Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 10. Nr. | April 2002 |
Penka Angelova
(Rousse)
[BIO]
Die eben einsetzende dritte Phase der Entwicklung der Schriftkultur hat den Begriff der Bibliothek modifiziert und negiert. Die gängige Vorstellung von Bibliothek als bürgerlicher Bildungsstätte und Wissensquelle ist verloren gegangen und hat sich in eine Sucht nach Information verwandelt. Dieser Prozess wurde schon an der Jahrhundertwende vorbereitet, als die Sozialdemokratie das Machtpotenzial von Bildung und Wissen entdeckte und breitere Massen dadurch zum Lernen anspornte. Der Wissenserwerb wurde nicht aus reinem Erkenntniswillen angestrebt, sondern um den Mangel an finanzieller und sozialer Macht mit Wissen und Kenntnissen zu kompensieren, um damit schließlich auch über die bescheidenen ökonomischen Herkunftsverhältnisse hinauszugelangen. Wissen war Gold.
So ist Wissen wirklich Macht, aber rasend gewordene und schamlos angebetete Macht; ihre Anbeter begnügen sich mit Haaren oder Schuppen von ihr; wenn sie nichts anderes ergattern können, mit den Abdrücken ihrer schweren künstlichen Füße. (PdM, 29)(1)
1. Information ist Geld. Informationen formieren nicht nur in/ein(2), sondern auch "in". Wer die Information hat, hat die Macht. Und so hat sich auch die strategische Wahrheit von "Geld ist Macht" in eine informationsstrategische verwandelt. Die Begrifflichkeit aus der Sphäre des Geldes wird metaphorisch auf die Informationssphäre übertragen.
Nicht zufällig werden die Informationen auch in Datenbanken gesaved. Banken und save verraten die Nähe zum Kapital. Auch die Einstellung zu ihnen ist die zum Kapital, das man nicht nur anhäufen/speichern darf (dann verfault es, verliert seinen Wert, entwertet sich), sondern so schnell wie möglich umsetzen muss. Eine Information hat den größten Wert dann, wenn sie so schnell wie möglich umgesetzt wird. Die Informationsträger oder eigentlich -besitzer haben dadurch die Macht, mit ihren Informationen andere - Informationslose - zu manipulieren, oder aber sie strategisch zu verschweigen. So wurde z.B. bei Konferenzen über die Computerisierung in Bulgarien berichtet, wie in verschiedenen Institutionen der Chef, der Direktor, der Leiter, einen Computer, den die Institution bekommen hat, verschlossen hielt, damit keiner Zugang zu ihm habe, während er kein Interesse oder keinen Mut hatte, selber zu lernen damit umzugehen. Bis heute besteht an Institutionen und in den Leitungsebenen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche in Bulgarien (und anzunehmen wäre es, dass dies auch in anderen neuen Demokratien hie und da vorkommt) von Seiten der Obrigkeit Desinteresse an oder Angst vor der Computerisierung, die man mit harmlosen Argumenten wie Geldmangel, oder Reduzierung der Funktionen des Computers auf die Schreibmaschinentätigkeit zu verbrämen versucht. Diese Machtstrategien eines geschlossenen Leitungsapparates wurden zum Teil durch die massenhafte Computerisierung in der Bildungssphäre oder in der Sphäre der Nicht-Regierungs-Organisationen mit Hilfe verschiedener internationaler Programme unterlaufen. So war es möglich, dass sich Informationsströme verlagern konnten, dass ehemalige Peripherien der parteilich und zentral gesteuerten Information, einstige Objekte des staatlichen Informationsinteresses, zu modernen Zentren ausgebaut wurden, die "aus der Quelle" schöpfen und ihre Netze aufbauen konnten. Eine Umstrukturierung des Machtraumes wird nicht zuletzt durch die Computerisierung, Informationsstrategien und das Internet erreicht. Auch hier ist Canetti als theoretischer Zeuge zu zitieren: "Das Geheimnis ist im innersten Kern der Macht."(MM1,17), heißt es an exponierter Stelle gleich im ersten Kapitel, es ist ein wichtiges "Element der Macht" (3). Das Verhindern eines freien Informationsflusses, die Bewahrung von Geheimnissen kann auch als ein Überbleibsel aus diktatorischen Zeiten betrachtet werden, obwohl solche Machtstrategien nicht nur in Diktaturen üblich sind.
