Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Juli 2002

Bikulturalität als Medizin gegen NationalFilologie

Otto Kronsteiner (Salzburg)


National- oder InlandsFilologen denken im allgemeinen nicht an den Sinn ihrer Existenz. Die Filologie der Muttersprache [meist zugleich Staatssprache] ist etwas Elementares. Das Fach begründet sich de natura. Unter den UniversitätsFilologien, und dementsprechend in Institutionen und Kommissionen, sind sie personell am besten vertreten. An allen Gymnasien, in allen Schulen wird Muttersprache unterrichtet. Die universitären Meinungsmacher der NationalFilologie verfügen über das grösstmögliche MarktInstrumentarium. Die Gefahr der EinMeinung, des Dogmatismus, ist daher besonders gross. Die meisten NationalFilologien sind Kinder ihrer Zeit: also des 19. Jahrhunderts. Man dachte nach über das eigene Volk, die eigene Geschichte und die eigene Kultur -, und das bei schönster Beleuchtung. Die anderen wurden dadurch zu Schatten, Nebensache und fremd. So sind NationalFilologie und NationalGeschichte zu Wissenschaften geworden.

Mit grosser Verspätung kommt die AuslandsFilologie dazu. Man lernt die Sprache, die Geschichte, die Kultur auch der Anderen: Deutsche interessieren sich für Italienisch, Französisch, Russisch. Franzosen für Deutsch, Polnisch, Englisch. Der AuslandsFilologe ist prinzipiell bikulturell, weil in zwei Kulturen denkend -, wenn man von steinzeitlichen (im slawistischen Bereich weit verbreiteten) Ansichten absieht, dass nur ein im Ausland tätiger bulgarischer Bulgarist (und analog ein kroatischer Kroatist etc.) ein guter AuslandsBulgarist (-Kroatisch) sein kann. Dass die Ansichten von National- und AuslandsFilologen oft nicht identisch sind, wurde bald erkannt und führte in positiven Fällen zu anregenden bi- und multikulturellen Disputen und Korrekturen. Der AuslandsFilologe hat durch seine bikulturelle Heimat mehr Vergleichsmöglichkeiten. Er kann die Dinge distanzierter, realistischer, objektiver erkennen und darstellen. Die dadurch für die NationalFilologie entstehende "Gefahr" des AndersDenkens wird gewöhnlich durch Arroganz ("das versteht nur ein deutscher Germanist, ein russischer Russist, ein bulgarischer Bulgarist") abgewendet. Oberster Wunsch des NationalFilologen ist, "Herr im eigenen Haus" zu sein. Der AuslandsFilologe ist "Diener", er hat die Ansichten des Hausherrn im Ausland zu vertreten. So stehen NationalGermanisten AuslandsGermanisten gegenüber. Der österreichischen Germanistik ist in diesem Spiel eine eigenartige Zwitter-Rolle als deutsche und doch nicht deutsche Filologie zugefallen, was zum schwer definierbaren, mehr am Pass als an der Sprache orientierten Begriff Österreichische Literatur (und den entsprechenden Lehrkanzeln) geführt hat.

Zwangsläufig entstehen aus In- und AuslandsFilologien vereinsmässig strukturierte Organisationen mit nationalen und internationalen Vertretern, die sich in gewissen Abständen bei WeltKongressen treffen: der internationale Germanistenverband, das internationale Slawistenkomitee, die internationale Vereinigung der RussischLehrer u.ä. Beachtenswert ist die dort stattfindende Meinungsbildung. Da naturgemäss die NationalFilologen in der Mehrheit sind, sind ihre Ansichten im matematischen Sinn schwerer wiegend, nicht aber im objektiven -, dass nämlich ein einzelner Germanist, sei er nun aus China, Japan oder der Türkei, in zentralen Fragen anders denken kann. Das wäre das Belebende solcher globaler Vereine. Mehrheitsmeinungen sind nun einmal, auch in der Wissenschaft, der Erkenntnis nicht immer förderlich. So glaubt die Mehrheit der Germanisten (inklusive die Lehrbücher) noch immer an eine Völkerwanderung von GermanenStämmen und die Einwanderung der Baiern aus Böhmen. Das gleiche tun die Slawisten, deren Völker aus der Urheimat der "weissrussischen Sümpfe" in "grossen Massen" eingewandert sind. Nur Romanisten distanzieren sich von solchem Unsinn.

Bei einem Streifzug durch europäische NationalFilologien lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen, deren Ideologie noch heute aktuell ist. Zu ihren heiligen Wahrheiten gehören:

1. Die Reinheit der eigenen Sprache steht ausser Zweifel. Sie ist durch ein passendes Begriffsschema und den "Erbwortschatz" nachgewiesen.

