Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Juli 2002

 

Übersetzung als multidimensionaler Dialog und ihre Bedeutung für ein zukunftsorientiertes Universitätsmodell

Juri Mosidze (Tbilissi)

 

Die "Staatliche Universität für Sprache und Kultur Tbilissi" (das ehemalige Fremdspracheninstitut), die ich vertrete, befindet sich seit einigen Jahren in einem intensiven Aufbauprozess. Folgende zwei Momente sind für diesen Aufbau von entscheidender Bedeutung, die mir gleich bedeutungsvoll zu sein scheinen. Das erste Moment verweist darauf, dass wir mit unserem Aufbauprozess ein neues, auf die Zukunft orientiertes Universitätsmodell zu schaffen beabsichtigen. Das zweite Moment geht davon aus, dass Übersetzung – wenn wir sie als Teil eines multidimensionalen Dialogs verstehen – ein konstitutives Strukturelement dieses Modells werden muss.

Was das erste Moment betrifft: wir sind überzeugt – und wir meinen auch, dass diese Überzeugung viel verbreiteter ist, als dies auf den ersten Blick zu sein scheint –, dass das heute entworfene Modell der Universität nicht nur der Idee dieser sozialen Institution, sondern auch einem damit verbundenen tiefen Bedürfnis der Gegenwart entspricht (wenn natürlich Gegenwart nicht statisch, sondern dynamisch, als ein auf die Zukunft hin gerichteter Zeitabschnitt verstanden wird). Die heutige Universität ist zu einer willkürlichen Anhäufung von Fakultäten beziehungsweise Instituten geworden. Sie wird durch kein Prinzip konstituiert, das auf einem ganzheitlichen Denken beruht. Wie sollte aber ein solches Prinzip heute – in unserer postmodern verstandenen Welt – konzipiert werden?

Es reicht nicht aus, sich um die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Maastricht-Kriterien zu sorgen, ohne die Voraussetzung des interkulturellen Dialogs auch in Europa als Vorbedingung unseres Zusammenlebens zu sichern. An vielen Orten zugleich fremd und heimisch zu sein, zählt zu den Grunderfahrungen unserer Zeit.(1)

Das Dilemma ist ganz klar: Entweder widersprechen wir dem Wesen der Postmoderne, wenn wir ein solches Prinzip für notwendig halten oder wir verzichten (für immer?) darauf, der Idee der Universität gerecht zu werden. Wir wissen ja, dass die Postmoderne, d.h. das heute vorherrschende abendländische Denken, sich weigert, gerade dem, was ganzheitlich und verbindend wirken möchte, Glauben zu schenken. Sollen wir aber nicht wagen, gerade das Ganzheitliche, d.h. das die Universitätsidee fundierende, neuartig und zeitgemäß zu denken? Dieses Dilemma wird für uns noch klarer werden, wenn wir folgendes nicht vergessen: Die Idee, welche der Universität zu Grunde liegt, ist der Begriff des Universums: nur dieser Begriff kann als Grundlage für eine verwirklichte Universitätsidee dienen. Es ist aber gleichzeitig klar, dass der traditionelle, d.h. der monologisch konzipierte und allgemein gültige Universumsbegriff heute anachronistisch ist. Soll das aber besagen, dass es prinzipiell keinen Universumsbegriff geben kann – also kein ganzheitliches Prinzip, das die Idee der Universität ist (die die Idee des Universums prinzipiell impliziert)?