Ein guter Teil des Ansehens, das Diktaturen anhaftet, liegt darin, daß man ihnen die konzentrierte Kraft des Geheimnisses zubilligt, das sich in Demokratien auf viele verteilt und verdünnt. (MM1, 24)
Es sind hier die Ängste der jeweiligen Machthabenden, die die Gefügigkeit der Beherrschten ausnutzen, um ihre Macht fortzusetzen und in den Händen weniger zu konzentrieren, eine Informationsoligarchie zu gründen:
Als die Konzentration des Geheimnisses bezeichnet man das Verhältnis zwischen der Zahl derer, die es betrifft und der Zahl derer, die es bewahren. (MM1, 25)
Diese Machthaber betrachten sich als die "Hüter eines Schatzes" (MM1, 23) und entwickeln Strategien der Verteilung dieses Schatzes. "Die Verteilung", die Canetti als ökonomisches Prinzip des Sozialismus im Kapitel "Die Massen und die Geschichte" behandelt, bewahrt in diesem Fall ihr realsozialistisches Prinzip: was verteilt wurde und was man in diesem Fall zu verteilen versucht, sind Mängel (4) und nicht Reichtum, man versucht die Information zu kanalisieren und somit zu entschärfen.
Dieser kurze Blick auf Informationsverteilungsstrategien am Beispiel von Übergangsdemokratien zeigt die veränderte Machtdynamik durch Informationsfluss: Meinungsbildung, Umgruppierungen und Umverteilungen des Informationsraumes in der McLuhan Kultur. Die alten Machtstrategien im Bereich der Information sind durch die Veränderung des Informationsprozesses selbst obsolet geworden. Mit dem Internet sind jedoch neue Machtformen verbunden, anarchische teilweise wie bei den Hackern, die in die gesicherten Informationskreise von Banken und Ministerien eindringen oder den Erfindern eines neuen Virus, aber auch 'klassische' Formen der Überwachung - nun im Dienste des Marktes -, die die Vorlieben und Interessen von Internet-Nutzern anhand der aufgerufenen Internetseiten protokollieren.
2. Die Bibliothek ist ein topos uranikos, ein himmlischer Ort geworden, an dem unzählige unsichtbare Massen von Informationen, Ströme von Impulsen in verschiedene Richtungen fließen und ständig umgruppiert und umverteilt werden. Genauer gesagt, gibt es in diesem Raum keine topoi mehr, die Informationsmassen haben die Dreidimensionalität des Schriftstücks verloren, und wenn sie jetzt immer noch auf CDs oder Diskette gespeichert werden, so sind es meistens die schon veralteten. Die neuen, aktuellen kommen aus dem digitalen Raum, sie sind die unsichtbaren Massen, die von einem "Netz von Spezialisten" aufgefischt, geregelt und beherrscht werden. Als einfacher Benutzer kann man sich kaum vergegenwärtigen, welchen unsichtbaren Weg die Informationen, die aus dem Cyber-Raum auf den Bildschirm kommen, hinter sich bringen. Die unsichtbaren Massen - kaum hätte sich ein besseres Bild für diese Herrschafts- und Kommunikationsart finden können.
Unter den Unsichtbaren Massen untersucht Canetti die Vorstellung von den unsichtbaren Toten, Dämonen oder Geistern (5), die die Traditionen, auf denen ein Stamm, eine Nation, überhaupt jegliche Gemeinschaft fußt. Die unsichtbaren Massen sind eine Form der Massen, die alle Eigenschaften der Masse besitzt, und deren Besitz eine unheimliche Macht verspricht.
Bei den Tschuktschen in Sibirien 'hat ein guter Schamane ganze Legionen von Hilfsgeistern, und wenn er sie alle ruft, kommen sie in solchen Mengen, daß sie das kleine Schlafzelt, in dem die Beschwörung stattfindet, geradezu wie mit einer Wand von allen Seiten umgeben. (MM1, 42)
Wie bei den Tschuktschen ruft der gegenwärtige Informationsschamane seine Informationsimpulsmassen (ab), um sich durch sie zu stärken, und bei aller Verbrämung ist es nicht zu leugnen, dass darin eine große Macht steckt, die auch reale Wirkungen in der Modellierung von Wirklichkeitsprozessen hat.
