Elektronische Datenbanken für LiteraturwissenschafterInnen*
Andrea Rosenauer (Wien)
[BIO]
Die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts im Wissenschaftsbereich immer schneller anwachsende Menge an Informationen (hier zu verstehen als Menge aller Daten, Texte und Bilder), führte zu zunehmender Unübersichtlichkeit von Forschungstätigkeiten und Prozessen des Erkenntnisgewinns in den einzelnen Fachbereichen. Dem Problem der Erweiterung und Differenzierung wissenschaftlicher Fragestellungen können (gedruckte) Bibliographien nicht mehr in adäquater Weise gerecht werden. Sie als Spiegel des Forschungsstandes eines Faches zu begreifen, vermögen selbst im Bereich der Literaturwissenschaften nur mehr jene, deren Gebiet so klein und spezialisiert ist, daß sie sich nicht durch ein Nebeneinander von thematischen, Epochen- und Personalbibliographien, Referate- und Rezensionsorganen irritieren lassen. Zu den genannten Bibliographien sollten noch ergänzend fachübergreifende Bibliographien wie die Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur herangezogen werden, da die Fachbibliographien "aufgrund des festgelegten Kanons der ausgewerteten Zeitschriften und Sammelwerke bestimmte, fachlich einschlägige Aufsätze nicht verzeichnen, weil letztere in Zeitschriften eines anderen Faches erschienen sind."(1) Ein Beispiel für die Möglichkeiten, die neue Medien als Werkzeuge zur Erschließung von Literatur bieten, ist die Herausgabe des Nachlasses von Robert Musil auf CD-ROM. Dieses Speichermedium ermöglichte es, Material, dessen Transkription in gedruckter Form rund 20.000 Seiten umfaßt hätte, in handlicher Form und ohne gigantische Herstellungskosten zu publizieren. Nur mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung konnte aus dem Arbeitsmaterial des Schriftstellers, der selbst "mit Hilfe eines ausgeklügelten Verweisapparates, Seiten-Chiffren, die aus Abkürzungen und Chiffren kombiniert sind [...] ein Referenzsystem" anstrebte, "das sein gesamtes Arbeitsmaterial intern durchdringen und für stets umfassendere konzeptionelle Ordnungen verfügbar halten sollte"(2), eine Datenbasis erstellt werden, die sich der/dem LiteraturwissenschafterIn durch zwei Typen von Retrievalsystemen als vielfältig einsetzbarer Informationspool erschließt. Die Vision Walter Fantas, durch eine Anwendung des Verfahrens auf andere repräsentative AutorInnen und deren Zusammenführung in einer Online-Datenbank eine Epochendatenbank der Moderne zu schaffen(3), wurde bisher nicht realisiert.
Elektronisch recherchierbar ist weiters der Bestand der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus, wobei insbesondere die Literaturdatenbank als Modell für mögliche Datenbankprojekte von Interesse ist. Diese mit dem Programm filemaker auf Apple/Macintosh erstellte relationale Datenbank der Dokumentationsstelle liefert bibliographische und Standortangaben zu allen im Literaturhaus vorhandenen Werken. Durch das Feld "Enthält", in das in Sammelwerken und Zeitschriften erschienene Aufsätze eingegeben werden, werden auch unselbständige Publikationen erschlossen.(4)
Die IG Autorinnen Autoren (Literaturhaus, 1070 Wien, Seidengasse 13) präsentierte 1995 auf der Frankfurter und 1996 auf der Leipziger Buchmesse die CD-ROM-Demonstrationsversion der Österreichischen Literaturdatenbank des 20. Jahrhunderts. In dieser Datenbank werden 650 lebende AutorInnen und ihre Erstveröffentlichungen auf allen Gebieten der Literatur (Buch, Bühne, Ton- und Bildträger) dargestellt.(5) Basis für die CD-ROM ist die Datenbank der IG Autorinnen Autoren, in der derzeit 9.000 österreichische AutorInnen und ÜbersetzerInnen sowie rund 80.000 Titel erfaßt sind. Der Aufbau der Datenbank hatte vor ca. drei Jahren begonnen; sie ist im Wiener Literaturhaus nach Rücksprache mit der IG zugänglich.
Die ersten Ergebnisse der Arbeit an der Datenbank liegen in Form eines vierbändigen Kataloglexikons, das 1.500 AutorInnen verzeichnet(6) und der erwähnten CD-ROM vor.