Man versuche die Geschichte der eigenen Sprache so weit wie möglich zurückzuverfolgen und ihren Ablauf als beständigen, siegreichen Kampf gegen alle bi- oder multikulturellen Turbulenzen darzustellen. Jahrhundertelange Fremdherrschaften werden ausgeblendet. Nach ihrem Ende erfolgt Befreiung und "Wiedergeburt": die Reinheit kann fortgesetzt werden. Eine erfolg-versprechende Terminologie ist das stammbaum-orientierte Entwicklungsschema indo/germanisch > ur/germanisch > althoch- > mittelhoch- > neuhoch-deutsch. Irgendwo dazwischen ist die Urheimat, die Ursprache, das Urvolk. Dass am Begriff althochdeutsch nur das Präfix alt- korrekt ist, spielt keine Rolle. Bei etymologischen Forschungen ist diese Reihenfolge zu beachten, allenfalls kann schon bei mittelhochdeutsch das Sternenbanner (***) gehisst werden: dadurch werden alle ladinischen und slowenischen Wörter mittelhoch-deutsch und somit germanisch! Zur übersichtlicheren Argumentation verwende man auch die Begriffe voreinzelsprachlich, Abzug der Vorbevölkerung, Rest-bevölkerung, Volkssplitter, Einwanderung, Landnahme, Eindeutschung.

Dass bei Sprachgeschichte zu unterscheiden ist zwischen nur gesprochener Sprache (Dialekt, kaum überliefert) und vorwiegend nur geschriebener Sprache (Literatursprache, nicht gesprochen, nur wenigen bekannt), dass Sprachen sich ständig verändern, dass es Sprachwechsel ohne Ein- oder Auswanderung gibt, kurz, dass fremder [= unreiner] Einfluss das normalste der Welt ist, vergesse man. Die "Veränderungslosigkeit" als gleichbleibende Reinheit sei das Prinzip. Etymologische Wörterbücher, ebenso die Deutung der Ortsnamen, werden nach dem Reinheitsgebot konzipiert. Es muss - das gilt analog für alle National-Filologien - alles so früh wie möglich deutsch sein. Im schlimmsten Fall ist ein Wort/Name voreinzelsprachlich. Mit Hilfe fonetischer Tricks (vulgo Lautverschiebung) kann die Besiedlung um einige Jahrhunderte vorverlegt werden: so sind die Alpengermanen entstanden.

2. Die Pflege der Reinheit geschieht durch Ersetzung alles Fremden mit "eigenem" Sprachmaterial.

Alle NationalFilologien neigen dazu, Fremdes von der Sprache fernzuhalten. Begriffe wie Fremdsprache, Fremdwort gegenüber "Muttersprache" und Erbwort spielen eine wichtige Rolle. Wenn schon etwas unanständiges passiert sein sollte oder passiert, muss es gesäubert, purifiziert werden. Das taten die Deutschen, die Franzosen, die Polen, die Isländer, die Ungarn, die Griechen und andere Europäer. Dass dies zu einer Ghettoisierung der eigenen Kultur führt, vergesse man.

3. Die lange Anwesenheit im heutigen "SiedlungsRaum" wird durch kunstolle OrtsnamenDeutung nachgewiesen.

Die frühe Deutschheit Österreichs ist durch rigorose Anwendung germanistischer Lautgesetze, insbesondere des Lautwandels von p > pf pf-ologisch "eindeutig" nachgewiesen: toponymischer Patriotismus? Die von der gesamten österreichischen Germanistik anerkannte Etymologie von Ostarrichi als "Ostreich" ist dabei sehr hilfreich.

4. Die eigene Sprache, die eigene Literatur ist die schönste.

Dies bedarf keiner weiteren Begründung. Literatur- und Sprachgeschichten dokumentieren es. Das hat auch den weiteren Vorteil, dass man Vergleiche nicht zu scheuen braucht -, sozusagen ein Sportwettkampf mit nur einem Kandidaten.

5. Andere Meinungen werden nicht erwähnt- als "eindeutig widerlegt" -, oder deren Autoren als "ohnehin unseriös" dargestellt.

NationalFilologen agieren als dogmatisch geschlossene Gruppe, die "störende" Meinungen sofort abweist, sei es durch die Macht des Imperiums ("Alle ernstzunehmenden Forscher sind der Ansicht, dass...") oder sonstige aus totalitären Regimen bekannte Verhaltensweisen. Je nach Ideologie und stilistischer Potenz wird der Andersdenkende offen oder hinter vorgehaltener Hand zum Pseudowissenschaftler, Nationalisten, Menschen ohne wissenschaftliche Etik, unmaßgeblichen ... und dgl. Dem "braven" AuslandsFilologen winken hohe Auszeichnungen, Orden und AkademieMitgliedschaften, die allerdings, wie die Bulgaristik zeigt, bei "ungehörigem" Denken wieder weggenommen werden.