Das Modell, das der von uns konzipierten (und schrittweise auch aufgebauten) Universität zugrunde liegt, versucht eine Lösung für das oben genanten Dilemmas zu finden. Sprachen und Kulturen bilden nämlich in ihrem Zusammenwirken jenes virtuell zu denkende Universum, das nur pluralistisch – gleichzeitig aber auch dialogisch – aktualisiert und angeeignet werden kann. Das ist ein Ganzes, aber nicht mehr monologisch, sondern nur kommunikativ-dialogisch vorstellbares Ganzes, ein Universum also, das nicht einfach gegeben, sondern für uns prinzipiell eine Aufgabe ist. Es gibt heute keine Fakultät (kein Fach, kein Spezialgebiet), die dieses Universum als ihre weltanschauliche Grundlage nicht brauchen könnte: nur auf solche Weise kann man die für die Zukunft geltende Idee des neuen Anthropozentrismus für die Universitätsbildung wirksam werden lassen. Wir wissen, wie dieser neue Anthropozentrismus sich im humanistischen Denken allmählich durchsetzt: In der Linguistik wird Pragmatik zur vorherrschenden, Semantik und Syntaktik bestimmenden Dimension des sprachlichen Zeichens. In der ganzen Domäne des humanitären Gebiets aber wird der Kulturzentrismus (eine andere, transformierte Hypostase des Anthropozentrismus) zur Idee, die die humanitären Disziplinen zu einem sich neu gestaltenden System integrieren lässt. Dieser Anthropozentrismus sollte aber in einer Form umgesetzt werden, die für die Universitätsbildung Wegweisend sein könnte. Wir sind überzeugt, dass diesem Anthropozentrismus nur eine Wiedergeburt der Universitätsidee entsprechen kann. Wir sind darum bestrebt, ein solches Universum für alle Fakultäten, die in unserer Universität vertreten sind, als gemeinsame Bildungsgrundlage zu verwirklichen und dadurch die ursprüngliche Universitätsidee wieder zum Leben zu erwecken.

Das oben Gesagte kann aber nur als unser Ziel verstanden werden. Als Mittel dazu – und dies betrifft den methodologischen Aspekt unseres Vortrags – soll die erweiterte (und – so hoffen wir – auch vertiefte) Idee der Übersetzung dienen. Wir gehen davon aus, dass das Phänomen der Übersetzung ursprünglich auf der Idee des Textes (im weitesten Sinne des Wortes) beruht: Übersetzung bedeutet eine Transformierung des Originaltextes, die die Ausdrucksebene dieses Textes verwandelt, seine Inhaltsebene aber unverändert sein lässt. (Natürlich ist das ein ideales Modell der Übersetzung, aber gerade ein solches Modell sollte ja für uns als Ausgang gelten). Erinnern wir uns aber gleichzeitig daran, dass heute nicht nur Sprache, sondern auch Kultur semantisch, d.h. als textuelle Realität angesehen werden.

Die Untersuchung der Kulturformen findet ihre Parallelen nicht mehr im Sezieren eines Organismus, im Diagnostizieren eines Symptoms, in der Dechiffrierung eines Codes oder im Anordnen eines Systems – wie die vorherrschenden Analogien in der gegenwärtigen Ethnologie lauten – , sondern gleicht eher dem Durchdringen eines literarischen Textes. Betrachtet man den Hahnenkampf oder jede andere kollektiv getragene symboliosche Struktur als ein Mittel, 'etwas von etwas auszusagen' (um eine berühmte aristotelische Formulierung zu benutzen), so sieht man sich nicht einem Problem der gesellschaftlichen Mechanik, sondern der gesellschaftlichen Semantik gegenüber.(2)