Die Informationen sind in unserer Welt trotz der Überlebensstrategien der verschiedenen dreidimensionalen Medien (Zeitungen, Zeitschriften, mit gewissen Einschränkungen auch Fernsehen), unsichtbar geworden, und was sichtbar erscheint, sind Teilinformationsmengen, die insofern als Teilinformationen schon Manipulationen sind. Auch Zeitschriften, Zeitungen und wissenschaftliche Beiträge haben schon ihre digitalen Ausgaben und bezeichnend für mich ist die Internet-Ausgabe von einer der führenden Zeitschriften im deutschen Sprachraum, die den Namen Konr@d trägt und damit manche eingeweihten Leser an den Namen des zur Vernichtung der Erde abgeschickten Kometen Konrad aus Jura Soyfers "Weltuntergang" erinnert, der im Endeffekt aus Verliebtheit die Erde verschont. Eine zweischneidige Botschaft.
Wie die Nähe zum Geld (Canetti betrachtet es in der Tradition der Massensymbole als "Schatz" (MM1, 98)) und zu den unsichtbaren Massen als eine der Formen der Masse es veranschaulicht, übernimmt die Einstellung zur Information in der Informationsgesellschaft die Rolle der Einstellung zu einem Massensymbol, durch das man die sichtbaren Massen manipulieren, besitzen, ergreifen kann, durch das sich aber Massen auch abspalten und umkehren lassen. Die Verflüchtigung und Unsichtbarwerdung dieses Symbols verleiht ihm eine noch größere Stärke, "dämonisiert" es, um im Bilde der Geister und Dämonen zu bleiben. Die Möglichkeit der Umstrukturierung dieses Macht-Raumes ist immer vorhanden und wird immer wieder genutzt. Auch hat sie immer eine Rückwirkung auf die menschliche Gesellschaft. Auf die Gefahren von "Vermassung und Vernetzung" hat Vilém Flusser kurz vor seinem Tod hingewiesen:
Das erste ist mit dem Begriff Kompetenz zu fassen. Um an einer vernetzten Gruppe von Informationen beteiligt zu sein, muß man für das dort analysierte Möglichkeitsfeld kompetent sein, und diese Kompetenz erfordert vor allem das Beherrschen von Codes und Methoden. Dabei stellt sich heraus, was gegenwärtig Macht meint. Nämlich das Beherrschen von Codes und von Methoden. Die Masse ist machtlos, weil sie inkompetent ist, und sie gewinnt Macht in jenem Ausmaß, in dem sie kompetent wird. Daher ist die Frage nach der Vernetzung statt Vermassung vor allem eine Frage nach dem Verteilen von Kompetenzen. Nun ist aber das Erwerben von Kompetenz ein unnatürlicher und antibiologischer Vorgang, denn er widerspricht dem Trägheitsgesetz und dem Gesetz der geringsten Mühe [...]
Das zweite Bedenken gegen Vernetzung ist radikaler. Das Bewußtwerden des Informationsprozesses ist auch ein Bewußtwerden davon, daß dieser absurd ist. Ungeachtet der gewaltigen Summe der erzeugten Informationen [...] bleibt es dennoch richtig, daß all dies notwendigerweise in Enthropie enden wird, daß all dies nur ein Epizyklus ist, der auf der Tendenz zum Immer-wahrscheinlicher-Werden aufsitzt... Die unbewußte Anonymität der Konsumenten ist eine bessere Lebensstrategie als das bewußte Schaffen. Anders gesagt: alles Bewußtsein ist unglücklich, und Vermassung ist die richtige Strategie, falls das Ziel das Glück ist. (6)
Mit diesem Hegel-Verweis endet jedoch seine Betrachtung nicht. Wichtig wäre es hier zunächst zu bemerken, dass die Opposition Vernetzung v/s Vermassung, auf das Machtgefüge übertragen, gefährliche Konstellationen ergeben kann. Trägheit ist kein moralischer Begriff, steht jedoch hier in der Konnotationskette von unbewusster Anonymität der Konsumenten, besserer Lebensstrategie und - im Sinne der Naturwissenschaften - als die Trägheit der Masse und wird im Sinne von Hegels Bestimmung als "richtige Strategie" verstanden. Auf der anderen Seite steht das "unglückliche Bewusstsein", das angesichts der Absurdität und der Entropie in immer größeren Machtwahn verfällt: ein "Netz von Spezialisten - nennen wir sie einmal provisorisch Technokraten", eine
posthistorische Elite sendet die sich überstürzenden Informationen an eine passive Masse, und diese Masse bildet eines der Möglichkeitsfelder, aus denen die Elite neue Informationen herauskomputiert, um sie wieder gegen die Masse zu projizieren (7)
Wenn wir diesem Bild trauen, und wenn wir unseren Augen trauen, können wir der letzten Betrachtung von Flusser mit etwas Skepsis entgegenkommen:
Die Macht, die Politik, die Republik sind dabei, funktionslos zu werden, und das historische Bewußtsein ist dabei, einem formalen zu weichen.(8)
Die herkömmliche Vorstellung von Politik, von Staat, Nation, Republik und anderen historischen Konstrukten ist dabei, funktionslos zu werden, nicht jedoch die Macht - die Machtkonzentration droht jetzt in jenen technokratischen Kreisen zu erfolgen, die weiterhin auch den Begriff der Politik umwandeln werden und die durch die Verbindung von neuem Machtsymbol (Informationen = Schatz, Haufen) mit der übermenschlichen Vorstellung von den "unsichtbaren Massen" ihre Macht festigen.