Im einzelnen zeichnen sich NationalFilologien durch allgemein akzeptierte Myten und ständig wiederkehrende ForschungsTemen aus. Die Slawistik z.B. durch eine inzestöse Nabelschau vulgo slawische Wechselseitigkeit, die zu ihrer völligen Isolation in der europäischen Kulturlandschaft geführt hat.

Kennzeichnend für die Russistik ist das völlige Minimalisieren fremden, multikulturellen Einflusses. Alles "Russische" entstand aus sich selbst: durch Samobytnost, ein unübersetzbares Wort. Durch die unkorrekte Übertragung der heutigen Bedeutung des Glottonyms/Etnonyms russkij auf das 9. und 10. Jahrhundert entstand eine 1000-jährige russische Geschichte, obwohl eindeutig erwiesen ist, dass unter Russisch (= Ruotsisch) bis ins 12. Jahrhhundert die Schweden (finnisch Ruotsi) gemeint sind. Erst Peter der Grosse hat um 1700 die Voraussetzungen zum Entstehen der russischen Literatursprache geschaffen.

In der Polonistik ist das Jiddische ein TabuTema. Es fehlt sogar als Sprachbe-zeichnung in den Etymologischen Wörterbüchern, obwohl der Grossteil der vermeintlich deutschen "Lehnwörter" eindeutig aus dem Jiddischen der zwei-sprachigen Juden Galiziens ins Polnische gelangt ist. Immerhin war vor 1938 Jiddisch Muttersprache von noch 10 Millionen Menschen.

In der Bohemistik und Slowazistik ist es nach dem Zerfall der Tschechoslowakei um das erträumte gemeinsame "Grossmährische" UrReich auffällig still geworden. War es nur ein aussenpolitisch nützliches Fantom?

Die Serbokroatistik ist dabei, in eine Kroatistik und Serbistik zu zerfallen, die jeweils emsig bestrebt ist, in völliger Unkenntnis (oder Wissensverweigerung?) analoger Entwicklungen ausserhalb ExJugoslawiens die Absurditäten des 19. Jahrhunderts noch einmal nachzuvollziehen.

Das düsterste Mittelalter zeichnet zur Zeit die Bulgaristik aus, für die das (kulturell lebendige und offene) 9. und 10. Jahrhundert zum trotzig versteinerten Ersatz für Gegenwart und Zukunft wird. Die Frage, ob man die lateinische Schrift wie in Serbien als Zweitschrift neben der (nicht von Kyrill stammenden!) Kirilica einführen sollte, ist zu einem WahlkampfTema geworden, an dem sich die NationalBulgaristik durch ein Stanovište [= einen "Stand-punkt"] beteiligte und für die ewige (?) Unveränderlichkeit des Bestehenden aussprach.

Die Germanistik, die sich auf Deutschistik reduziert hat, vermeidet real existierende andere germanische Sprachen. Statt dessen argumentiert sie mit schwer erkennbaren südwestmittel- und altostnieder-fränkischen, spätmittel-hochdeutschen, altsächsischen, altnordischen, frühurgermanischen Sprachen oder Dialekten. Ihr österreichischer Ableger ist "erfolgreich" tätig, mithilfe der Ortsnamenforschung die ladinische und slowenische Vergangenheit zugunsten des 1000-jährigen Deutschtums zu minimalisieren ("Volkssplitter") oder ganz verschwinden zu lassen.

Das alles lernen Studierende staatlicher Universitäten. Für die Perspektivlosigkeit der nächsten Generation ist gesorgt.

 

Conclusio

Wie in der Medizin bedarf es in der NationalFilologie einer soziologischen Diagnose und Terapie. Da Selbstheilung meistens nicht stattfindet, könnte der bikulturelle Auslandsfilologe als Terapeut mit ausreichendem Abstand vom Ort der Betroffenheit heilend oder zumindest krampflösend wirken. Man sollte seine Rolle nicht unterschätzen. Nur er hat die nötige Distanz. Er braucht keine Identitäten zu erfinden oder zu suchen. Er kann durch Vergleich echte, nicht ausgedachte, kulturelle Eigenarten erkennen und NationalMyten neutralisieren. Das schafft im Hinblick auf die Vergangenheit wertvolle "neue" Beziehungen zu Nachbarn und heutigen "Minderheiten". Es wird die kulturelle Leistung aller gewürdigt und nicht in SchwarzWeissManier das gute Eigene dem bösen Fremden gegenübergestellt. Es wird nicht gefragt, wann, wer, wo zuerst war. Nur so ist Objektivität und eine Chance auf friedfertiges Nachdenken gegeben. Man sollte eine Geisteswissenschaft, die das nicht beachtet, besser heute als morgen dem Steuerzahler ersparen. Sie liefert nur Material für Unfrieden und Krieg. Ohne eine überzeugende Culture of Peace ist sie sinnlos.

© Otto Kronsteiner Salzburg


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TITEL In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/kronsteiner13.htm.

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