Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion X: Mehrsprachigkeit: Regionen, "Nationen", Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität

Section X:
Multilingualism: Regions, "Nations", Multiculturalism, Interculturalism and Transculturalism

Section X:
Plurilinguisme: régions, "nations", multiculturalité, interculturalité, transculturalité


Dalibor Turecek (Ceské Budejovice)
Die Wiener Impulse im tschechischem Theaterleben (1800-1850)

Das tschechische Theater knüpfte im allgemeinen schon vom Beginn der tschechischen nationalen Wiedergeburt an die österreichische und süddeutsche Tradition des improvisierten Theaters "ohne ideale Ansprüche" an. Die dramatischen Werke österreichischer Herkunft, vor allem die Possen und später die Märchendramen, standen schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts regelmäßig und häufig auf dem Repertoire des tschechischsprachigen Prager Theaters. Das damalige tschechische Publikums, das die Wiener Produktion auch aus den Vorstellungen des deutschen Theaters kannte, nahm sie als einen natürlichen Bestandteil seines Kulturlebens an. Eine solche Situation war charakteristisch nicht nur für Prag, sondern auch für andere größere tschechische Städte.

Die Rezeption des Volksstückes hat sich auf der tschechischen Bühne schrittweise in einigen Phasen entwickelt. In der ersten Etappe, am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hat man meistens die Werke von Schikaneder, aber auch die Zauberspiele von Leopold Huber oder F. K. Hensler inszeniert. Ein Anwachsen des Interesses für das Wiener Vorstadttheater ist dann etwa seit den 20er Jahren deutlich. Die Blüte des Volksstückes in Prag fällt in die 30er bis 40er Jahre voriges Jahrhunders, als die Stücke von Raimund und später auch von Nestroy im tschechischem Repertoire ihren Platz fanden.

Trotz aller enger Verbundenheit des Tschechischen Theaterlebens mit dem Volksstück weisen die tschechischen Nachahmungen und Übersetzungen des populären Wiener Repertoires einige besondere Züge auf:

  1. Das tschechische Theaterleben war im Vergleich mit Wien innerlich wenig differenziert. Das tschechische Theater hat also beide der in Wien isolierten Funktionen des österreichischen Theaterlebens verbunden, die durch die Nachbarschaft des Burgtheaters auf der einen und der Vorstadtszenen auf der anderen Seite ausgedrückt wurden, nämlich die Tendenz zu einer ästhetisch anspruchvollen Kunst mit der Notwendigkeit der Unterhaltung. Die ökonomische und soziale Basis des tschechischen Theaters war zu schmal, um eine solche innerliche Differenzierung zu ermöglichen und sogar zu verlangen. Die tschechischen Dramatiker und auch die Regisseure wurden also dadurch mit der Notwendigkeit konfrontiert, für ein innerlich widersprüchliches Publikum zu schreiben und zu inszenieren, das sowohl konventionelle Unterhaltung (Galerie), als auch hohe Kunst (die Intellektuellen) erwartet hat.
  2. Während sich in Wien alle Gattungen des Volksstückes parallel entwickelt haben, ist in Prag eine zweistufige Entwicklung des Interesses von der lokalen Posse zum Zauberspiel zu beobachten. Ein wesentliches Verdienst ist in diesem Zusammenhang der tschechischen Theaterkritik zuzuschreiben, die - aus der ästhetischen Normen von Lessing ausgehend - in einem fast permanenten Streit mit der Aufführungpraxis die kultivierende, national erziehende Funktion des Theaters als einer anspruchvollen Kulturinstitution verlangte und das "niedrigkomische" und possenhafte aus der Bühne ganz regelmäßig auswies.
  3. Eine gelungene Stilisierung der Umgansprache, sowie eine Übersetzung des Wiener Dialogs, der einen wesentlichen Bestandteil der Wiener Bühnensprache bildete, sowie eine Stilisierung der Sprache des Salons stellte für die tschechischen Autoren lange eine zu komplizierte Aufgabe dar. Auch die technischen Bedingungen der tschechischen Theatervorstellungen sind vom Beginn der nationalen Wiedergeburt an hinter der Möglichkeiten der Wiener Vorstadtszenen zurückgeblieben. Dazu hat auch die oft niedrige Qualität des Ensembles negativ beigetragen.
  4. Die tschechische Posse und das tschechische Zauberspiel wurden dem Publikum mit ernster Absicht präsentiert. Es fehlte also völlig die für das Wiener Vorstadttheater typische Parodie, die oft als ein Ferment des österreichischen Volksstückes bezeichnet wird. Tschechische Übersetzer und Regisseure haben aber ihre Praxis den Normen von Rührstück nähergebracht: vor allem drückten sie die unterhaltende Funktion des Stückes sowie die Lokalisation der Handlung in höhere soziale Gesellschaftsschichten unter und beseitigten den komisch ironischen Ton der Wiener Produktion.

Die tschechische Anknüpfung an die Impulse des österreichischen Theaters hat also oft sogar mit dem Wiener Volkstheater polemisiert, oder sie hat es in jedem Fall in einem anderen Kontext neu umgewertet. Die neuen Funktionen, die die Produktion der Vorstadtszenen auf der tschechischen Bühne gewonnen haben, können aber gleichzeitig den elementaren Zusmmenhang nicht verschleiern, den trotz aller Widersprüchlichkeit die "Alte Welt der Habsburgischen Monarchie" ausgewiesen hat. Man kann sogar sehen, daß gerade das Theater eine Kulturform darstellte, in der diese Wechselseitigkeit am deutlichsten zum Ausdruck kam. Die Vorliebe des entscheidenden Teils des tschechischen Publikums für das Volksstück bildete dabei einen der wichtigsten und deutlichsten integrierenden Zügen dieser kulturellen Wechselseitigkeit. Die ideellen Vorstellungen des wesentlichen Teiles der damals nicht besonders vielköpfigen tschechischen Intelligenz, die die ästhetischen Ansprüche mit der national erziehenden Tendenz verbunden haben, und die das reale Theaterleben beeinflussen wollten, ohne reale Möglichkeiten des tschechischen Theaters und konkrete Bedürfnisse des tschechischen Publikums in Betracht zu ziehen, stellten dann die differenzierenden, trennenden Tendenzen dieses Systems dar.



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