3. Es hat sich die Vorstellung eingebürgert, die mediale telematische Welt, in der wir leben, und die wir im Gegensatz zu der Kultur Gutenberg mit dem Namen von Marshall McLuhan verbinden, auch als ein global village zu betrachten. Es spricht sehr viel für diese Vorstellung, vor allem die Einbürgerung. Die Literatur lehrt uns jedoch, dass man Metaphern nie an und für sich belassen, sondern sie auf ihre Wurzeln zurückführen muss. Der Informationsfluss, so wie er von den Medien gesteuert wird, vereinheitlicht tatsächlich derart die Informationen, dass der Massenkonsument sich durch die Massenproduktion von Kultur wie in einem Dorf fühlt, indem er von allen Seiten dieses Weltdorfes dieselben Informationen bekommt. Der Steuerungsprozess dieser Informationen blendet jedoch ganze Gruppen, Staaten, Nationen, Regionen aus, sodass während überall Dallas oder Kassandra, oder Alf oder andere Filmserien, in den meisten Fällen Hollywoodproduktionen, zu sehen sind, die Informationen über riesige Weltregionen im Schatten bleiben. Medienrelevant ist dann der Krieg als Simulation, Sensation und Fernsehspiel. In europäischen Medien ist über Bulgarien ebensowenig wie über Australien die Rede, in den USA hingegen verwechselt man Austria mit Australia. Eine Stichprobe bei einer österreichischen Zeitung (der Titel ist irrelevant) aus dem Jahr 1997 nach dem Stichwort "bulgar", d.h. also alles was mit Bulgarien, bulgarisch, oder Bulgaren zusammenhängt, hat drei Informationen herausgeholt, die wir als die drei B-s zusammenfassen könnten: Blut, Brotlosigkeit, Bomben. Dabei ist das Jahr 1997 das politisch bewegteste seit 1990 für Bulgarien gewesen, daher die große Anzahl von drei Informationen. Während des besagten Jahres hat es viele gemeinsame Programme auf dem Gebiet der Kultur, der Bildungspolitik, sogar der Wirtschaft gegeben. Bulgarische Kultur wurde in Österreich, österreichische Kultur in Bulgarien durch Lesungen, Ausstellungen, Aufführungen u.s.w. vorgestellt: das einzig Interessante für diese und für andere Zeitungen in Österreich oder in anderen Ländern westlich der Drawa war aber der Sturm des Parlaments und die Hungersnot im Winter. Endlich war Bulgarien aus dem schwarzen Loch der Informationsüberschattung aufgetaucht; und die einzige Chance dafür ist Blut, Hungersnot oder Krieg. Dieselbe Konstellation gilt für alle anderen Balkanländer oder osteuropäischen Länder, für Südafrika oder für Asien.
