulturelle Konflikt, das Ungleichgewicht zwischen beiden in der überrationalisierten westlichen Kultur zum Vorschein. Trotz der gefundenen Zuflucht beim Denken setzt Brezná auch nicht allein darauf. Nachdem sie mit Schreiben als einer Form kommunikativer Rationalität(11) auf europäische Aufklärungstradition zurückgreift, sich also angesichts des eben intensiv erlebten interkulturellen Involviertseins der eigenen kulturellen Herkunft vergewissert und darin Handlungssicherheit findet - etwas, was als eigenkulturelle Kompetenz bezeichnet werden könnte -, überläßt sie sich, ihrer Aufgabe gegenüber der Tatsache des Kriegs als Mutter, Journalistin, in erster Linie aber als Mensch nun klarer bewußt, erneut dem - sie als Mensch ja gerade so auszeichnenden - Mit-gefühl:
Und doch bin ich auch jene Frau, müßte ihr umso näher kommen, wenn ich mit meinem ganzen Wesen, fühlend und denkend bei ihr und bei mir bin, wenn nicht die Mutter in mir und nicht mein Beruf überhand nehmen über den Menschen, der ich auch bin und der sich bewahren will und soll.
Die Notwendigkeit der im Interesse des Menschen schlechthin bewußt anzustrebenden Verbindung von Denken und Gefühl als kulturellen Segmenten(12) zeugt, wie Dieter Senghaas meint, von markanten kulturellen Konfliktlinien nicht unbedingt zwischen verschiedenen sondern innerhalb eines und desselben - hier des westlichen - Kulturkreises(13). In Breznas Überlegungen wird über sie zugleich ein kritisch selbstreflexiver Schritt hinaus getan. In der Vergewisserung der eigenen Denk- und Wissensfähigkeit als Verpflichtung der eigenen Kultur gegenüber mag sich etwas von der von Ulrich Beck und anderen herbeigewünschten selbstkritischen Revision der westlichen Rationalität(14) verstecken. Sie stärkt die Autorin in ihrem Vorsatz, dem fremden Leid mit eigenem Mit-leid handlungsfähig begegnen zu können. So wird ein kritisch revidierendes Bekenntnis zur westlichen Kulturtradition Ausgangspunkt eines umso effektiveren transkulturellen Engagements ohne ethnozentrischen Anspruch. Über denkbare Bedeutungen und Werte, die nach Alain Finkielkraut mit ihrer humanistischen Dimension über den Entstehungsbereich der westlichen Kultur hinausgehen, tritt Brezna im Kampf um die Bewahrung des Menschen als solchen mit anderen Kulturen in Verbindung(15):
(...) wenn ich die Verzweiflung im Bauch mitnehme, aber auf die Art, daß nicht sie, sondern ich meine eigenen Schritte lenke, dann - so müßte es wohl kommen - würde mich der Krieg nicht taumeln machen. Dann, so die Hypothese, würde ich seinem Taumeln aufrecht begegnen können, nachdem ich (...) den Kopf meines Kindes gehoben und gewaschen hatte. Dann, dann wäre ich erst bereit, als Journalistin in den Krieg zu fahren.
ANMERKUNGEN
1 | vgl. Alois Wierlacher: Mit fremden Augen oder: Fremdheit als Ferment. Überlegungen zur Begründung einer interkulturellen Hermeneutik deutscher Literatur. In: Alois Wierlacher (Hg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München 1985, S.18. |
2 | 2 vgl. Alois Wierlacher (Hg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München 1985. |
3 | 3 vgl. Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Wolfgang Kaschuba (Hg.): Kulturen-Identitäten-Diskurse. Perspektiven Europäischer Ethnologie. Berlin 1995, S.11-30. |
4 | vgl. Zbigniew Brzezinski: Bez kontroly. Chaos v predvecer 21. století. Praha 1993, S. 159ff. |
5 | vgl. Irena Brezná : Deutsch ist eine Art gutgeschnittenes Arbeitskleid. In: Die Weltwoche 8/1992, S.65. |
6 | In: Freitag, 9.April 1999, S.15. |
7 | vgl. Bern-Dietrich Müller: Interkulturelle Kompetenz. Annäherung an einen Begriff. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19/1993, S.63-76. |
8 | vgl. Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen. In: ZfK 1995/1, S.43. |
9 | vgl.Rad Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Darmstadt 1996, S.3. |
10 | vgl. Aleida und Jan Assmann: Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns. In: Jan Assmann und Dietrich Harth (Hgg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt/M. 1990, S.13. |
11 | vgl. Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Philosophie von Jürgen Habermas. In: Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Bd.1. Deutschland. Hamburg 1996, S.125. |
12 | vgl. Dieter Senghaas: Zivilisierung wider Willen. Frankfurt/M.1998, S.48. |
13 | vgl. ebenda, S.17. |
14 | vgl. Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/M. 1996, S.12. |
15 | vgl. Alain Finkielkraut: Die Niederlage des Denkens. Reinbek bei Hamburg 1989, S.107. |
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