Soll das nicht bedeuten, dass man auch Übersetzung in einem viel weiteren, d.h. neuem Sinne verstehen kann? Das virtuell existierende sprachlich-kulturelle Kriterium kann nicht – so meinen wir – , nur durch Vergleich aktualisiert werden, wie vielseitig und tiefgehend auch dieser Vergleich sein könnte. Das Grundprinzip, das die sprachliche Übersetzung überhaupt ermöglicht hat – nämlich, dass die Verschiedenheit der Sprachen eine universell zu denkende Metasprache zugrunde liegt – , sollte auch zum führenden Prinzip bei dem oben genannten Aktualisierungsprozess werden. "Der kulturelle Text stellt vom Standpunkt der gegebenen Kultur das abstrakteste Wirklichkeitsmodell dar. Deshalb kann man ihn als Weltbild der gegebenen Kultur bezeichnen".(3) Dieser Deutung möchte ich aber einige theoretisch-methodische Prämissen vorausschicken, die mir – gerade von dem innersten Wesen dieses Themas ausgehend – absolut unumgänglich zu sein scheinen. Diese Prämissen lassen sich in folgender Weise formulieren:
  1. In jedem Fall, wenn es sich um das Problem des "Fremden im Eigenen" im sprachlich-kulturellen Sinn handelt, müsste man sich die Frage stellen, ob dies szientistisch oder im eigentlichen Sinne anthropologisch verstanden werden soll. Wenn man sich für die zweite Interpretation entscheidet – und gerade das soll in dem von mir vertretenen Fall so sein – müsste man sich in erster Linie auf jenen geschichtlichen Hintergrund beziehen, der von Humboldt und Spengler vertreten wird. Die grundlegende Frage sollte in diesem Fall wie folgt lauten: Wie sollte man die Hauptthesen dieser beiden Denker so transformieren (vielleicht sogar umdeuten), dass sie etwas zu dem eigentlichen anthropologischen Verständnis des oben genannten Problems beitragen könnten?
  2. Für Humboldt und Spengler sind Sprache und Kultur monadisch gesehene Phänomene (Sprache als Monade und Kultur als Monade) und eine Monade kann man nur als monologisch existierend und wirkend verstehen. Diesen Monaden liegen aber Urelemente zugrunde, die das Menschliche wesentlich und überzeitlich konstituieren – die innere Sprachform und das Ursymbol. Es kommt also darauf an, das Monadische in der Sehweise von Humboldt und Spengler zu sprengen und dadurch das Monologische in ihrer Sprach- und Kulturdeutung ins Dialogische zu transformieren. Die universell denkende Metasprache, die heute für das Verständnis und die Lösung des Problems "Das Fremde im Eigenen" als grundlegend zu sein scheint, sollte man in diesem Fall als einen (vielleicht unendlichen) Dialog von sprachlich-kulturellen Urelementen (Urformsymbolen) verstehen;
  3. Aus dem oben Gesagtem folgt daher zwingend, dass das Fremde und das Eigene als dialogische Partner im Deutungsprozeß der Einheit von Mensch und Welt verstanden werden müssen.
  4. Man müsste die Begriffe des Kommunikativen und Dialogischen nicht nur als zusammenhängend, sondern auch prinzipiell verschieden deuten. Natürlich setzt jeder Dialog einen Kommunikationsakt voraus, überschreitet aber gleichzeitig das für die Kommunikation imperativ geltende pragmatische Moment: Der Dialog ist teleologisch darauf angewiesen, die im existenziell wesentlichen Gespräch sich begegnenden Urelemente zu einer universell geltenden Einheit (letzten Endes –zu einer sich auf diese Weise kontinuierlich bildenden Metasprache) zu "vereinigen". "Mit Hilfe eigener kultureller Texte schufen sich die einzelnen Nationalkulturen selbständige Traditionen."(4) (Damit möchten wir auch unsere Auffassung begründen, wonach eine wirklich anthropologisch verstandene Metasprache nicht szientistisch deduktiv, sondern dialogisch schöpferisch verstanden werden sollte, also: nicht das was dem Dialog vorangeht, sondern das, was im Dialog geschaffen wird);
  5. Und das kann – vielleicht paradoxerweise – nur in der Dichtung (d.h. in einem im weitesten Sinne des Wortes poetischen Text) geschehen. Wir meinen also: es gehört zum tiefsten funktionellen Wesen eines dichterisch-poetischen Textes, dass er unendlich (also von seiner urformsymbolischen Tiefe ausgehend) auf eine dialogische Begegnung mit anders (fremd!) konstituierten Texten angewiesen ist. Mit anderen Worten – er ist tiefinnerlich auf Übersetzung angewiesen.