Der Mainstream der Meinungsbildung wird in den Zentralen der medialen Marktgrößen bestimmt und es liegt in der Macht dieser Zentralen, ganze Teile der Welt vor ihrem Publikum auszublenden. Bei einer Konferenz in Wien, Dezember 1997, über "Global towns - Theater - Jura Soyfer", hat Peter Horn (9) bemerkt, in Südafrika bekomme man die Informationen über Kamerun aus London. Die Informationsgesellschaft hat ihre eigenen Zentralen, die durch die Steuerung der weltübergreifenden Informationen das Bild einer in sich geschichteten architektonisch klar gebauten Welt erzeugen und somit ein Welt-Bild prägen. Das Weltbild der Massen wird durch "Die Welt" und "Das Bild" der "Presse" der Massenmedien geprägt und gepresst. Mit aller eingeplanten und ferngesteuerten Ordnung in der Unordnung wird ein klar abgegrenztes, scheinbar transparentes, teleologisch organisiertes Bild von der Welt entworfen, welches an eine bestimmte Zuschauermasse adressiert ist und von derselben kaum überprüft und korrigiert werden kann. Die Zuschauermasse in Bulgarien hingegen bekommt neben den Informationen vor Ort, die für den internen Gebrauch sind, auch die entsprechenden Allerweltsinformationen über die Heiraten, die Ehen und Scheidungen der englischen königlichen Familie bzw. die erotischen Vorlieben des amerikanischen Präsidenten, vermischt mit einen deftigen Schuss von den Kriegen der Welt. Ein einziges Mal hatte man durch ein Versehen in den Fernsehnachrichten ein richtiges Massaker gezeigt - wie ein russischer Soldat einem Tier gleich von einem tschetschenischen Soldaten geschlachtet wird, vor laufender Kamera, eine Direkt-Übertragung, die alle Grenzen des Menschlichen überschritt - aber welcher Krieg tut das nicht? Anschließend gab es eine Woche Besprechungen über die Moral im Fernsehen und über die für das Programm Verantwortlichen wurden Strafen verhängt. Die ungeschminkte und ungeschnittene Information aus dem Krieg widersprach den üblichen ästhetischen oder moralischen Kriterien, die in fiktionalen Gewaltdarstellungen oder in der üblichen Berichterstattung angewendet werden. Wo nackte Brutalität in ihrer brutalen Nacktheit gezeigt wird, beginnt ein Streit über die Moral.
4. Dagegen abzusetzen ist die Welt nicht "wie sie ist" - kaum jemand, auch die wenigsten Philosophen haben es mit dem "Ding an sich" und der "Welt an sich" zu tun - sondern eine Welt, die ihre neuen Informationszentren baut, sich durch und durch schichtet, Peripherien sich zu neuen Zentren aufschwingen und ihre Netze aufbauen. Auf diese Art wird die Welt durch die Medialisierung und Vernetzung eher zu einem global town mit seinen mehreren Zentren und vielen Vororten, Armenvierteln, Bordellen und sonstige Peripherien, China- und Balkan-towns, die man lieber ausblendet und in die man sich nur hineinwagt, um Exotisches zu berichten, die man aber lieber ihrer Geschlossenheit und peripherer Abgeschiedenheit überlässt.
Eine Verschiebung von Zentrum und Peripherie, die nicht zuletzt auch durch die politischen Globalisierungsprozesse mit den sie begleitenden Umstrukturierungs- und Neuregionalisierungsprozessen unterstützt wird ist im Laufe der letzten Jahrzehnte zu beobachten. Die Stabilität der Weltkartenvorstellungen geht verloren und eine neue Diffusität, Ausdehnbarkeit von Zeiträumlichkeit und Virtualität tritt ein, die in ihrer Unbestimmtheit ihresgleichen nur im Mittelalter der neuen Entdeckungen und seiner Neustrukturierung und Neuverzeitlichung hat. So treffen sich Mittelalter und Postmoderne in der neuen Zeiträumlichkeit politischer Verschiebungsprozesse. Dabei wird Politik auf allen Gebieten durch die unsichtbaren Massen der Informationsmengen rekrutiert und neben den sonstigen herkömmlichen Baustückstrategien gibt es den Drang nach virtuellen Baustücken - WWW-sites, die ins Deutsche und Bulgarische mit dem harmlosen "Seite" übersetzt werden. Macht durch Besitz und Identifikation mit den unzähligen unsichtbaren Informations-Massen ist das Zeichen dieses Zeitalters der Überinformation, eine unsichtbare Machtverteilung, bei der sowohl die Hände, als auch die Fäden unsichtbar sind und die Massenmedien ein Bild von der Welt vermitteln, welches um Lichtjahre überlebt ist, wie das Licht der bereits verglühten Sterne, das wir immer noch zu sehen bekommen. Auch diese überinformierte postmoderne Welt bleibt im Bann der von Canetti entdeckten und beschriebenen Grundtriebe der Masse und der Macht. Als Herrscher über die unsichtbaren Informationsmassen glaubt man Macht über die Prozesse der "Wirklichkeit" zu gewinnen und wird gleichzeitig Teil dieser ferngesteuerten Massenprozesse.