Da die CD-ROM-Datenbank "wie jedes herkömmliche Lexikon biographische Angaben und Bibliographien zu den einzelnen Autor/inn/en beinhaltet, ist sie im schulischen und universitären/wissenschaftlichen Bereich einsetzbar. Besonders attraktiv [...] wird sie dadurch, daß [...] auch auf Texte, die nicht in gedruckter Form zugänglich sind, besonderes Augenmerk gelegt wird und so ein höherer Vollständigkeitsgrad als bei den meisten anderen literarischen Nachschlagewerken dieser oder ähnlicher Art vorzufinden ist."(7)
Eine Anbindung der beiden im Literaturhaus entwickelten Datenbanken an das Internet ist mit dem Ziel einer Verbindung von Information für an österreichischer Literatur interessierten Publikum und der direkten Kommunikation mit den (und Information der) Schreibenden geplant.(8)
Ein Versuch, elektronisch verfügbare Ressourcen für GeisteswissenschafterInnen auf einer CD-ROM-Datenbank namens SOPHIA(9) zusammenzuführen, stellt einen Schritt in die Richtung der Realiserung eines Datenpools, der Informationen verschiedener Institutionen vereinigt, dar. Das durchaus nicht unbrauchbare, aber mit einer Reihe von Mängeln behaftete Ergebnis zeigt, daß sich die Geisteswissenschaften (oder wie immer sie sich nennen mögen) auf ihrem Weg ins elektronische Zeitalter erst am Anfang befinden. Sophia ist eine Mischform aus Datenbanktypen, wohl deshalb, weil es sich um eine Zusammenführung von 11 verschiedenen europäischen Datenbanken handelt. Sie enthält unter anderem Datenmaterial der PHILIS - Philosophiedatenbank (Philosophisches Institut der Universität Düsseldorf), eines Teils der Österreichischen Historischen Bibliographie (Universität Klagenfurt), der Ungarischen Bibliographie für Volkskunde (Bibliographie des Ethnographischen Museums Budapest) und der Internationalen Bibliographie zur Deutschen Klassik (Anna Amalia Bibliothek, Stiftung Weimarer Klassik). Mit überaus erschöpfenden Buchbesprechungen beteiligt sind der Referatedienst zur Literaturwissenschaft (Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben, Berlin)(10). Beitragende ist auch die British Libary mit Auszügen aus der Datenbank Blaise. Weiters stehen den BenutzerInnen durch Sophia Daten aus Finnland, Dänemark und eine European Bibliography of Soviet and East European Studies zur Verfügung.
Die Suche nach AutorInnennamen ist in der Gesamtdatenbank durchaus mit Erfolg zu bewerkstelligen. Die Verwendung anderer Suchworte gestaltet sich allerdings schwierig, weil die Eingaben in der jeweiligen Landessprache der beteiligten InformationsanbieterInnen erfolgen, und somit die Eingabe eines Suchwortes in nur einer Sprache kein vollständiges Ergebnis liefern kann. Ein weiters Problemfeld stellt die Uneinheitlichkeit der Daten dar.
Trotz wohlklingender Formulierungen wie "nur eine gemeinsame bibliographische Datenbank kann dem bildungspolitischen Anspruch der Literaturversorgung jedes Österreichers entsprechend gerecht werden"(11), ist eine Zusammenführung von Informationen zur österreichischen Literatur bisher noch nicht sehr weit gediehen. Am 19. Dezember 1994 fand im Forschungsinstitut "Brenner-Archiv" eine Tagung zum Thema "Österreichische Literaturarchive im Verbund wissenschaftlicher Bibliotheken" statt, das basierend auf den durch die Teilnahme des Brenner-Archiv am österreichischen Bibliotheksverbund BIBOS gewonnenen Erkenntnissen ein gemeinsames Vorgehen der Literaturarchive einleiten sollte.(12) Die Tagung schloß mit dem Aufruf zur Gründung eines Arbeitskreises, der mit einem möglichen Datenverbund zusammenhängende Problemstellungen be- und Lösungsansätze erarbeiten sollte.
Nun ruft das Österreichische Literaturarchiv in der Nationalbibliothek zur Zusammenarbeit auf. Bei einer "Sitzung zum Thema Erfassung von Nachlaßmaterialien/Kooperation österreichischer Literaturarchive"(13) zu der Wendelin Schmidt-Dengler als Leiter des österreichischen Literaturarchivs eingeladen hatte, trafen einander VertreterInnen österreichischer Institutionen, die mit der Erschließung von Nachlaßmaterialen befaßt sind. Es wurden Koordinationsmöglichkeiten bei der Erwerbung von Nachlässen ebenso diskutiert wie die Verwendungen von Regeln zur Erfassung von Autographen, weiters die Möglichkeiten von Softwareeinsatz und der Vernetzung der österreichischer Literaturarchive. Da die Auffassungen und Arbeitsweisen der teilnehmenden Institutionen zum Teil recht stark differieren, bleibt abzuwarten, innerhalb welchen Zeitraums der/m BenutzerIn der Weg in einen Datenverbund österreichischer Literaturarchive ermöglicht werden kann.