Es genügt nicht, das zu wissen, was die moderne Semiotik ziemlich klar gezeigt hat, nämlich dass jeder Text (wie weit auch der Textbegriff konzipiert werden sollte) mehrere – sprachliche, kulturelle und soziale – Dimensionen besitzt. Diese Dimensionen müssen auch kommunikativ-dialogisch verstanden und angeeignet werden. Aber – und das sollte man für ein paradigmatisches Grundprinzip bei der Aktualisierung des sprachlich-kulturell konzipierten virtuellen Universums halten – , man muss grundsätzlich bestrebt sein, das fremde Sprachlich-Kulturelle ins Eigene zu übersetzen, d.h. in diesem Fremden das anders verwirklichte Eigene zu erblicken. "'Sehen mit fremden Augen' ist zu einer Lebens- und Sicherheitsfrage geworden."(5)

Der Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, Reimar Lüst betont: "Die Welt auch mit den Augen der anderen zu sehen und ihre Perspektiven in das eigene Denken einzubeziehen, erscheint mir als der sicherste Weg, um gemeinsame Lösungen zu finden für die Zukunftsprobleme der Weltgesellschaft des kommenden Jahrhunderts."(6) Nur so – meinen wir – könnte man den Grundkern des oben gemeinten Universums, d.h. die universelle, aber tief verborgene meta-menschliche Realität zu Tage treten lassen. Und so könnte man auch ein zukunftsorientiertes Universitätsmodell konzipieren.

Hier ist noch ein weiterer Gedanke anzufügen. Die universitären Reformen können nur durch eine solche Gesellschaft durchgeführt werden, die der Bildung die allererste Priorität einräumt.

Wir wollen uns zum Schluss auf unsere philologische Klassik berufen und ihre Universitätskonzeption wieder gelten lassen (obgleich wir sehr gut wissen, dass wir dadurch riskieren, altmodisch zu erscheinen). "Wenn die Universität aufhört", so äußert sich F. W. Schelling, "den Geist von den Beschränktheiten einer einseitigen Bildung zu befreien", das wollen wir dem Geiste Schellings folgend, noch einmal betonen, "ist sie keine Universität mehr, sondern eine Anhäufung von Fachschulen und sollte ehrlicherweise auch nicht mehr Universität genannt werden." Und an dieser Stelle wollen wir auch unseren deutschen Kollegen, Herrn Schmitt-Brandt, zitieren, der sich so eindeutig für die echte Universitätsidee einsetzt: "Gerade die wachsende Globalität unserer Gesellschaft verlangt aber eine globale Bildung. Wir wissen heute in der sich rasch veränderten Welt nicht, was morgen gefragt ist. Nur der universell Gebildete ist flexibel genug, den Anforderungen von morgen zu entsprechen. Der Fachidiot ist verloren."(7)

© Juri Mosidze (Tbilissi)

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Verwendete und weiterführende Literatur:

(1) Wierlacher, Alois / Wolff, Klaus Dieter: Akademie für interkulturelle Studien. Eine neue Institution der wissenschaftlichen Weiterbildung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 22 (1996), S.300.

(2) Geertz, Clifford: Deep Play, Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf". In: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. B. Luchsi u. R. Bindemann, Frankfurt/M. 1983. S.253.

(3) Lotman, Jurij M.: Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen (1969). In: ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, Kronberg/Ts. 1974, S.343.

(4) Assmann, Aleida: Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon - Medienereignis - Kulturelle Texte, hg. v. A. Poltermann, Berlin 1995 (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung, Bd.10), S.234.

(5) Wierlacher, Alois / Wolff, Klaus Dieter: Akademie für interkulturelle Studien. Eine neue Institution der Wissenschaftlichen Weiterbildung. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 22 (1996), S.302.

(6) Lüst, Reimar: Dialog für die Zukunft – nach außen und nach innen. In: Internationale Politik 51 (1996), S.48.

(7) Schmitt-Brandt, Robert: Auf der Suche nach einer vergangenen Welt, Verlag Dr. Kovac, Hamburg, 2001. S.226-227.


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