5. Im Verwandlungsbegriff von Canetti wird deutlich, dass er durch die Vielfalt der Verwandlungsangebote auch die Kulturen und deren Diversität und Veränderlichkeit in seinen Menschenbegriff einbezieht. Das Vorhaben, das zersplitterte Denken "in einem Kopf zusammenzudenken", hat mit dem Beherrschen der unsichtbaren Informationsmassen wenig zu tun - oder wenn schon, dann nur durch die Negation einer möglichen Identifikation.
Das präsentische Denken und die präsentische Darstellungsweise von Masse und Macht hat die Funktion einer Konstituierung von Exempeln aus der Geschichte, und die dramatische Konzeption verbindet Dramentheorie mit Anthropologie. Diese Theorie ästhetisiert und poetisiert die Erkenntnis und betrachtet sie nicht als Resultat einer plumpen quantitativen Summierung von Wissen,
Die Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus, sie ist ihrem "innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz", hat der Dichter Paul Celan bei der Verleihung des Büchner-Preises gesagt.(10) Diese besondere präsentische Kraft der Poesie macht sie zu einem Ort, der "im Geheimnis der Begegnung"(11) die Zone der fruchtbarsten Begegnungen sein kann, der die Aussicht auf neue Erfahrungen und Erkenntnisse gibt. Das Sichaussetzen, das Canetti mit seinem Verwandlungsbegriff verlangt, geht kraft seiner absoluten Natur über die Wissensakkumulation hinaus, es erschöpft sich nicht im Spiel des Lernens und Anhäufens, sondern geht darüber hinaus in die Erfahrung des Erkennens durch die Interdiskursivität und die Transzendenz der Reflexion.
© Penka Angelova (Rousse)
(1)
Die in Klammern angeführten Abkürzungen sind Zitatangaben
aus folgenden Werken von Elias Canetti: PdM: Die Provinz des Menschen,
Hanser Verlag, München 1991.
MM: Masse und Macht, Hanser Verlag, München 1986 (2 Bde.,
zitiert als MM1 und MM2).
(2) Es ist des öfteren auf den Zusammenhang zwischen informieren und einformieren hingewiesen, darauf, dass Informationen auch zu der Herausbildung von neuen Formen führen. Aus informare (wörtlich:) bilden, eine Gestalt geben. Vgl. auch Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. De Gruyter 1989.
(3) "Elemente der Macht" heißt der Titel des ersten Kapitels von "Masse und Macht".
(4) "Daß die realsozialistische Gesellschaft, obwohl auf dieses Programm eingeschworen, dennoch nichts anderes als den Mangel verteilen konnte, mag man als eine Ironie der Weltgeschichte empfinden." (Konrad Paul Liessmann, Die Vermehrungsmeute. In: Nationen, Hg. John-Patillo Hess, Mario Smole. Löcker Verlag, Wien 1994. S. 96-103, Hier: S.101.
(5) Canetti zitiert auch einen alten jüdischen Text: "daß es keinen freien Raum gibt zwischen Himmel und Erde, sondern ist alles voll von Scharen und Mengen. Ein Teil von ihnen ist rein, voller Gnade und Milde; ein Teil sind aber unreine Geschöpfe, Schädiger und Peiniger." (MM1,44)
(6) Vilém Flusser: Vermassung und Vernetzung. In: Der Stachel des Befehls. Hg. von John Pattillo-Hess. IV. Canetti Symposium. Löcker Verlag, Wien 1992.S. 121.
(7) Vilém Flusser: Vermassung und Vernetzung, a.a.O. 120.
(8) Ebd.
(9) Germanistik -Professor aus der Universität in Kapstadt und Dichter.
(10) Paul Celan: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, Darmstadt, am 22. Oktober 1960. In: Paul Celan. Gesammelte Werke. Dritter Band, Gedichte III, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1992. S. 198.
(11) Ebd.
Zitierempfehlung:
Penka Angelova: Die Über-Informationsgefahr der medialen
Welt und die unsichtbaren Massen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 10/2001. WWW: http://www.inst.at/trans/10Nr/angelova10.htm