Das Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse plant die Zusammenführung von Daten mit dem Ziel, eine Literaturgeschichte zu erarbeiten, der eine neue Definition österreichischer Literatur zugrundeliegen soll.(14) Zur Erreichung eines Etappenziels, der Erarbeitung einer Auswahlbiobibliographie österreichischer AutorInnen, sollen die Daten des Instituts und seiner PartnerInnen im World Wide Web verfügbar und über eine Suchmaschine findbar gemacht werden. Da diese Form der Datenzusammenführung Diversitäten von Eingabe- und Beschreibungsformen erlaubt und berücksichtigt, ist zur Umsetzung des Projekts mit geringem Zeit- und Personalaufwand und mit einer hohen Akzeptanz seitens der (weltweit) beteiligten Institutionen zu rechnen.
Ausschlaggebend für die Qualität der bestehenden und angestrebten Datenverbünde werden deren Handhabbarkeit und Transparenz sein. Letztere ist durch Verweise auf die teilnehmenden und eingebenden Instututionen und deren Selektionskriterien zu erzielen, erstere kann nicht nur durch benutzerInnenfreundlichere Oberflächen gewährleistet werden. Thesauri,Indexe und/oder Suchwortlisten sind die Voraussetzung, um Forschende und Interessierte ohne großen Rechercheaufwand zur gesuchten Information zu führen.
© Andrea Rosenauer (Wien)
(*) Erschienen in: "Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift fuer Kulturwissenschaften". Wien, 5.Jg., Nr.4, S.14-16.
Anmerkungen:
(1) Hans Popst: Die bibliographische Situation im Bereich der Geisterswissenschaften. In: Rudolf Frankenberger und Alexandra Habermann (Hrsg.): Literaturversorgung in den Geisteswissenschaften. 75. Deutscher Bibliothekartag in Trier 1985. Frankfurt am Main 1986 (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie [Sonderheft], 43, S.286-295; hier: S.286).
(2) Walter Fanta: Die Computer-Edition des Musil-Nachlasses. Baustein einer Epochendatenbank der Moderne. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. 8/1994, S.127-153; hier: S.130.
(3) Ebd., S.138ff.
(4) Die Angaben beziehen sich auf einen Test der Datenbank am 8.10.1996.
(5) Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch: Gespräch mit Susanne Rupprecht vom 3.5.1996 sowie CD-ROM. Demonstrationsversion der Österreichischen Literaturdatenbank des 20. Jahrhunderts (Pressemappe). Wien 1996.
(6) Katalog-Lexikon zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. 4 Bde. Wien 1995.
(7) CD-ROM. Demonstrationsversion der Österreichischen Literaturdatenbank des 20. Jahrhunderts. A.a.O., S.3.
(8) Vgl. (Presseunterlagen)CD-ROM, S.4 sowie ein Gespräch mit Heinz Lunzer vom 18.10.1996 unter weitergehender Stützung auf ein von Heinz Lunzer erarbeitetes Informationspapier "Dokumentationsstelle für neue österreichische Literatur und internet" vom 4.10.1996, das mir als Gesprächsunterlage zur Verfügung gestellt wurde.
(9) Sophia: Die CD-ROM der europäischen Geisteswissenschaften und Studien über Europa. CD-ROM, a.a.O, Dataware Technologies, 1987, 1992.
(10) Die bei einem Suchversuch nach "Musil" erhaltenen 3 Treffer ergeben beispielsweise eine Länge des Ausdrucks von 8 Seiten.
(11) Gerhard Silvestri: Fünf Jahre BIBOS im Echtbetrieb im Bereich des Bundesministeriums für Unterricht, Kultur und Sport. In: 10 Jahre BIBOS, a.a.O, S.31-39; hier: S.38.
(12) Österreichische Literaturarchive im Verbund wissenschaftlicher Bibliotheken. Tagung am 19.12.1994 im Forschungsinstitut "Brenner-Archiv" der Universität Innsbruck. Das Protokoll wurde mir im Zuge eines Gespräches mit Anton Unterkircher ausgehändigt und ist zur Veröffentlichung in den "Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv" vorgesehen.
(13) Sitzung zum Thema "Erfassung von Nachlaßmaterialien/Kooperation österreichischer Literaturarchive vom 29.11.1996 im österreichischen Literaturarchiv, an welcher die Autorin als Vertreterin des Jura Soyfer Archivs und des Institutes zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse teilnahm.
(14) Vgl. Herbert Arlt: Zur Geschichte der Darstellung der österreichischen Literatur. In: Donald G. Daviau/Herbert Arlt (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Literatur. St. Ingbert 1996. Herbert Arlt: Projekt: Österreichische Literaturgeschichte. Erscheint in: Stimulus (Sonderband zur Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik in Innsbruck).
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